Ein Wegweiser mit zahlreichen Straßenschildern in der Altstadt von Thale.
Das Harz-Städtchen Thale lebt vom Tourismus. Dazu trägt auch die Kultur bei, sagt der Bürgermeister. Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Querschnitt: Kultur Thale: "Kultur hat den Tourismus doch erst in Gang gebracht"

27. Juli 2022, 11:39 Uhr

"Querschnitt: Kultur" – MDR SACHSEN-ANHALT und MDR KULTUR erkunden in dieser Woche fünf besondere Kultur-Orte in Sachsen-Anhalt – und erklären, welche Bedeutung sie für die Region haben. Am zweiten Tag ihrer Reise waren die Reporter im Kino Central Theater in Thale. Warum leistet die Stadt sich in Zeiten der Inflation ein eigenes Kino?

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Eigentlich wäre Maik Zedschack jetzt schon im Urlaubsmodus. Ein kleines bisschen wenigstens. Der Terminkalender an diesem Dienstag ist so gut wie leer. Stattdessen: Aufgaben abarbeiten, das ist sein Plan. Was man so tut vor dem Urlaub. Doch ein Bürgermeister ist eben ein Bürgermeister und wenn es brennt, hat er zur Stelle zu sein. Vorbei ist's also mit der Ruhe.

So sitzt Zedschack, Mitte 40 und seit eineinhalb Jahren Bürgermeister von Thale, hinter seinem Rechner und wirkt aufgebracht. Kurzfristig haben sie im Rathaus erfahren, dass das kleine Städtchen für mehrere Wochen vom Bahnnetz abgeschnitten wird. "Instandsetzungsarbeiten an den Gleisen", wie es im Behördendeutsch so schön heißt. "Indiskutabel für Thale", sagt der Bürgermeister und schiebt noch hinterher, man sei doch gerade in der touristischen Hauptsaison. Das Städtchen Thale lebt vom Tourismus und wenn plötzlich ein paar Wochen lang keine Züge fahren, ist das, gelinde gesagt, eine Katastrophe.

Dabei soll es an diesem Mittag eigentlich um etwas gehen, das den Tourismus im besten Fall ankurbelt: Zedschack hat eingeladen, über das Kino Central Theater zu sprechen – und darüber, und welche Rolle es für den Tourismus spielt in einer Stadt, die ohne Tourismus nicht kann. Also schenkt er sich ein isotonisches Getränk ein und atmet kurz durch.

Das Kino Central Theater in Thale

Das Kino Centraltheater in Thale liegt direkt am Bahnhof von Thale. Filme laufen hier seit 1912. Es zählt zu den kleinsten Kinos in Sachsen-Anhalt. Eine Besonderheit ist das im Kino verbaute Kino-Café, in dem Zuschauerinnen und Zuschauer während der Vorstellung Speisen zu sich nehmen können.

Was also bedeutet dieses kleine, mehr als 100 Jahre alte Kino für Thale? Maik Zedschack muss nicht lange überlegen. "Es ist ein Schätzchen", sagt der CDU-Mann, der sowieso dadurch auffällt, in kurzer Abfolge einen druckfähigen Satz nach dem anderen von sich zu geben. Zedschack hat nicht ohne Grund jahrelang im Marketing gearbeitet.

Doch was Zedschack hier sagt, meint er auch so. Man muss nur Manfred Walther fragen, der das Kino mit seiner Frau betreibt. Auch der 72-Jährige bestätigt: Zedschack hat, wie sein Vorgänger und jetziger Harz-Landrat Thomas Balcerowski, verstanden, was das Kino für Thale sein kann. Oder man fragt Zedschack selbst – und erfährt, dass die Stadt als Eigentümerin des Gebäudes jährlich "eine fünfstellige Summe" in das alte Kino steckt. Neulich erst haben die Sitze neu bezogen, vor ein paar Jahren das Dach saniert.

Gut 20 Jahre ist es jetzt her, dass die Stadt das Kino gekauft hat. Das Ziel damals: Das geschichtsträchtige Haus sollte vor dem Verfall gerettet werden. Heute hilft es nach Überzeugung des Bürgermeisters im Tourismusgeschäft – und als Standortfaktor vielleicht auch im Kampf gegen den demografischen Wandel.

Warum denn nun aber konkret all das kostspielige Engagement? Maik Zedschack antwortet pragmatisch: "Unsere Aufgabe ist es, aus Tagestouristen Übernachtungstouristen zu machen." Man hört die hohe Schule des Tourismus in den Worten des Bürgermeisters, wenn der sagt: "Wir müssen den Gästen so viel bieten, dass sie nicht alles an einem Tag schaffen." Dazu trägt dann eben auch ein Kino bei – vor allem so eines, das weit weg ist vom Mainstream all der großen Ketten und stattdessen Charme bietet.

Unsere Aufgabe ist es, aus Tagestouristen Übernachtungstouristen zu machen.

Maik Zedschack, CDU Bürgermeister von Thale

Für die Stadt Thale ist der Tourismus überlebenswichtig. "2019 war unser bestes Jahr seit der Wende", sagt Rathauschef Zedschack. 1,4 Millionen Tagesgäste seien da noch Thale gekommen, allein die Seilbahnen – Zedschacks früherer Arbeitgeber – zählten mehr als 715.000 Gäste. Dann kam Corona und die gerade noch erreichte Zahl von mehr als 470.000 Übernachtungen war plötzlich weit weg.

Und auch wenn die meisten Corona-Beschränkungen gefallen sind: Von Normalität kann keine Rede sein, sagt der Bürgermeister, der nach eigenem Bekunden "verhaltener" in die Zukunft blickt als noch zu Jahresbeginn gedacht. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Gaskrise, die hohe Inflation – "wir spüren gerade, dass die Leute jetzt weniger Ausflüge machen." Dabei hätten die Signale noch vor ein paar Monaten alle auf Grün gestanden für den wirtschaftlichen Aufschwung. Das ist erstmal vorbei.

Anekdote um Anekdote im Stadtarchiv

Wer über die Bedeutung des Thalenser Kinos schreibt, sollte nicht nur dem Bürgermeister einen Besuch abstatten, sondern auch Sandra Kolbe. Die hat im Dachgeschoss des Rathauses eine ganze Etage für sich. Im Büro der Stadtarchivarin stapeln sich Aktenordner, an der Schreibtischlampe hängen, sauber sortiert nach Farben: Corona-Masken. Sandra Kolbe selbst kommt nicht aus Thale. Aber sie hat sich schlau gemacht beim Ortschronisten – und präsentiert jetzt Anekdote um Anekdote.

Da wären: Früher, vielleicht in den 1970ern, seien Busse aus den Evangelischen Stiftungen in Thale-Neinstedt in Kino Central Theater gekarrt worden; im bis heute existierenden Kino Café hätten die Gäste vor lauter Rauch gar keinen Blick mehr auf die Leinwand gehabt – und oben dem Balkon im Kino knutschten die frisch verliebten Paare. Den Balkon gibt es übrigens immer noch, betreten werden darf er aber nicht mehr: die Notausgänge fehlen.

Was schon immer so war und bis heute der Fall ist: Das Kino Central Theater ist das einzige Kino in Thale. Und es ist eines von nur noch wenigen im Landkreis Harz. All das ist es wohl, was das Kino so besonders macht: die Geschichte und Geschichten, die lange Tradition seit 1912, der bis heute währende Charme.

Wie aber steht es um die Kultur in Thale insgesamt? Überwiegen am Ende nicht doch Wandern, Seilbahn-Fahren und all das, was über die Jahre drum herum gewachsen ist?

Kultur und Tourismus bedingen einander

Bürgermeister Maik Zedschack widerspricht. "Die Kultur hat doch den Tourismus in Thale erst in Gang gebracht", sagt er und schiebt prompt hinterher, Goethe sei der erste Blogger für den Harz gewesen. Warum? Nun ja: Goethes Tragödie Faust spielt nun mal unter anderem im Harz – und brachte über die Jahre Touristen ohne Ende hierher, die zu den heidnischen Kultstätten Roßtrappe oder Hexentanzplatz pilgerten.

Figur der Hexe Watelinde - Hexentanzplatz bei Thale 2 min
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Attraktionen auf und um den Hexentanzplatz sind das Bergtheater Thale, die Seilbahn Thale, der Tierpark Thale und die Walpurgisnacht im Harz.

MDR FERNSEHEN Sa 03.10.2020 18:50Uhr 02:02 min

https://www.mdr.de/meine-heimat/quickiepedia-harz-hexentanzplatz-100.html

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Später dann, die Seilbahn – laut Zedschack nur deshalb entstanden, weil nach dem Wiederaufbau des Harzer Bergtheaters Hunderte aus Magdeburg oder Leipzig zu Fuß hoch zum Theater liefen. Irgendwann wurde dann eben die Seilbahn gebaut. Will sagen: Kultur und Tourismus bedingen einander. Das ist auch in Thale so.

Und was sagt Manfred Walther zu alldem, der Kino-Betreiber? Dass sie hier in dem schnuckeligen Kino am Bahnhof mächtig profitieren von den Touristen. "Zu uns kommen aktuell mehr Touristen als Einheimische", erzählt der 72-Jährige.

Es ist allerdings noch gar nicht lange her, da saß auch einer der Einheimischen auf einem der 96 Plätze im Kinosaal und schwelgte in Erinnerungen an seine Jugend. Auf der Leinwand flimmerte "Top Gun 2". Mittendrin: Maik Zedschack, Thales Bürgermeister.

Reise geht weiter in Neuwegersleben

Am Mittwoch werden MDR KULTUR und MDR SACHSEN-ANHALT nach Neuwegersleben fahren. Dort steht ein Besuch der Telegraphen-Station Nr. 18 in Neuwegersleben an – eines der wohl kleinsten Museen in Sachsen-Anhalt. Dort sind die MDR-Reporter Florian Leue und Luca Deutschländer unter anderem mit Henning Fuchs verabredet, ohne dessen Engagement und das seinen verstorbenen Bruders es die Station heute wohl kaum so gäbe.

Außerdem ist ein Treffen mit Ortsbürgermeister Klaus Graßhoff geplant, der über die Bedeutung des Mini-Museums für Neuwegersleben berichtet. Verabredet sind die Reporter auch mit Klaus Schmeißer vom Verein "Telegraphenradweg", der aus Sachsen-Anhalt heraus einen ganz besonderen Radweg entlang verschiedener Telegraphenstationen entwickelt hat – der auch durch Neuwegersleben führt.

MDR (Florian Leue, Luca Deutschländer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 27. Juli 2022 | 09:30 Uhr

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