Immer weniger Mitglieder Wie Timmenrodes Vereine gemeinsam ums Überleben kämpfen

07. November 2022, 19:28 Uhr

Zwei Tage war MDR SACHSEN-ANHALT in Timmenrode, um herauszufinden, was die Menschen in dem Harz-Dorf beschäftigt. Entstanden ist eine vierteilige Serie. Im zweiten Teil geht es um die Vereine im Ort, denen Geld und Mitglieder fehlen. Sie haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam aus der Krise zu kommen und das kulturelle Leben im Dorf zu erhalten.

Lucas Riemer
Bildrechte: MDR/Tilo Weiskopf

Die Rufe der Trainer schallen über den Timmenröder Sportplatz, während in der Herbstsonne die jüngsten Spieler des örtlichen Fußballvereins mit einem Ball über den Rasen dribbeln. Acht Kinder sind an diesem Dienstagnachmittag Anfang November zum Training der F-Jugend gekommen. Es sind Herbstferien, doch viel mehr Spielerinnen und Spieler trainieren hier auch in normalen Wochen nicht.

Warum MDR SACHSEN-ANHALT in Timmenrode war

Einmal im Jahr lädt der MDR bei der "Programmmachen-Aktion" interessierte Menschen ein, für einen Tag in einer Redaktion mitzuarbeiten. Im Rahmen dieser Aktion war der Timmenröder Ortschronist Lothar Wiegmann im September zu Gast in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT. Dort berichtete er, was die Menschen in Timmenrode derzeit bewegt. Diesen Themen ist MDR SACHSEN-ANHALT vor Ort nachgegangen.

Immerhin: "Wir sind einer der wenigen Dorfvereine, die überhaupt noch Nachwuchs haben", sagt Andreas Rudolf, der stellvertretende Vereinsvorsitzende des SV 56 Timmenrode. Rund 120 Mitglieder hat der Verein, etwa die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. Früher waren es deutlich mehr. "Wir haben allein seit der Corona-Pandemie rund 20 Prozent unserer Mitglieder verloren", sagt Andreas Rudolf. Eine Folge: Weil nicht mehr genügend Spieler da sind, tritt die erste Herrenmannschaft seit dieser Saison in einer Spielgemeinschaft mit dem VfB 67 Blankenburg an.

Die Gründe für den Mitgliederschwund sind vielfältig, sagt Andreas Rudolf. Viele aus der Generation der heute 30- bis 40-jährigen seien einst aus Timmenrode weggezogen. Sie und ihre Kinder fehlten nun in den Vereinen. Und die jungen Familien, die in den letzten Jahren neu ins Dorf gezogen sind, täten sich meist schwer mit der Integration ins Vereinsleben, auch, weil es während der Pandemie kaum Möglichkeiten der Kontaktaufnahme gab.

"Außerdem hat sich bei Kindern und Eltern eine gewisse Trägheit eingeschlichen", sagt Andreas Rudolf. Wer einmal erkannt habe, dass die heimische Couch ganz bequem sei, der tue sich schwer, sie wieder zu verlassen. Darunter leiden Rudolf zufolge nicht nur die Fußballer.

Lesen Sie hier den ersten Teil der Reihe aus Timmenrode:

Schützenverein hat Nachwuchssorgen

Eine schmale Straße trennt den Sportplatz der Timmenröder Fußballer vom Schützenhaus. In dessen Obergeschoss steht Harald Riel im Vorzimmer des Zehn-Meter-Schießstands und streicht einen Namen von der Liste derjenigen, die hier Standaufsichten sind, wenn geschossen wird. Der Mann sei aus Altersgründen ausgeschieden, erklärt Riel, selbst 73 Jahre alt und seit 2003 Vorsitzender des Timmenröder Schützenvereins. Eigentlich hätte er das Amt schon abgeben wollen, aber es findet sich niemand, der es übernehmen will.

Die Probleme des Fußballvereins erscheinen klein im Vergleich zu denen der Schützen. "Früher hatten wir mal 93 Mitglieder, heute sind es noch 39", sagt Harald Riel. Kaum jemand finde sich mehr, der bereit sei, ehrenamtliche Aufgaben etwa als Standaufsicht zu übernehmen. "Du kannst heutzutage fast niemanden mehr dazu bewegen, etwas außer der Reihe zu machen", hat Riel beobachtet.

Hinzu kommt: immer weniger zahlende Mitglieder bedeuten immer weniger Einnahmen, bei gleichzeitig extrem steigenden Energiekosten. "Für uns ist das alles kaum noch zu bezahlen", klagt Vereinschef Riel. Wahrscheinlich wird er den Schießstand im Winter kalt lassen müssen – und dadurch möglicherweise weitere Mitglieder verlieren.

Dabei haben gerade die Schützen eine besondere Bedeutung für das kulturelle Leben in Timmenrode. Jedes Jahr am Himmelfahrtswochenende veranstaltet der Verein das größte Fest im Ort. Vier Tage dauert das Schützenfest, das für viele Timmenröder ein Höhepunkt im Dorfleben ist. Wie lange es das Schützenfest angesichts steigender Preise und fehlender Ehrenamtler noch in seiner bewährten Form geben wird, ist jedoch unklar. Schon in diesem Jahr fand es nach zweijähriger Corona-Pause nur in abgespeckter Form statt.

Früher war die Stimmung unter den Vereinen schlecht. Heute läuft der Austausch gut, wir unterstützen uns gegenseitig.

Harald Riel, Vorsitzender des Schützenvereins

Wie überall in Sachsen-Anhalt sehen sich die meisten Vereine in Timmenrode mit Mitgliederschwund, Nachwuchsmangel und Preisexplosionen konfrontiert. In dem Harz-Dorf setzen sie deshalb auf Zusammenhalt. Gemeinsam wollen sie Lösungsansätze entwickeln, um das kulturelle Leben im Dorf und das Überleben der Vereine zu sichern. Mehrmals im Jahr kommen dazu vom Kleingartenverein über die Schützen und Fußballer bis hin zur Feuerwehr alle Klubs und Institutionen des Dorfes im Gemeindehaus zusammen.

"Als ich vor fast 20 Jahren den Vorsitz des Schützenvereins übernommen habe, war die Stimmung unter den Vereinen schlecht. Heute läuft der Austausch gut, wir unterstützen uns gegenseitig", sagt Harald Riel. So schmücken die Vereine seit einigen Jahren am ersten Advent gemeinsam einen Weihnachtsbaum im Dorf und organisieren einen Weihnachtsmarkt, bei dem die Klubs jeweils eine eigene Bude betreiben. Das spült Einnahmen in die leeren Vereinskassen – und fördert den Austausch untereinander.

Forderung nach Hilfe von Politik und Verbänden

Eine weiterer Plan, der in der Runde entstand: Schilder an den Ortseingängen von Timmenrode sollen Touristen und Einheimische auf die Vereine und Feste im Ort aufmerksam machen. Spätestens Anfang nächsten Jahres sollen die Hinweisschilder aufgestellt werden. Mit einem gemeinsamen Flyer, der gerade entwickelt wird, wollen sich die Vereine zudem bei Zugezogenen vorstellen – und diese bestenfalls von einem Beitritt überzeugen.

Unterstützung soll auch aus der Politik kommen. Timmenrodes Vereine plädieren für eine bessere Anbindung ihres Ortes mit Fahrradwegen an die umliegenden, kleineren Dörfer. Dann, so hoffen sie, würde sich ihr Einzugsbiet deutlich vergrößern. Und Andreas Rudolf vom Fußballverein wünscht sich mehr Hilfe durch den Landessportbund. Von dem Geld, dass der Verein an den Verband zahlen müsse, komme nur ein Bruchteil zurück. Dabei bräuchte man jeden Cent, etwa um Schnuppertrainings zu veranstalten und mehr Kinder für Fußball auf dem Rasen statt an der Spielkonsole zu begeistern.

Welche Zukunft haben Schützenverein und Schützenfest?

Ob all die Pläne und Ideen helfen können, den besonders vom Mitgliederschwund betroffenen Schützenverein langfristig zu retten? Vereinschef Harald Riel ist eher pessimistisch. "Auf kurz oder lang müssen wir wahrscheinlich Feierabend machen. Aber ich hoffe immer noch, dass wir das in den Griff kriegen und es weitergeht."

Bessere Zukunftsaussichten hat dagegen das Timmenröder Schützenfest, wenn auch vermutlich in anderer Form als bislang. "Auf längere Sicht", sagt Riel, "werden wir daraus wahrscheinlich ein Dorffest machen." Der Gedanke dahinter: Nicht nur die Schützen alleine, sondern alle Timmenröder Vereine zusammen stellen ein großes Fest auf die Beine – und der ganze Ort profitiert.

Erfahren Sie am Dienstag im dritten Teil der Serie, warum die Fußballerinnen und Fußballer des SV 56 Timmenrode auf ihrem Platz einen ungewöhnlichen Heimvorteil haben.

Lucas Riemer
Bildrechte: MDR/Tilo Weiskopf

Über den Autor Lucas Riemer arbeitet seit Juni 2021 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Der gebürtige Wittenberger hat Medien- und Kommunikationswissenschaft in Ilmenau sowie Journalismus in Mainz studiert und anschließend mehrere Jahre als Redakteur in Hamburg gearbeitet, unter anderem für das Magazin GEOlino.

Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er vor allem über gesellschaftliche und politische Themen aus den Regionen des Landes.

MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 09. November 2022 | 15:30 Uhr

1 Kommentar

salzbrot am 08.11.2022

das ist doch eigentlich ganz positiv, dass die Leute nicht mehr so gerne schießen. Vielleicht sollte die gemeinde mal abfragen, für welche Vereinsinhalte sich die Alt- und Neubewohner so interessieren. Ich würde das noch nicht verloren geben mit dem Vereinsleben. Und man sollte so einen Vereinsvorsitz auf mehrere Schultern verteilen. Die alten Strukturen mit viel Verantwortung für eine Person sind nicht mehr gefragt, heute setzt man mehr auf Austausch.

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