Ashwaq Al-Obaidi (l.) und Birgit Kiel aus Burg
Seit mehr als 20 Jahren befreundet: Ashwaq Al-Obaidi (l.) und Birgit Kiel. Bildrechte: MDR/Daniel George

Nach Rassismus-Vorwurf gegen Grundschule Wie zwei Frauen aus Burg für Integration kämpfen – und gegen Vorurteile

30. Oktober 2021, 17:26 Uhr

Eine Grundschule in Burg bildete eine Klasse ausschließlich aus Kindern mit Migrationshintergrund – und sorgte damit deutschlandweit für Empörung. Dabei funktioniert Integration anderswo in der Kleinstadt weit besser. Ein Beispiel: die Freundschaft von Ashwaq Al-Obaidi und Birgit Kiel – und ihr gemeinsamer Kampf gegen Vorurteile.

Daniel George
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Birgit Kiel nippt gerade an ihrem türkischen Tee, als ein Bekannter das Schaufenster passiert. Der Mann winkt. "Ach, der Aras!", sagt Kiel und grüßt aus dem Döner-Imbiss zurück. "Das ist der Aras, der aus der Zeitung! Der mit der Schule!"

Der, wegen dem Anfang des Schuljahres plötzlich Menschen aus ganz Deutschland nach Burg schauten – und ohne den Birgit Kiel hier heute nicht sitzen würde.

Denn ohne Aras Badr wäre vielleicht nie öffentlich geworden, was an der Grundschule Burg-Süd geplant war: In die Klasse seiner Tochter sollten nur Kinder mit arabischer Muttersprache gehen. Badr machte den Fall nach der Einschulung öffentlich und löste damit eine Rassismus-Debatte aus.

Klassenbildung zurückgenommen – Fragen bleiben

Die umstrittene Klassenbildung wurde zurückgenommen. Anfang September war das. Fast zwei Monate sind seitdem vergangen. Offene Fragen bleiben bis heute. Doch die müssen andere beantworten. Aras Badr hat aus seiner Sicht alles gesagt. Er geht weiter an diesem Tag. Dafür betritt Ashwaq Al-Obaidi den Laden. "Na Birgit, alles klar?", fragt sie und klopft zur Begrüßung auf den Tisch. Birgit Kiel sagt: "Alles klar!" Und dann erzählen die beiden Frauen aus Burg ihre Geschichte.

Eine Geschichte über Freundschaft, die zeigt, wie die Integration von Migranten und Migrantinnen in der Kleinstadt im Jerichower Land wirklich funktioniert – und so auch offenbart, was bei der Klassenbildung an der Grundschule wohl falsch gelaufen ist.

Umstrittene Klassenbildung: Kritik an fehlender Aufarbeitung

Thomas Lippmann sitzt in seinem Büro im Magdeburger Landtag. Für den bildungspolitischen Sprecher der Linksfraktion steht fest: Es ist einiges falsch gelaufen. "Sie wissen nichts, sie sehen nichts, sie sagen nichts", erklärt Lippmann, früher selbst Schulleiter, zu einer bisher unveröffentlichten Antwort des Bildungsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage, die dem MDR vorliegt.

Das Landesschulamt lehnt eine Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT zunächst ab. Begründung: Die offizielle Stellungnahme des Bildungsministeriums auf die Anfrage müsse abgewartet werden. Auch die Verantwortlichen der Grundschule Burg-Süd würden sich nicht äußern, erklärt die Schulbehörde. Die Schulleiterin sei krankgeschrieben, ist in Burg zu hören.

Lippmann sieht ohnehin vor allem das Landesschulamt in der Verantwortung. Doch: "Es gibt dort offenbar weiter keine Einsicht, dass es die Aufgabe der Schulbehörden gewesen wäre, die Bildung einer ersten Klasse nur aus Kindern mit vermuteter arabischer Herkunftssprache als in jeder Hinsicht inakzeptabel zu erkennen und zu verhindern."

Auch Birgit Kiel und Ashwaq Al-Obaidi schütteln im Döner-Imbiss den Kopf. "Das geht gar nicht", sagt Al-Obaidi. "Nein, wirklich gar nicht", bejaht Kiel und wird dann generell: "Wir müssen uns doch kennenlernen und die Unterschiede akzeptieren, uns gegenseitig helfen, nicht nur nebeneinander existieren. Wir leben hier zusammen in einer Stadt. Wo soll das denn sonst hinführen?"

Die "Mamas" mit Tränen in den Augen

Wo es hinführen kann, wenn Integration gelebt wird, zeigt die Freundschaft zwischen den beiden Frauen: Birgit Kiel, geboren in Heringsdorf, seit 54 Jahren wohnhaft in Burg. Und Ashwaq Al-Obaidi, geboren im Irak, seit 22 Jahren wohnhaft in Burg.

Kurz nachdem Al-Obaidi aus ihrer Heimatstadt Bagdad geflüchtet und nach Burg gekommen war, lernte sie Kiel kennen. "Unsere Kinder sind damals in denselben Kindergarten und dann auch auf dieselbe Grundschule gegangen", erzählt Birgit Kiel. In eine Klasse, wohlgemerkt. Die Familien freundeten sich an, feierten gemeinsam Weihnachten, unterstützen sich bis heute.

Seit Jahren arbeiten Al-Obaidi, 53 Jahre alt, und Kiel, 60, nun auch schon zusammen: als ehrenamtliche Migrationshelferinnen. Sie helfen bei Behördengängen oder Arztbesuchen, übersetzen und erklären. Die "Mamas", wie sie von den Geflüchteten oft genannt werden, kümmern sich. 2017 wurden sie deshalb mit dem Integrationspreis des Landes Sachsen-Anhalt geehrt und von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen.

Eine Anerkennung, die bis heute nachwirkt. Die Frauen ergreifen jeweils die Hand der anderen, als sie sich an den Moment erinnern. In ihren Augen Tränen, die erahnen lassen, was ihnen ihre Arbeit bedeutet – und welch harten Weg sie gegangen sind.

Birgit Kiel: "Ich helfe den Menschen – und das hilft mir"

Birgit Kiel hatte sich komplett zurückgezogen. Das sagt sie heute ganz offen. "Durch die Krankheit", erzählt die 60-Jährige, "ging mein Selbstbewusstsein in den Keller." Heute kaum zu glauben. Kiel spricht selbstsicher, sucht Augenkontakt, startet Smalltalk mit Fremden im Döner-Imbiss. Immer wieder winkt sie Bekannten zu. Aber: "Damals", sagt sie, "hatte ich keine Kontakte mehr."

Seit 1984 leidet Kiel an einem Lipödem. Das ist eine Fettverteilungsstörung. Die Gewebeflüssigkeit in ihren Beinen und Armen hat sich seitdem vervielfacht. Sie kann kaum noch Laufen, ist auf Gehhilfen angewiesen. "Ich kämpfe mich so durch", sagt sie. "Meine Familie und meine Freunde helfen mir dabei – und meine Arbeit."

Alles begann bei einem interkulturellen Nachmittag beim Deutschen Roten Kreuz in Burg. 2015 war das. "Ich habe mich schon immer für andere Kulturen interessiert und mich deshalb dazu durchgerungen, hinzugehen", erinnert sich Kiel. "Dann saß da ein junger Mann ganz alleine und schaute sich verschüchtert um. Da kam das Muttertier in mir durch und ich habe ihn angesprochen." Zwar sprach der Mann nur Arabisch und sie nur Deutsch. Aber: "Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt." Und Birgit Kiel hatte ihre Passion gefunden.

Drei, vier Anfragen würden sie mittlerweile jeden Tag erreichen, erzählt die 60-Jährige. Irgendjemand braucht immer Hilfe. Manchmal geht es um Kleinigkeiten, manchmal um die ganz großen Lebensfragen. Für dieses Wochenende hat sie eine Hochzeit mit organisiert. "Da steckt einfach mein Herzblut drin", sagt Kiel. "Ich helfe den Menschen – und das hilft mir."

Ashwaq Al-Obaidi: "Ich kenne alle Beleidigungen"

Ashwaq Al-Obaidi flüchtete vor 22 Jahren aus dem Irak. Sie kam nach Halberstadt und beantragte Asyl. Kurz nach der Ankunft wurde ihre erste Tochter geboren. Ihr ältester Sohn war gerade zwei Jahre alt. Weiter ging es nach Burg. Al-Obaidi konnte kein Deutsch. Die Wartezeit für einen Sprachkurs betrug sieben Jahre, erzählt sie. Also "habe ich gespart und gespart und mir für 50 D-Mark ein Wörterbuch gekauft", sagt Al-Obaidi. "Ich musste Deutsch lernen."

Perfekt sei ihr Deutsch zwar noch heute nicht, aber: "Birgit hilft mir viel und verbessert mich oft." Al-Obaidi lacht. Nicht nur in diesem Moment, sondern oft während des Gesprächs. Sie ist ganz offensichtlich eine fröhliche Frau, auch wenn sie sagt: "Der Anfang war richtig schwer. Mir hat kaum jemand geholfen damals. Deshalb helfe ich jetzt den Menschen, damit es ihnen besser geht als mir."

Wobei es ihr wichtig ist, zu unterscheiden: "Es gibt viele Menschen hier mit einem richtig guten Herz", sagt die Mutter von vier Kindern. Eine Frau habe ihr damals einen Kinderwagen geschenkt. Mit einer Nachbarin hätte sich ihre Familie angefreundet, trotz anfänglicher Skepsis auf Seiten der älteren Dame. "Aber ich verstehe das ja auch", sagt Al-Obaidi. "Lange Zeit kamen keine fremden Menschen hierher. Das ist für manche Leute schwer, sie haben Angst. Deshalb ist es wichtig, dass man den ersten Schritt macht und zeigt, wer wir sind."

2015 eröffnete Al-Obaidi den ersten orientalischen Lebensmittelladen in Burg. Mitten in der Schartauer Straße, der Einkaufspassage im Zentrum. Am Schaufenster: Werbung in deutscher und arabischer Sprache. Und bald auch: Schmierereien. "Ausländer raus", stand da zum Beispiel geschrieben. "Das war noch harmlos. Ich kenne alle Beleidigungen in diese Richtung", sagt Al-Obaidi. Ihr Mann war zwei Jahre zuvor gestorben. Sie war mit den Kindern allein.

Doch viele Freunde standen ihr bei. Die Beschimpfungen hörten auf. Inzwischen ist Ashwaq Al-Obaidi bekannt in Burg – und sie besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Mai dieses Jahres wurde sie eingebürgert. Den Lebensmittelladen betreibt sie zwar nicht mehr, dafür aber den Döner-Imbiss in der Schartauer Straße, in dem sie an diesem Oktobertag neben Birgit Kiel sitzt.

Der Kampf gegen Vorurteile – und für Integration

Wie bestellt läuft zum Ende des Gesprächs noch einmal Aras Badr am Schaufenster vorbei. Der Vater, der auf die umstrittene Klassenbildung an der Grundschule Burg-Süd aufmerksam gemacht hatte. "Da ist der Aras wieder", sagt Birgit Kiel. "Ach ja", sagt Ashwaq Al-Obaidi. Diesmal geht er in die andere Richtung, bleibt auch diesmal nicht stehen.

Also sprechen die beiden Frauen noch einmal. Sie seien nur zwei von vielen Menschen, die sich in Burg für Integration einsetzen würden. Schließlich "gibt es immer noch viele Leute, die noch nie Kontakt zu Migranten hatten, aber trotzdem viele Vorurteile haben", sagt Birgit Kiel. "Die wollen wir abbauen. Denn das Miteinander der Kulturen macht das Leben doch so bunt, so wunderbar."

Ashwaq Al-Obaidi nickt. Denn: "Die Menschen", sagt sie, "müssen Kontakt miteinander haben. Wir dürfen uns nicht aus dem Weg gehen, nur weil der andere aus einem anderen Land kommt." Und das gelte auch für Erstklässler an der Grundschule Burg-Süd.

Daniel George
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

MDR/Daniel George

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT Das Radio wie wir | 29. Oktober 2021 | 15:30 Uhr

12 Kommentare

Karl Schmidt am 01.11.2021

@Atheist:
"Ein Artikel(,) der mich mehr als beunruhigt oder besser gesagt(,) der mir sehr(,) sehr große Angst(-, )vor der Zukunft, der Gleichberechtigung unserer Identität macht."
Nun ja, Angst ist kein guter Berater in Grammatikfragen, allerdings:
Was bitte soll "Gleichberechtigung unserer Identität" sein?

Atheist am 01.11.2021

4 Kinder
Tja, das hätten meine Eltern ( Nachkriegskinder) auch gerne gehabt, auch ich hätte mir mehr Kinder gewünscht und selbst meine Kinder überlegen schon seit Jahren ob sie sich jeweils ein 2. Kind leisten können.
Generationen haben dieses Land aufgebaut und auf Kinder verzichtet und andere fahren nun die Ernte ein.

SG aus E am 01.11.2021

Tja, so ist das, wenn 'frau' in einem freien Land lebt. In Deutschland dürfen Menschen selbst bestimmen, wie sie auf der Straße rumlaufen. Gerade das unterscheidet Deutschland von Saudi-Arabien und dem Iran. Seien Sie doch froh!

Sie deuten das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung – Frau Al-Obaidi sieht das wahrscheinlich anders. Die Frau zieht ihre Kinder alleine auf und betreibt einen Laden. Sie führt ein selbstbestimmtes Leben – und das Kopftuch hält sie davon nicht ab. Vielleicht sollten Sie ihre Vorurteile einmal überprüfen.

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