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Anschlag in MagdeburgHinterbliebene warten auf Hilfe: "Wir fragen uns, was Priorität hat"

03. März 2025, 11:45 Uhr

Nach dem Anschlag in Magdeburg können Betroffene Hilfe beantragen. Doch einige Angehörige und Verletzte warten seit fast drei Wochen auf eine Antwort. Sie kritisieren die Kommunikation der Stadt, bei der sie nach eigenen Angaben Menschlichkeit und Fingerspitzengefühl vermissen.

Am 20. Dezember 2024 ändert sich für Sandra (Name von Redaktion geändert*) alles. Taleb A. tötet bei seiner Amokfahrt über den Magdeburger Weihnachtsmarkt ihre Mutter, ihre Tochter wird verletzt. Sandra* selbst kommt schwerverletzt ins Krankenhaus. Ihre Familie leidet an den psychischen Folgen. Mehr als zwei Monate nach dem Attentat stellt sie fest: "Bei vielen anderen ist der Alltag eingekehrt, bei uns geht das nicht."

Bei vielen anderen ist der Alltag eingekehrt, bei uns geht das nicht.

Sandra | Verletzte und Hinterbliebene des Anschlags in Magdeburg

Magdeburg verteilt Spenden, doch Hinterbliebene haben noch kein Geld

Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung nach dem Anschlag in Magdeburg war und ist groß. Über 2,8 Millionen Euro an Spenden kamen zusammen. Die Familien der Hinterbliebenen werden weiterhin von der ehrenamtlichen Notfallseelsorge betreut. Auch weitere Organisationen und Behörden bieten umfassende Hilfe. Unzufrieden ist Sandra* vor allem mit der Stadt Magdeburg. Diese verteilt einen Teil der Spenden an Betroffene.

Es scheint für die Bearbeitung keine Rolle zu spielen, ob man die Familie eines Todesopfers ist oder ob jemand nur seine verlorenen Schuhe ersetzt bekommen möchte.

Sandra | Verletzte und Hinterbliebene des Anschlags in Magdeburg

So werden die Spenden in Magdeburg verteilt

  • 20 Prozent der Spenden sollen an die Angehörigen von Todesopfern gehen,
  • 25 Prozent an lebensgefährlich verletzte Opfer,
  • 25 Prozent an schwerverletzte Opfer,
  • 15 Prozent an leicht verletzte Opfer,
  • 10 Prozent an Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen,
  • 5 Prozent an Menschen, deren Sachen zu Schaden gekommen sind (bis zu 300 Euro pro Person)


Bisher sind laut Stadt über 1.500 Anträge versandt worden, etwa die Hälfte sei bereits zurückgekommen.

Einige Familien haben bereits dieses Geld erhalten. Laut Sandra* tut sich bei ihr auch drei Wochen nach dem Antrag nichts, Nachfragen blieben unbeantwortet. "Es scheint für die Bearbeitung keine Rolle zu spielen, ob man die Familie eines Todesopfers ist oder ob jemand nur seine verlorenen Schuhe ersetzt bekommen möchte", sagt Sandra*.

Sie selbst habe mehrere Formulare erhalten. Ihre verletzte Tochter keines. Und das sei kein Einzelfall. Magdeburgs Sozialbeigeordneter Ingo Gottschalk sagte MDR SACHSEN-ANHALT, die Anträge für Hinterbliebene habe er selbst entgegengenommen. Er wolle das prüfen.

Stadt stuft Kinder nicht als Angehörige ein, attestiert aber posttraumatische Belastungsstörung

Eine weitere Familie hatte sich bei der Stadt Magdeburg beschwert, da die Kinder nach dem Tod ihrer Mutter per Formular als "Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen" eingestuft wurden, aber nicht explizit als Angehörige. Das sei zum einen respektlos und zum anderen eine unqualifizierte Ferndiagnose, hieß es in dem Schreiben. Eine posttraumatische Belastungsstörung muss normalerweise durch einen Arzt attestiert werden. Ohnehin sei es für die Betroffenen unklar, wer auf Grundlage welcher Daten festlegt, welche Entschädigung bewilligen kann.

Da sind Menschen, Familien, schlimme Schicksale hinter ihren Aktenzeichen, Anträgen, Ankreuzfeldern, Richtlinien und Paragrafen.

Familie eines Todesopfers

Letztlich wurde nur der Vater der Familie per Formular als Hinterbliebener eingestuft. Für die Töchter nicht haltbar. "Da sind Menschen, Familien, schlimme Schicksale hinter ihren Aktenzeichen, Anträgen, Ankreuzfeldern, Richtlinien und Paragrafen", hatten die Hinterbliebenen an die Stadt geschrieben.

Der Beigeordnete Gottschalk betonte, dass jede Familie nur ein Formular bekommen habe, weil an die Hinterbliebenen die maximale Summe ausgezahlt werde. In der Richtlinie zur Verteilung der Soforthilfen ist dies nicht explizit enthalten. Die Einstufung als "posttraumatisch belastet" sollte laut Gottschalk eine Kategorie für Menschen mit nachweislichen Traumata sein.

"Wir hätten uns mehr Empathie gewünscht"

Sandra* sagt, ihr gehe es nicht ums Geld, sondern vor allem darum, dass man mit den Betroffenen mit mehr Menschlichkeit und auf Augenhöhe kommuniziere, Mitgefühl zeige. "Bundespräsident Steinmeier wollte sich mit uns treffen. Das haben wir damals nicht angenommen, es war aber eine Geste. Von der Stadt gibt es offenbar Desinteresse zu einem Austausch." Dass Vertreterinnen und Vertreter der Stadt an der Beisetzung ihrer Mutter teilnehmen, habe sie abgelehnt. Dies sei nicht der richtige Ort dazu. Auf MDR-Nachfrage kündigte die Stadt nun eine erneute Kontaktaufnahme mit Hinterbliebenen an.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war beim Gedenken an die Opfer des Anschlags in Magdeburg vor Ort. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jan Woitas

Sandras Mutter war beim mittelalterlichen Weihnachtsmarkt in der Hartstraße ums Leben gekommen. Der Gedenkort der Familie wurde Anfang Februar von Unbekannten zerstört. Sandra teilte dies der Stadt mit. In der Antwort der Stadt, die eine Mitarbeiterin in Auftrag von Oberbürgermeisterin Borris schrieb, vermisste sie das Feingefühl.

Mit uns direkt wollte man sich scheinbar nicht auseinandersetzen.

Sandra | Verletzte und Hinterbliebene des Anschlags in Magdeburg

"Wir wurden auf das Online-Portal der Stadt für Ideen zur zentralen Gedenkstätte verwiesen. Mit uns direkt wollte man sich scheinbar nicht auseinandersetzen", berichtet Sandra. "Das sind so Sachen, die stoßen schon bitter auf. Genau wie der Kondolenzbrief der Stadt, der an meinen Mann, nicht an mich ging. Darin wurde auf eine Sondersitzung des Stadtrats verwiesen. Ich finde, sowas gehört dort nicht rein. Wir hätten uns mehr Empathie gewünscht."

Mehr als 1.500 Anträge für Unterstützung nach Anschlag in Magdeburg

Der Sozialbeigeordnete Gottschalk sagte: "Bei uns sind 70 Freiwillige mit diesem Spendenkomplex befasst. Es gab über 1.500 Anträge. Da kann man nicht alles so richtig machen, dass alle zufrieden sind." Das Magdeburger Sozial- und Veterinäramt muss derzeit mit der verwahrlosten Schafherde eine zweite Ausnahmesituation bewältigen.

Bei uns sind 70 Freiwillige mit diesem Spendenkomplex befasst. Es gab über 1.500 Anträge. Da kann man nicht alles so richtig machen, dass alle zufrieden sind.

Ingo Gottschalk | Sozialbeigeordneter der Stadt Magdeburg

Wie die Stadt die Betroffenen findet

Die Stadt Magdeburg bezieht ihre Kontaktlisten für Betroffene zum großen Teil aus Ermittlungsakten der Polizei. Dort sind nicht immer direkte Angehörige registriert. Eine Recherche ist aber möglich, das zeigen die Anschreiben des Bundes.

Sandra* füllt nun gemeinsam mit ihrer ehrenamtlichen Betreuerin weitere Formulare aus. Immer wieder muss sie dabei erneut genau beschreiben, was auf dem Weihnachtsmarkt vorgefallen ist. "Das habe ich alles der Polizei schon erzählt. Es belastet mich sehr, deshalb hätte ich das gerne vermieden." Ausdrücklich positiv beschreibt sie allerdings die Arbeit der Opferberatung des Landes, des Weißen Rings, der Notfallseelsorge und des Landesverwaltungsamts.

*MDR SACHSEN-ANHALT kennt den vollständigen Namen der Person und hat sie persönlich kennengelernt.

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MDR (Max Hensch, Maren Wilczek) | Erstmals veröffentlicht am 02.03.2025

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 02. März 2025 | 17:00 Uhr

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