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Reportage nach dem AnschlagEine Woche danach: Zwischen Licht und Dunkelheit in Magdeburg

28. Dezember 2024, 09:27 Uhr

Eine Woche ist vergangen, seit Taleb A. – ein Arzt aus Saudi-Arabien – mit einem Auto durch eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg raste, mindestens fünf Menschen aus dem Leben riss und Hunderte verletzte, körperlich wie seelisch. Längst hat die politische Aufarbeitung der Tragödie begonnen. Doch wie geht es der Landeshauptstadt? Ganz persönliche Eindrücke eine Woche danach – gesammelt bei einem Spaziergang vorbei an den Wunden einer traumatisierten Stadt.

Es gibt sie in diesen dunklen Tagen, die Momente, die Kraft spenden und Hoffnung geben. Die trösten. Es sind einerseits Nachrichten wie die aus dem Magdeburger Uniklinikum: Keiner der Schwerverletzten schwebt mehr in Lebensgefahr. Andererseits sind es Momente wie der am späten Freitagnachmittag. Direkt vor dem Dom rennt ein kleiner Junge – zwei, drei Jahre alt vielleicht – auf die leuchtenden Kerzen, Blumen und Plüschtiere zu.

"Da, ein Teddy!"

Magdeburger haben sie abgelegt, um der Opfer des Attentats vom 20. Dezember zu gedenken, innezuhalten. Der Vater bremst den Kleinen. "Ganz langsam", sagt er und schließt den Jungen in seine Arme. "Da, noch ein Teddy!", strahlt der Junge und streckt seine Hand aus. Kindliche Freude – noch immer die schönste Freude.

Es ist Freitag, kurz nach 17 Uhr. 27. Dezember 2024. Eine Woche ist vergangen seit dem Tag, der alle, die es gut mit Magdeburg meinen, mindestens schockiert, anderen Wunden zugefügt hat – Wunden, die bluten. So hat es Magdeburgs Oberbürgermeisterin Simone Borris zu Weihnachten beschrieben.

Die Lichterwelt in Magdeburg leuchtet seit Heiligabend wieder. Und wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit reif für einen Schriftzug wie diesen? Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Die Wunden nach dem Anschlag von Magdeburg sitzen tief

Nicht jede Wunde ist sichtbar wie ein gebrochener Arm. Manche sitzen tief im Innern. Und man muss kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass es Monate – wenn nicht Jahre – dauern wird, bis die Wunden von Magdeburg verheilt sein werden. Nirgends sonst in der Stadt dürften sich Hoffnung und Trauer, Licht und Dunkelheit, so sehr vermischen wie am Domplatz. Drüben, am Landtag, leuchten die Lichterwelten. Kinder toben. Erwachsene machen Selfies. Da ist die Hoffnung. Keine 50 Meter weiter ist die Trauer. Dort ist es still zwischen Kerzen und Blumen – wieder, muss man sagen.

Magdeburger haben auf dem Domplatz Kerzen und Blumen niedergelegt. Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Am Montag hatte hier noch AfD-Chefin Alice Weidel von der Bühne gebrüllt und mit ihr nach Polizeiangaben rund 3.500 Menschen. Laute "Abschieben, abschieben"-Rufe hallten über den Domplatz, auch dann noch, als die Politikerin nach allem, was bekannt ist, die Falschinformation verbreitete, beim Täter Taleb A. handele es sich um einen Islamisten. Jetzt hört man vereinzelt wieder Kinderlachen. Es fühlt sich gut an.

Was über den Täter Taleb A. bekannt ist

Nach allem, was der MDR und zahlreiche andere Medien recherchiert haben, ist Taleb A. als islamfeindlich einzustufen. Damit wäre er das Gegenteil eines Islamisten. Die Behörden halten sich bislang zum Motiv des 50-Jährigen Saudi bedeckt. Die Staatsanwaltschaft sprach am Tag nach der Tat nur davon, Taleb A. habe womöglich aus Unzufriedenheit über den Umgang des deutschen Staates mit saudischen Flüchtlingen gehandelt. Der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sprach von einer islamfeindlichen Einstellung des Täters.

Im sozialen Netzwerk X hatte Taleb A. über Jahre gedroht und krude Thesen verbreitet. Aus ihnen lässt sich unter anderem eine Nähe des Täters zu den ideologischen Standpunkten der AfD ableiten. In einem Interview zeigte sich der 50-Jährige jüngst als Fan von X-Inhaber Elon Musk und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge – bezeichnete sich aber als politisch links.

Es ist 18 Uhr geworden an diesem Freitag und in dem großen Einkaufscenter ein paar Hundert Meter weiter herrscht Gewusel. Die Bistros sind voll. Während die einen sich stärken, tauschen die anderen Weihnachtsgeschenke um. Was man so macht, am Tag nach Weihnachten. Ein kurzer Moment der Normalität. Dann erscheinen auf einer der Anzeigentafeln eine schwarze Kerze und eine Telefonnummer – gedacht für die, die Hilfe brauchen nach dem Attentat von Magdeburg. Weil sie gesehen haben, was sie lieber nicht gesehen hätten. Weil sie fühlen, was sich nicht gut anfühlt.

Draußen vor der Tür redet ein Junge mit seinem Vater übers Silvesterfeuerwerk. "Die Hunde mögen das nicht", klärt der Junge den Papa auf. "Genau", entgegnet der. "Und ganz viele Menschen dieses Jahr auch nicht. Glaube ich."

Appell der Oberbürgermeisterin: Aufs Feuerwerk verzichten

Die Magdeburger sollen in diesem Jahr aufs Feuerwerk zu Silvester verzichten. Dazu hat am Freitag Oberbürgermeisterin Simone Borris (parteilos) aufgerufen. Sie sagte, es gebe in Magdeburg keinen Grund zum Feiern und damit auch keinen Anlass für ein Silvesterfeuerwerk. Die Rathauschefin sagte, sie bitte um Rücksicht für die Opfer des Anschlags vom 20. Dezember. Hinzu komme, dass das Personal im Krankenhaus sich eine Pause verdient habe. In der Silvesternacht werden in jedem Jahr zahlreiche Patienten in Krankenhäusern behandelt, die sich beim Böller verletzt haben.

18.15 Uhr. Der Alte Markt. Wer Magdeburg und seinen Weihnachtsmarkt ein paar Jahre kennt, weiß: Die meisten Buden und Karussells stehen Jahr für Jahr aufs Neue an der Stelle, an der sie seit Jahren stehen. Manch einer war erstaunt, dass in diesem Jahr neue Imbiss-Buden dazu gekommen waren. Ob alteingesessen oder neu dabei: Am Morgen haben sie alle begonnen, ihre Buden abzubauen. Wer jetzt am Abend auf dem Alten Markt steht, hört die Motoren von Lkw, sieht kleine Berge ausgedienter Tannenbäume – und kann der Kehrmaschine zusehen, wie sie ihre Runden dreht. Fast bekommt man den Eindruck, die sichtbarste aller Wunden soll zuerst verschwinden: Es ist die Gasse, durch die Taleb A. seine tödliche Fahrt startete.

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Bis zum 20. Dezember um kurz nach 19 Uhr wurden in diesem Gang noch Langos, Käsebällchen, Luftballons und Leber verkauft, jetzt sind noch drei, vier Buden übrig. Der Rest: abgebaut.

Blick auf die Überbleibsel des Weihnachtsmarkts am Freitag kurz nach 18 Uhr: Eine Stunde später waren bereits weitere Buden abgebaut. Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Magdeburg eine Woche danach: Menschen starren ins Leere

Einige Menschen spazieren zwischen Lastern und Gabelstaplern umher. Andere bleiben stehen und starren ins Leere – so wie der Mann, der sich eine Zigarette anzündet und einfach nur guckt. Die Kellnerin eines angrenzenden Restaurants starrt mit versteinertem Blick durch das Fenster zu einem Gabelstapler, der gerade Bauzäune auf einem Hänger verlädt.

18.40 Uhr. Ein paar Schritte weiter, vor der Johanniskirche. Seit dem Morgen danach werden hier Kerzen angezündet, Blumen niedergelegt, Plüschtiere. Auch an diesem Abend stehen 30, 40 Menschen hier. Keiner redet. Und doch ist da dieses Gefühl der Verbundenheit zu den anderen. Es fühlt sich gut an. Unterbrochen wird die Stille nur vom Klackern der Feuerzeuge, wenn wieder jemand eine neue Kerze aufstellt.

Johanniskirche soll bis 6. Januar Gedenkort bleiben

Die Menschen in Magdeburg sollen noch bis ins neue Jahr die Gelegenheit haben, vor der Johanniskirche still zu gedenken. Laut Oberbürgermeisterin Simone Borris wird der Gedenkort am Westportal der Kirche bis einschließlich 6. Januar bestehen bleiben. Danach werde man damit beginnen, Plüschtiere und Gedenkbotschaften zu sichern und an einem "zentralen Ort" aufzubewahren.

Der Plüsch-Elch liegt auf dem Boden herum

Überreste einer Tragödie: Zwei zurückgelassene Glühweintassen erinnern an den Weihnachtsmarkt in Magdeburg Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Zurück auf dem Alten Markt. Die Uhr zeigt kurz vor 19 Uhr. Der große Kopf des Plüsch-Elchs, der eigentlich auch heute Abend Gäste zum Glühweinstand hinten am Riesenrad locken sollte, liegt abmontiert auf dem Boden herum, Kabel schauen hinter den plüschigen Ohren heraus. Vorn am Ort des Geschehens zeigt eine Frau wild gestikulierend ihrem Besuch, wo der Täter seinen Wagen entlang gesteuert hat. Auf dem Alten Markt brummen noch immer die Laster. Auf einem Stromkasten stehen zwei leere Glühweintassen.

Dann ist es 19.02 Uhr.

Eine Woche ist vergangen seit dem Abend, der Magdeburg verändert hat.

Der Freitag danach: Kerzen im Zentrum von Magdeburg Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

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MDR (Luca Deutschländer)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 28. Dezember 2024 | 19:00 Uhr