"Prägende Erfahrung" Uniklinik Magdeburg nach dem Anschlag: Zwischen Extremsituation und Rückkehr zur Routine
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11. Januar 2025, 11:42 Uhr
Sechs Menschen verloren bei der Amokfahrt des Attentäters über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember ihr Leben. Mehr als 300 Menschen wurden zum Teil schwerst verletzt. Dass es nicht noch mehr Tote gab, war auch den sofortigen Rettungsmaßnahmen zu verdanken. Allein an der Uniklinik waren binnen weniger Stunden mehr als 500 Ärzte, Anästhesisten, Schwestern, Pfleger, Medizinstudenten und Helfer vor Ort. Wie die Situation nach dem Anschlag dort ist.
- Nach dem Anschlag in Magdeburg leistete das Team der Uniklinik unter extremen Bedingungen die Versorgung der Patienten.
- Viele Patienten konnten noch vor Jahresende entlassen werden, jedoch bleibt die psychische Verarbeitung eine Herausforderung.
- Die beteiligten Mediziner und Pflegekräfte sehen den Abend als prägende Erfahrung.
Haus 60 A der Uniklinik Magdeburg. Tag 20 nach dem 20. Dezember. Auf den beiden Ebenen mit den OP-Bereichen herrscht wieder normale Routine, nur geplante Eingriffe heute. Auch auf den Intensivstationen laufen die üblichen Ablaufroutinen, schon lange wieder mit der gewohnten Auslastung der Intensivbetten.
Der Leiter der Klinik für Intensivmedizin Robert Werdehausen macht dann auch einen wachen Eindruck, als er sich aus seinem Büro schnellen Schrittes auf die Station begibt. "Wirkliche Kapazitätsengpässe gab es auch in der Nacht auf den 21. Dezember und in den Tagen danach nicht", erklärt er. "Es gab sofort den telefonischen Austausch mit allen Kliniken im Umfeld, die jederzeit Intensivpatienten hätten aufnehmen können." Wiederum wurden auf der Intensivstation der Magdeburger Uniklinik die schwerstverletzten Patienten operiert, die man an anderen Kliniken so nicht hätte versorgen können. Neben mehr als 50 weiteren Anschlagsopfern, die in das Krankenhaus eingeliefert wurden.
Viele Patienten noch im alten Jahr entlassen
"Wir sind wirklich froh, dass es allen körperlich wieder gut geht, dass bis auf zehn alle schon in der Neujahrswoche entlassen werden konnten. Und dass viele von ihnen nicht so gewirkt haben, als würden sie ständig darüber nachdenken, ein derart schreckliches Geschehen überlebt zu haben", meint Werdehausen. Allerdings könne er in niemanden hineinschauen, gibt er zu Bedenken. "Wir haben entsprechende Hilfsangebote in der Klinik für psychosomatische Medizin." Nicht alle würden sie nutzen. "Die meisten wollen sicher einfach erstmal wieder nur nach Hause", vermutet der Mediziner.
Eine 57-jährige Patientin soll heute entlassen werden, sie war eine der 15 Schwerstverletzten, die hier operiert werden musste. Zwei Folgeoperationen waren danach noch erforderlich, wegen ihrer schweren inneren Verletzungen. Mit der diensthabenden Stationsschwester Saskia Rische betritt Werdehausen ihr Krankenzimmer.
Er hatte die Patientin gefragt, ob ein kurzes Interview mit ihr an ihrem Entlassungstag möglich sein könnte. Bei den Fragen sollte es nur um ihre Tage hier auf der Station gehen. Aber schon beim ersten Zusammentreffen bricht die Patientin in Tränen aus, sie entschuldigt sich mehrfach, dass sie nicht reden kann. Eine Flashback-Situation, die sie nicht steuern kann.
Nach dem Anschlag: Angst vor den Bildern im Kopf
Später sagt sie, dass sie große Angst habe, die Bilder vom Alten Markt könnten im Lauf der nächsten Monate immer wieder vor ihrem inneren Auge auftauchen, und dass sie diese Traumaerfahrung niemals wieder los wird.
"Sie wird das schaffen, aber es wird dauern", sagt Krankenschwester Saskia Rische. "Ihr Körper wird sich von den drei Operationen erholen, aber ihre Psyche, das wird ein längerer Prozess." Sie selbst habe davor keine Angst: "Ich habe dafür Strategien und Methoden, die habe ich mir über Jahre antrainiert. Sonst könnte ich hier auch nicht arbeiten."
Am Abend des Anschlages saß sie mit einer Freundin vor dem Fernseher. Als sie von ihrem Mann von dem Anschlag in Magdeburg erfuhr, habe sie sich sofort auf den Weg in die Uniklinik gemacht.
Viel mehr Personal als geplant und erwartet
"Hier waren in kurzer Zeit fast 500 Ärzte, Anästhesisten, Schwestern, Pfleger, Therapeuten und auch Medizinstudenten zusammengekommen", sagt Christoph Lohmann, Leiter der Klinik für Orthopädie. "Es gibt für sowas sehr detaillierte Not-und Einsatzpläne und einen zentralen Sammelpunkt, wo sich jeder zu registrieren hat. Dies klappte alles wirklich reibungslos. Und das bei einem Ausnahmeeinsatz, der so nie zu simulieren wäre, und an einem Freitagabend, direkt vor Weihnachten."
Lohmann steht im OP und leitet eine Hüftprothesen-OP. Acht Medizinstudenten sind mit im Saal. Sehr realer Anschauungsunterricht. Lohmann fragt die angehenden Mediziner immer wieder spontan ab, während er operiert. Seine beiden Assistenzärzte neben ihm standen am Abend des 20. Dezember selbst stundenlang im OP.
Karoline Kretzschmann hatte eines der ersten schwerstverletzten Anschlagsopfer operiert. "Ich hatte an diesem Freitag frei, weil ich für den Samstag für einen 24-Stunden-Dienst eingeteilt war. Als ich hier um kurz vor 20 Uhr eintraf, bin ich mit einem Oberarzt sofort mit in den Operationssaal. Ich habe nie gedacht, dass ich so schnell mal in so eine Situation kommen würde."
20. Dezember in der Unklinik Magdeburg: "Ein Abend, den keiner vergessen wird"
Nicht nur in den OP-Sälen müssen alle wie auf Knopfdruck funktioniert haben, es war eine Teamleistung, betont auch Martin Lohrengel, der direkt neben Karoline Kretzschmann bei Lohmanns Hüft-OP assistiert. "Und es war sicher ein Abend, den keiner von uns hier jemals vergessen wird", meint er.
Dass es nicht noch mehr Tote und Verletzte mit größeren Folgeverletzungen gab, lag an diesem Abend auch am Notfall-Krisenstab, der schon kurz nach 19:30 Uhr einsatzbereit war. Die ersten Anschlagsopfer waren da schon eingeliefert worden. "Entscheidend war vor allem das schnelle Handeln in den sechs sofort hochgefahrenen Schockräumen, in denen nach den ersten Untersuchungen entschieden werden musste, welche Anschlagsopfer wo und wie versorgt werden müssen", erklärt Werdehausen.
"Testen lässt sich so etwas nicht"
Zum Glück habe es Verletzungsbilder gegeben, "die wir hier auch wirklich gut behandeln konnten", erinnert er sich. In diesen sechs, für solche Notsituationen vorgesehenen, Räumen wurde von einem Ärzteteam entschieden, welche Patienten als Schwerstverletze unmittelbar operiert werden mussten, wer nach einer Erstversorgung später operiert werden konnte, und wer unter Umständen auch in eine andere Klinik hätte verlegt werden können, wenn die Kapazitäten hier nicht ausgereicht hätten.
"Dieses Auswahlprozedere ist in solchen Extremsituationen für Patienten dann überlebensentscheidend, so etwas wird auch immer wieder trainiert, wir hatten kurz vor dem Anschlag erst eine solche Übung für ein Notfallszenario", sagt Werdehausen, als er im Treppenhaus schon wieder auf dem Weg auf eine andere Station ist. "Aber wirklich testen lässt sich so etwas nicht."
MDR (Michael Brandt, Moritz Arand) | Erstmals veröffentlicht am 09.01.2025
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 09. Januar 2025 | 19:00 Uhr
MDR-Team vor 1 Wochen
Hallo Fuhri,
Vielen Dank für den Kommentar und die Nachfragen. Wir versuchen regelmäßig über die vielen Neuigkeiten und Updates zum Anschlag und den Folgen zu informieren. Dies tun wir aber erst, wenn wir eine gesicherte Faktenlage haben. Dies ist in so einer Lage nicht immer ganz übersichtlich. Ihre Anregung nehmen wir aber mit in unsere Redaktionsdebatten auf.
Liebe Grüße aus der Redaktion.
Fuhri vor 1 Wochen
Eine tolle Leistung der Uniklinik. Aber warum wird seitens des MDR aus meiner Sicht alles so klein gehalten. Kein Hinweis, dass noch Viele! Verletzte in anderen Kliniken liegen und teilweise noch heute im ihr Leben kämpfen! Warum erfahren wir das nicht? Halle, Leipzig, Braunschweig. Es gibt schon jetzt bestätigte Querschnittsgelähmte. Ich fühle mich absolut von der Presse, hier der MDR, nicht informiert. Traurig genug, dass noch 1 h das Programm einfach weiterlief. Ein schwarzer Bildschirm und der Text, dass es einen Anschlag gab wären angemessen gewesen. Ich bin absolut enttäuscht von den öffentlichen Medien!
Grooha vor 2 Wochen
Vielen Dank an das Personal der Kliniken, an die Ersthelfer und Sanitäter für ihren Einsatz, sowie an die Journalisten des MDR für diesen tollen Beitrag. Genesung allen Betroffenen.