Talkrunde 77 min
Welche Schlüsse ziehen wir aus dem Anschlag von Magdeburg? Die Debatte bei FAKT IST! können Sie hier noch einmal ansehen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nach Anschlag auf Weihnachtsmarkt Das quälende Warum in Magdeburg: "Wir stellen uns dieselben Fragen"

08. Januar 2025, 23:00 Uhr

Knapp drei Wochen sind seit dem Anschlag von Magdeburg vergangen. Während in der Stadt zumindest auf den ersten Blick so etwas wie Alltag einkehrt, sind viele quälende Fragen weiter offen: Wie konnte der Täter ungestört auf den Weihnachtsmarkt fahren? Wer hätte ihn wann stoppen können? Bei FAKT IST! aus Magdeburg ging es am Mittwoch um Antworten. Nur: Bis die auf dem Tisch liegen, wird es noch dauern. Zeit also für einen Austausch.

MDR San Mitarbeiter Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Die Frage quält. Sie quält zuallererst die Angehörigen der sechs Getöteten. Sie quält die 300 Verletzten, die Augenzeugen. Eigentlich quält sie wohl so gut wie jeden in Magdeburg: Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt vom 20. Dezember – wie konnte es überhaupt soweit kommen?

Vermutlich ist es zu früh, eine Antwort darauf zu finden. Auf diese eine Frage – und alle, die mit ihr zusammenhängen.

Die Blicke richten sich auf Innenministerin Zieschang

Klar, dass sich die Blicke am Mittwochabend trotzdem zuerst zu Tamara Zieschang richten. Die CDU-Politikerin ist Innenministerin von Sachsen-Anhalt. Und sie sagt: "Wir stellen uns genau dieselben Fragen." Hat das Sicherheitskonzept der Stadt den Tatablauf also "begünstigt", wie Zieschang es formuliert? Das sei einer der Punkte, die nun im Mittelpunkt strafrechtlicher Ermittlungen stünden. Ebenso die Ermittlungen zum Täter. 70 bis 150 Polizisten ermittelten rund um die Uhr zum Beschuldigten, erklärt sie. Beim Landeskriminalamt sei eine Sonderkommission eingerichtet werden. Und klar: Das braucht Zeit.

Tamara Zieschang (CDU), Ministerin für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, während der Ältestenratssitzung des Landtages
Bildrechte: picture alliance/dpa | Klaus-Dietmar Gabbert

Wir stellen uns genau dieselben Fragen.

Tamara Zieschang, CDU Innenministerin von Sachsen-Anhalt

Die Debatte landet dann recht schnell bei der Migrationspolitik: Taleb A., der Täter von Magdeburg, stammt aus Saudi-Arabien. Seit 2006 lebt er in Deutschland. Mit unbefristetem Aufenthaltstitel, angestellt als Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das Motiv für seine Tat gibt bislang noch Rätsel auf – wenn auch ein politisches Motiv mit jedem Tag unwahrscheinlicher wird. Nicht ohne Grund hat der Generalbundesanwalt es noch vor Weihnachten abgelehnt, das Verfahren an sich zu ziehen. Bei der Schwere einer politisch motivierten Tat diesen Ausmaßes wäre das eigentlich üblich.

Klar ist nur, dass Taleb A. sehr offensichtlich kein Islamist war, sondern das glatte Gegenteil: Radikalisierungsforscher wie Hans Goldenbaum bezeichnen ihn gar als rechtsradikal und islamfeindlich.

Trotzdem: Schon in der nicht-repräsentativen Befragung, die das MDR-Meinungsbarometer MDRfragt im Vorfeld des Bürgertalks erhoben hatte, äußerten Userinnen und User immer wieder ihre Haltung, Deutschland brauche als Reaktion nun endgültig eine striktere Asyl- und Migrationspolitik. Magdeburg stehe in einer langen Kette von Angriffen und Anschlägen durch Zugereiste, meint etwa MDR-Nutzer Thomas.

Der Anschlag in Magdeburg ist nur das neueste Glied einer langen Kette von Angriffen und Anschlägen durch Zugereiste in Deutschland.

Thomas MDR-Nutzer

An dieser Stelle kommt Britta Bannenberg ins Spiel. Die Kriminologin aus Gießen sagt, die Migrationsdebatte sei bei dieser Tat völlig fehl am Platz. Die Tat von Magdeburg passe in keinen terroristischen Kontext. Taleb A. erfülle ihrer Wahrnehmung nach die Zuschreibungen eines klassischen Amoktäters: einzelgängerisch, paranoid, narzisstisch, empathielos – psychisch gestört.

Ob Taleb A. tatsächlich psychisch gestört ist, soll demnächst ein Gutachten klären. So oder so – über Menschen wie den Täter sagt Bannenberg: "Hier kommen Einzelne nicht mit ihrem Leben klar und reagieren völlig über, wenn sie sich nicht gehört fühlen. Für mich ist das kein Migrationsthema."

Sehr wohl ist es aber eines, das Menschen mit Migrationsgeschichte trifft. Den Syrer Saeed Saeed etwa. Er ist einer von vielen Menschen, die in Magdeburg seit dem Anschlag rassistisch angegriffen wurden. Menschen wie er werden in der Straßenbahn beleidigt, im Hauptbahnhof bespuckt – andere an der Haltestelle brutal zusammengeschlagen. Die Polizei hat viele dieser Fälle bestätigt, es laufen Ermittlungen. Teile des Stadtrats appellierten zuletzt, in Magdeburg dürfe kein Klima des Hasses entstehen.

Ein schreckliches Ereignis wie der Anschlag ist ein Trigger-Ereignis. Es bringt das Schlechteste und das Beste hervor.

Matthias Quent Soziologe

Der Soziologe Matthias Quent von der Hochschule Magdeburg-Stendal sagt: "Ein schreckliches Ereignis wie der Anschlag ist ein Trigger-Ereignis. Es bringt das Schlechteste und das Beste hervor." Eine ganze Reihe gesellschaftlicher Debatten werde emotionalisiert und politisch mit dem Anschlag verbunden. "Das", so Quent, "dient aber nicht mehr der Aufklärung".

Die Polizei, der Föderalismus und unterschiedliche Datentöpfe

Vielleicht kann also Dirk Peglow zur Aufklärung beitragen. Hätte diese Tat verhindert werden können? Peglow – Vorsitzender des Bunds Deutscher Kriminalbeamter – sagt: "Diese Frage kann man nicht beantworten." Dann also anders: Warum ist der Täter den Behörden durchgerutscht? "Es könnte daran liegen, dass wir ein sehr föderales Polizeisystem haben", sagt Peglow. Informationen über Täter landeten in unterschiedlichen Datentöpfen – die dann nicht bundesweit abgerufen werden könnten.

Es gebe ja schon einen Leitfaden zur Früherkennung von Amoktätern, sagt Peglow. Problem sei die Umsetzung.

Viele Fragen zum Anschlag in Magdeburg – und ein Dank

Schalte Seelsorgerin
Seelsorgerin Corinna Pagels Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Und so bleibt bei all den offenen Fragen vielleicht zuerst besonders ein Bedürfnis: das, Danke zu sagen. Menschen wie Corinna Pagels zum Beispiel. Sie engagiert sich bei der Seelsorge in Magdeburg. Ehrenamtlich. Eigentlich wäre sie am 20. Dezember in Richtung Urlaub aufgebrochen. Sie blieb in Magdeburg. Sprach mit Menschen. Versuchte, zu helfen. Heute, gut drei Wochen danach, sagt Pagels: "Wir bekommen noch immer täglich vier bis fünf Anfragen." Und das werde wohl auch noch anhalten. "Es gibt Menschen, die haben zunächst versucht, es selbst zu schaffen und das nicht hinbekommen."

Es gibt Menschen, die haben zunächst versucht, es selbst zu schaffen und das nicht hinbekommen.

Corinna Pagels Seelsorgerin

Nicht hinbekommen – weil sie Dinge gesehen haben, die sie lieber nicht gesehen hätten. Weil ihnen klar wird, welch unfassbares Glück sie gehabt haben. Tamara Zieschang, Sachsen-Anhalts Innenministerin, hat an all sie eine klare Botschaft. Zieschang sagt, den Blick in die Kamera gerichtet: "Nehmen Sie bitte psychologische Hilfe in Anspruch."

Die Wunden von Magdeburg, sie werden trotzdem bleiben. Wohl auch dann noch, wenn es endlich Antworten gibt – auf die quälende Frage nach dem Warum. Und auf all die anderen Fragen.

Hintergründe zum Anschlag von Magdeburg sehen Sie im neuen "Exactly": "3 Minuten – Der Anschlag von Magdeburg":

neutrale Person mit Trauerkerze 30 min
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Mehr zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg

MDR (Luca Deutschländer)

Dieses Thema im Programm: FAKT IST! aus Magdeburg | 08. Januar 2025 | 20:45 Uhr

176 Kommentare

Nachgedacht vor 4 Wochen

Wenn in Kommentaren unliebsame US-Politiker als Hohlköpfe oder Canalien bezeichnet werden, was ja nicht unbedingt zum Thema gehört, wird das veröffentlicht. Was wäre aber wenn wie gehabt (Schwarzkopf-Schwachkopf) Politiker der etablierten Parteien so tituliert werden würden, würde das auch veröffentlicht werden?

Nachgedacht vor 4 Wochen

Da hier ständig die AfD thematisiert wird, folgende Fakten:

"Auch diese Menschen mit Migrationshintergrund gehören zu Deutschland. Sie gehören auch zu unserer Partei. Wir können nur gemeinsam Wahlen gewinnen."

Tino Chrupalla, AfD-Vorsitzender

Der AfD geht es um kriminelle Migranten oder welche die Deutschland nur ausnutzen wollen und damit die Sozialkassen belasten, die sie in ihre Heimatländer zurückführen möchte.

Viele hier intigrierte Migranten lehnen, die verfehlte Migrationspolitik der etablierten Parteien ab, weil sie davon selber betroffen sind. Wie z.B. bei dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, wo auch Menschen mit Migrationshintergrund verletzt wurden. Es gibt mittlerweile einen AfD nahen Verein,
"Mit Migrationshintergrund für Deutschland".

Leipzscher vor 4 Wochen

Die Milchmädchenrechnung machen Sie, weil Sie JUNGE Leute aus dem islamisch geprägten Teil (theoretisch) rausschmeißen, die gerade ALTEN aus dem jüdisch-christlich-abendländischen Teil im Pflegeheim den Arsch abputzen.

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