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Corona- und Ukraine-PolitikFast 3.000 Demos in Sachsen-Anhalt – Forscher sieht "keine Sammelbewegung"

23. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Corona, Ukraine-Krieg und steigende Energiepreise: Diese drei Themen haben das Jahr 2022 geprägt – und in Sachsen-Anhalt vor allem montags zu insgesamt knapp 3.000 Demonstrationen geführt. Ein Politikpsychologe erklärt, weshalb es sich seiner Ansicht nach nicht um eine Sammelbewegung handelt – und weshalb der "heiße Herbst" weniger heiß ausgefallen ist, als von vielen vorausgesagt.

In Sachsen-Anhalt hat es in diesem Jahr fast 3.000 Demonstrationen gegen die Corona-Politik und gegen die Politik im Zuge des russischen Krieges gegen die Ukraine gegeben. Das zeigt eine Datenauswertung von MDR SACHSEN-ANHALT, die auf Zahlen des Innenministeriums beruht. Demnach gab es vor allem zu Beginn des Jahres jede Woche landesweit mindestens 80 Demonstrationen. Hintergrund waren hier vor allem die Corona-Maßnahmen und der Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine.

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Magdeburg mit den meisten Demonstrationen

Mit Lockerung der Corona-Verordnungen ging die Zahl der Demonstrationen im Frühjahr und Sommer in Sachsen-Anhalt stark zurück. Mit den kletternden Energiepreisen stieg auch die Zahl der Demonstrationen ab Herbst wieder deutlich an, sodass wöchentlich wieder zwischen 50 und 70 Demonstrationen gezählt wurden.

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Die meisten Demonstrationen gab es im zu Ende gehenden Jahr in Magdeburg. Hier verzeichnete die Polizei fast 160 entsprechende Versammlungen. Es folgten Halle mit rund 140 Demonstrationen, Naumburg (93), Halberstadt (66) und Blankenburg (56). Der Norden war dagegen kein Schwerpunkt für Proteste.

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2.700 Teilnehmer bei "Reformation 2.0" in Wittenberg

Die größte Demonstration fand nach Angaben des Innenministeriums zum Reformationstag in Wittenberg statt. Hier kamen den Angaben zufolge 2.700 Menschen zur "Reformation 2.0" zusammen. Weitere große Demonstrationen gab es vor allem zu Beginn des Herbstes in Magdeburg mit jeweils mehr als 2.000 Teilnehmern.

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Politikpsychologe: "Sammelsurium, keine Sammelbewegung"

Für Thomas Kliche, Politikpsychologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal, war das Jahr 2022 angesichts der Vielzahl der Demonstrationen ein durchaus besonderes. "Da waren bestimmte Gruppen unglaublich fleißig", sagte der Professor im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. In fast allen größeren Städten habe es mindestens ein oder zwei Demos pro Woche gegeben. "Das ist schon erstaunlich für ein eher ländliches Land mit einer eher konservativen Bevölkerung."

Der Politologe Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal Bildrechte: imago/Future Image

Dennoch seien es vor allem punktuelle Anstrengungen gewesen – eine größere Bewegung habe sich nicht entwickelt, erklärte Kliche. So sei die Anzahl der Demonstrationen zwar hoch, es handele sich mit Blick auf die Teilnehmerzahlen insgesamt aber um einen eher geringen Teil der Wählerschaft. "Das ist ein Sammelsurium, aber keine Sammelbewegung."

Kliche: Demos ohne inhaltliche Alternativen

Dem Politikpsychologen zufolge handelt es sich bei den Demonstrierenden gegen die Corona-Politik und gegen die Ukraine- und Energie-Politik zu großen Teilen um dieselben Menschen. Seit fünf Jahren bilde sich ein "harter Kern populistischer Abwendung" von Politik und Gesellschaft heraus, sagte Kliche. "Dieser harte Kern ist gegen so ungefähr alles, was gerade passiert." In allem, was passiert, sehe man die böse Hand von verdeckten Leuten, die "irgendwelche verdeckten Politiken machen und die Mehrheiten manipulieren, einschließlich der Medien".

Da sind Leute, die stehen im Kalten und stänkern, und sind unzufrieden.

Thomas Kliche | Politikpsychologe Hochschule Magdeburg-Stendal

Es fehle allerdings ein Hauptanliegen, das aussichtsreich wäre, und es fehlten inhaltliche Alternativen, die von den Demonstrierenden aufgezeigt würden. "Da sind Leute, die stehen im Kalten und stänkern, und sind unzufrieden", sagte Kliche.

Einen mancherorts prognostizierten "heißen Herbst" hat es indes eher nicht gegeben. "Wir können daraus lernen, dass die Ankündigung von einem Ereignis eigentlich noch keine Nachricht sein sollte", erklärt der Politikpsychologe. Es gebe Faktoren, die die Bereitschaft für Demonstrationen im populistischen Spektrum Kliche zufolge erschwert hätten. So eigne sich der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nur bedingt, um politische Sympathien aufzubauen. "Das ist ein so erkennbar illegitimer, unmenschlicher und auch politisch dummer Akt gewesen, dass man ihn schwer rechtfertigen kann", sagte der Professor der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Vorwürfe zu rechter Unterwanderung "naiv"

Dass die Demonstrationen vor allem im Zentrum und im Süden Sachsen-Anhalts stattgefunden haben, liege in erster Linie an der Lage der großen Städte. "Die Großstädte sind natürlich attraktiver", erklärte Kliche. Hier sei die Presse, mehr Publikum sowie Institutionen, vor die man sich stellen könne. Und dort gebe es auch schlicht mehr Leute, "um die Demo nicht allzu peinlich aussehen zu lassen". Der Norden des Landes sei ländlicher und kleinstädtischer geprägt. "Da sind einfach keine großen Mengen von Demonstranten zusammenzukriegen."

Wer zu solchen Demos geht, sollte sich überlegen, ob seine Positionen noch sehr demokratisch sind.

Thomas Kliche | Politikpsychologe Hochschule Magdeburg-Stendal

Den Vorwurf, dass sich viele Demonstrierende von Rechtsextremen vereinnahmen lassen, bezeichnete Kliche als naiv. "Wer zu solchen Demos geht, sollte sich überlegen, ob seine Positionen irgendwie noch sehr demokratisch sind." Viele täten so, als würde ihre Meinung missbraucht – tatsächlich seien sie aber heimlich oder gar nicht so heimlich Rechtsextreme. Kliche verwies darauf, dass zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung für mehr oder weniger rechtsextreme Positionen zu gewinnen seien.

Protest kann sich 2023 noch einmal verschärfen

Für das Jahr 2023 schließt Kliche nicht aus, dass sich die Proteste noch einmal intensivieren könnten. "In den nächsten Jahren müssen wir ohnehin mit verschärften politischen Auseinandersetzungen rechnen, weil unsere Grundprobleme nicht entschieden sind", sagte der Professor. Es gehe darum, dass sich die Art, wie wir leben, grundsätzlich ändern müsse – vor allem in Umweltfragen.

Einem Teil der Gesellschaft werde das langsam klar. Andere machten einfach weiter wie bisher oder wollten nur beschwichtigt werden. "Und dann gibt es welche, die jede Art von Veränderung mit Aggression beantworten." Genau dieser Bruch müsse gesellschaftlich ausgehandelt werden, sagte Kliche. "Das wird eine Mehrheitsentscheidung werden und die Frage ist, wann sie kommt und wie viele Umweltkatastrophen wir vorher noch erleben müssen."

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MDR (Simon Kremer, Felix Fahnert, Manuel Mohr)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 23. Dezember 2022 | 07:00 Uhr

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