Schauspielhaus Magdeburg "Kleinstadtnovelle" von Ronald M. Schernikau über queeres Erwachsenwerden
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06. Oktober 2024, 11:59 Uhr
Das Schauspielhaus Magdeburg zeigt das Coming of Age-Stück "Kleinstadtnovelle" von Ronald M. Schernikau. Der Autor war Schriftsteller, schwul und Kommunist. 1960 in Magdeburg geboren, starb er 1991 an den Folgen von AIDS. Schernikau verweigerte sich den herkömmlichen Rollen- und Geschlechterzuordnungen, heute würde man ihn sicher queer nennen. Eine Besprechung der Aufführung von MDR KULTUR.
- Ronald M. Schernikaus 1980 erschienene "Kleinstadtnovelle" ist für MDR KULTUR-Kritiker Matthias Schmidt ein Meilenstein der "Coming of Age"-Literatur.
- Bei der Umsetzung als Theaterstück in Magdeburg wird Schernikau auch als Vorkämpfer der Queerness gezeigt.
- Bei der spielfreudigen Inszenierung erklingt viel Schlagermusik und auch ein gehäkelter Penis sorgt für Lacher.
Nein, es geht in dem Stück nicht um Magdeburg. Es geht um Lehrte bei Hannover, da wuchs Ronald M. Schernikau auf, seine Mutter hatte mit ihm 1966 die DDR verlassen. Zur Premiere war sie angereist, was für sie, das Inszenierungsteam und auch das Publikum bewegend war.
Meilenstein der "Coming of Age"-Literatur
Schernikaus "Kleinstadtnovelle" beschreibt sein Leben als Gymnasiast, der sich als schwul geoutet hat, der in so ziemlich allen Fragen anders denkt als seine Lehrer und auch seine Mitschüler. Dieses schmale Buch hat ziemlich eingeschlagen, als es 1980 erschien.
Es gilt bis heute als "Meilenstein der homosexuellen Literatur", heißt es im Programmheft. Mir wäre lieber, man würde es einen Meilenstein der "Coming of Age"-Literatur nennen, weil Schernikaus Stil und Sprache so besonders und einzigartig sind.
Vorkämpfer der Queerness
Regisseur Florian Fischer interessiert sich allerdings weniger für den Dichter Schernikau als viel mehr für den Vorkämpfer dessen, was man heute Queerness nennt. Was in der kleinen Spielstätte in einer Stunde und 20 Minuten zu erleben war, basierte zwar auf Schernikaus Buch, setzt aber eigene Schwerpunkte. Seine Sprache gehört nicht dazu, leider, wie ich finde.
Es ging wohl eher darum, mit ihm als Protagonisten einer fast 45 Jahre alten Geschichte die Frage zu stellen, inwiefern sein Anderssein und seine Kämpfe heute noch gültig sind bzw. noch nötig sind.
"Ich habe Angst, bin weiblich, bin männlich, doppelt", so fängt das Buch an, und dieses Thema ist ja allgegenwärtig, bis hin zum neuen Selbstbestimmungsgesetz.
Das Spannende an diesem Abend ist, dass darauf jeder eine eigene Antwort finden kann. Mit ein bisschen Abstand zum Thema könnte man sagen, nicht so sehr – die Situation hat sich seit den 80er-Jahren wesentlich verbessert. Viele, die es betrifft, werden garantiert sagen, das Thema sei wichtig wie eh und je, die Rechte von queeren Menschen bedroht und so ein Stück daher wichtig. Die Inszenierung bietet beiden Sichtweisen Futter.
Ich habe Angst, bin weiblich, bin männlich, doppelt.
Revue-Elemente mit Gesang und Kostümwechseln
Die Zuschauer sitzen an Tischen im Halbkreis, wie in einem kleinen Revuetheater. Auf der Bühne steht ein riesiges Bett, in dem "b." (so nennt Schernikau den Erzähler) und ein Mitschüler namens Leif auch sehr schnell landen.
Gespielt wird beinahe revueartig: gleich zu Beginn singt "b." einen Song, der sein Anderssein thematisiert, auch den kurzen Abend hindurch wird immer wieder gesungen. Das Publikum wird angespielt, sogar ein bisschen einbezogen. Es gibt viele Kostümwechsel – also, man unternimmt viel, um zu überspielen, dass es eigentlich ein Prosatext ist, der hier aufgeführt wird.
Provokation ist nicht mehr nötig
Der Schwerpunkt liegt schnell auf dem Verhältnis der beiden jungen Männer, die eine Affäre haben, die Sex miteinander haben, und alles, was im Buch noch passiert, das "Strafgericht" an der Schule, bei dem es darum geht, ob "b." wegen der "Verführung" Leifs von der Schule fliegen soll, kommt nur kurz oder gar nicht vor. Sicher auch, weil das heute nicht mehr so wäre und man nicht historisch, sondern heutig inszenieren wollte.
Im Magdeburger Theater provoziert das sicher niemanden, das Haus hat ja mit einer großartigen "Blutbuch"-Inszenierung nach Kim de l‘Horizon auch Zulauf aus der queeren Szene, aber sicher ist gesellschaftlich noch Luft nach oben. Insofern wirkt, was auf der Bühne stattfindet, meistenteils nicht angriffslustig, sondern eher spielfreudig und gutgelaunt.
Liebe zum Schlager und gehäkelter Penis
Lorenz Krieger und Nora Buzalka spielen den "b.", Anton Andreew den Leif, und es macht große Freude, diesen drei Schauspielern zuzuschauen. Mir hat sich nicht alles erschlossen, was sie tun, aber es schaut sich gut an.
Sie führen eine musikalische Modenschau auf, sie singen und hören Schlager, in denen es um Glück und Selbstverwirklichung geht (Schernikau liebte Schlager und hat diesem Thema einen Aufsatz gewidmet). Sie machen ein heiteres Song-Raten, Nebel wabert.
Die Kostüme sind teilweise sehr originell: Buzalka trägt einmal einen gehäkelten Penis außen über dem Slip, was für ordentlich Lacher sorgt. Ein Höhepunkt ist ihr Wutausbruch, der die klischeehafte männliche Triebhaftigkeit und Primitivheit parodiert. Sensationell gespielt.
Für Kenner und Neulinge geeignet
Einerseits ist es ein bunter Abend, bunter, als es das Thema vermuten ließe. Das Problem ist schließlich schnell verstanden: "b." ist schwul, anders, wird ausgegrenzt, will sich befreien, sich selbst verwirklichen.
Andererseits ist die Inszenierung aber auch überhaupt nicht rund, denn aus der "Kleinstadtnovelle" fehlt sehr viel, und die Texte, die am Ende aus anderen Werken Schernikaus hinzugefügt werden, zum Beispiel aus seinem erst postum erschienenen Riesenwerk "legende" (Schernikau schrieb alles klein), wirken relativ beliebig. Da bleiben viele Zusammenhänge ungeklärt. Aber als Hommage für die Kenner und Annäherung an Schernikau für Neulinge ist der Abend durchaus gelungen.
Quelle: MDR KULTUR (Matthias Schmidt), Schauspielhaus Magdeburg
Redaktionelle Bearbeitung: op
Mehr zu der Aufführung
Kleinstadtnovelle
von Ronald M. Schernikau
Ab 14 Jahren
Regie: Florian Fischer
Bühne: Sina Manthey
Kostüme: Cornelius Reitmayr
Mit:
Anton Andreew
Nora Buzalka
Lorenz Krieger
Wo:
Schauspielhaus Magdeburg, Kammer 2
Otto-von-Guericke-Str. 64, 39104 Magdeburg
Aufführungen:
05.10.2024, 19:30 Uhr (Premiere)
12.10.2024, 19:30 Uhr
27.10.2024, 19:30 Uhr
06.11.2024, 19:30 Uhr
29.11.2024, 19:30 Uhr
13.12.2024, 19:30 Uhr
20.12.2024, 19:30 Uhr
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 06. Oktober 2024 | 09:40 Uhr