Chronik Kurz und kompakt: Ergebnisse der Verhandlungstage im Halle-Prozess
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Der Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 gehört zu den schwersten antisemitischen Straftaten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dies aufzuarbeiten – die Motivation des Täters, die Sicht der Opfer, die politisch-gesellschaftliche Dimension – war das Ziel des Verfahrens des 1. Strafsenats am Oberlandesgericht Naumburg. Die Verhandlung fand aus Platzgründen im Gebäude des Landgerichts Magdeburg statt. 26 Verhandlungstage wurden benötigt. Hier die Ergebnisse im Überblick.
26. Prozesstag | 21. Dezember | Höchststrafe für Halle-Attentäter
Der Attentäter von Halle, Stephan B., wird zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Mit dem Urteil spricht die Richterin des Oberlandesgerichts Naumburg die höchste mögliche Strafe aus. Damit geht das Verfahren nach genau fünf Monaten und 26 Prozesstagen zu Ende.
25. Prozesstag | 9. Dezember | Verteidigung plädiert auf "vermindert schuldfähig"
Am 25. Prozesstag äußert der Pflichtverteidiger letzte Worte und fordert ein gerechtes Urteil für seinen Mandanten, der als "vermindert schuldfähig" einzustufen sei. Der Angeklagte bleibt von der Richtigkeit seiner Tat überzeugt. Außerdem leugnet er noch einmal den Holocaust.
24. Prozesstag | 8. Dezember | Weitere Plädoyers der Nebenkläger
Am 24. Verhandlungstag richten die Nebenkläger in ihren Schlussplädoyers klare Worte an den Angeklagten. Auch einige Überlebende nutzen die letzte Gelegenheit zu sprechen.
23. Prozesstag | 2. Dezember | Weitere Plädoyers der Nebenkläger
Es werden weitere Plädoyers gehört. Eine Anwältin der Nebenklage kritisiert, dass die Familie des Angeklagten geschwiegen und weggesehen habe. Die Eltern trügen eine große moralische Verantwortung. Insgesamt gibt es im Prozess 43 Nebenkläger, die von 21 Anwälten vertreten werden. Genau wie die Bundesanwaltschaft fordert die Nebenklage für den Mann lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung.
22. Prozesstag | 1. Dezember | Schlussplädoyers der Nebenkläger
Die Nebenkläger halten ihre Schlussplädoyers. Zum ersten mal seit vier Monaten ist die Mutter des ermordeten Kevin S. im Gerichtssaal anwesend. Ihr Rechtsanwalt bittet das Gericht darum, dass der Attentäter sein Leben lang im Gefängnis bleibt. Auch die rassistische Motivation der Tat ist Thema.
21. Prozesstag | 18. November | Gericht schließt Beweisaufnahme
Am 21. Verhandlungstag schließt die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens die Beweisaufnahme. Zuvor sagt der Extremismus-Forscher Matthias Quent als Sachverständiger aus. Sein Fazit: Der Anschlag von Halle muss in einer Reihe mit den Attentaten von Utøya und Christchurch gesehen werden.
20. Prozesstag | 17. November | Gericht lehnt Aussetzungs-Antrag ab
Die Richter lehnen den Antrag der Verteidigung ab, das Verfahren auszusetzen oder für mehrere Wochen zu unterbrechen. Damit kann der Prozess wie geplant weitergehen. In dieser Woche soll die Beweisaufnahme abgeschlossen werden.
Anschließend wird der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) als Sachverständiger vernommen. Dieser kritisiert vor allem den mangelnden Schutz der halleschen Synagoge. Auch der psychiatrischen Gutachter kommt erneut zu Wort.
19. Prozesstag | 04. November | Verteidigung will Prozess unterbrechen
Am 19. Prozesstag geht es vor allem um die Online-Aktivitäten des Angeklagten. Eine Expertin hatte die Reaktionen in rechtsextremen Internetforen direkt nach der Tat gesichert und untersucht. Demnach hatte er für seine Tat vor allem Spott kassiert.
Außerdem wurden Anträge gestellt, die Anklageschrift um einen versuchten Mord zu erweitern. Die Verteidigung hatte daraufhin beantragt, das Verfahren auszusetzen. Staatsanwaltschaft und Nebenkläger können jetzt bis zum 16. November Stellung dazu nehmen. Wird dem sogenannten Aussetzungs-Antrag stattgegeben, müsste der Prozess von vorn beginnen.
18. Prozesstag | 03. November | Die Schuldfähigkeit des Angeklagten
Medizinische Gutachter stellen die Ergebnisse ihrer Tests und Gespräche mit dem Angeklagten vor. Dabei stellen sie fest, dass er zwar er Züge einer autistischen Störung aufweise, eine Bewusstseinsstörung sei aber eine Einschränkung der Schuldfähigkeit sei nicht anzunehmen.
17. Prozesstag | 14. Oktober | Das Verhalten des Angeklagten
Mitarbeitende der Justizvollzugsanstalten und Beamtinnen und Beamte des Bundeskriminalamtes sagen zu Verhalten und Psyche des Attentäters aus und dazu, wie er die Tat plante. Ein Psychologe bescheinigte dem Angeklagten dabei eine eingeschränkte Beziehungsfähigkeit.
Laut einer BKA-Beamtin hat der Angeklagte während der Tat Musik mit verschwörungstheoretischen und rassistischen Inhalten gehört. Im Gefängnis sei er nicht auffällig gewesen.
16. Prozesstag | 13. Oktober | Aussagen zur Festnahme
Gutachter der Rechtsmedizin und der Ballistik schätzen ein, wie gefährlich die selbstgebauten Waffen des Angeklagten tatsächlich waren. Es wurde geklärt, ob er die Opfer in Wiedersdorf und drei Polizisten in Halle hätte töten können.
Außerdem berichten Polizisten, wie es zur Festnahme des Angeklagten kam und begründen ihre Annahme, dass er ein Einzeltäter sei.
15. Prozesstag | 23. September | Geschehnisse in Wiedersdorf
Eine Frau aus Wiedersdorf, Dagmar M., die der Angeklagte in die Hüfte geschossen hat, berichtet, dass er "wie in Mamasöhnchen" gejammert habe, als er von ihr einen Autoschlüssel fordert. Als sie die Polizei gerufen habe, weil sie und ihr Mann schwer verletzt waren, sei ihr zunächst nicht geglaubt worden. Sie kritisiert, dass der Tatort Wiedersdorf vergessen worden sei. Erst nachträglich seien die Betroffenen aus Wiedersdorf etwa zur Gedenkfeier am 9. Oktober 2020 eingeladen worden.
Ein Taxifahrer, Daniel W., schildert, wie der Angeklagte mit vorgehaltener Waffe den Schlüssel zu seinem Taxi gefordert habe. Daniel W. berichtet, wie er das Taxi über sein Funkgerät, das noch im Wagen lag, geortet habe und dem Angeklagten nachgefahren sei. Auf der Autobahn informierte er eine Polizeikontrolle. Er habe das Taxi anschließend über den Autohersteller orten lassen und der Polizei den Standort mitgeteilt. Die Polizei habe sich seither nicht noch einmal gemeldet, um ihm zu danken.
14. Prozesstag | 22. September | Zeugen schildern Erlebtes und die Folgen
Ein junger Mann schildert, wie er den Anschlag auf den Döner-Imbiss erlebt hat. Der 29-Jährige sei in eine kleine Mitarbeiter-Toilette geflohen und habe dort Todesängste ausgestanden. Er wurde schließlich von der Polizei befreit. Laut einem medizinischen Gutachten leidet er seit dem Anschlag unter schweren psychischen Störungen.
Ein Somalier sagt aus, dass er gemeinsam mit einem Freund aus einer Straßenbahn gestiegen sei, als er von dem Attentäter angefahren wurde. Er habe Verletzungen an Knie und Arm erlitten. Auch bei ihm hat das Erlebte Spuren hinterlassen.
13. Prozesstag | 16. September | Polizisten berichten vom Einsatz
Da entgegen ihrer Anordnung appplaudiert wurde, droht die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens bei künftigen Verstößen mit Ordnungsgeldern. Mehrere Anwälte und Nebenkläger zeigen ihre Zustimmung fortan mit Aufstehen.
Zwei weitere Zeuginnen, die während der Tat in der Synagoge waren, sagen aus. Beide erklären unter anderem, dass Radikalisierung vernetzt im Internet stattfinde.
Vier Polizisten, die am Tattag im Einsatz waren, sagen ebenfalls aus – dazu wird eine Videosequenz gespielt, die den Schusswechsel mit dem Angeklagten zeigt. Sie erklären detailliert, wie sie den Einsatz erlebt haben. Einer der Beamten hat bis heute mit dem Geschehenen zu kämpfen.
12. Prozesstag | 15. September | Vater des Opfers sagt unter Tränen aus
Der Vater des im Döner-Imbiss getöteten 20-jährigen Kevin sagt aus. Er schildert unter Tränen, wie sein Sohn zuerst stundenlang nicht mehr ans Telefon ging und er ihn dann am Abend auf Videobildern erkannt hat. Die Verhandlung muss vorübergehend unterbrochen werden.
Eine 60 Jahre alte US-Amerikanerin, eine frühere Radiojournalistin, warnt in ihrer Aussage vor der unterschätzten Gefahr von global vernetzten Rassisten. Ezra W., ebenfalls ein Zeuge aus der Synagoge, spricht rückblickend von einer Nahtoderfahrung. Am Nachmittag sagen auch die beiden Besitzer des attackierten Döner-Imbisses aus.
11. Prozesstag | 9. September | Zeugen schildern ihre Flucht
Zeugen des Angriffs auf den Döner-Imbiss im Paulus-Viertel Halle, bei dem ein junger Mann getötet wurde, sagen aus. Eine 78 Jahre alte Frau schildert, wie sie von zentimeterlangen Nägeln des selbstgebauten Sprengsatzes getroffen wurde, den der Täter vor dem Imbiss gezündet hatte. Ein 74 Jahre alter Professor erklärt, er habe an dem Gesicht des Attentäters dessen wilde Entschlossenheit erkannt. Außerdem schildern er und ein weiterer früherer Professor ihre Flucht über ein Fenster in den Innenhof. Ein Teil davon ist auf einem weiteren Video von der Tat zu sehen, das das Gericht zeigt.
10. Prozesstag | 8. September | Zweifel an Unwissenheit der Eltern
Eine 30 Jahre alte Rabbinerin berichtet, wie die Tat das familiäre Trauma des Holocausts reaktiviert habe. Die Shoa sei zwar vorbei, die Folgen aber nicht.
Der Chef der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, fordert das Gericht auf, die Rolle der Eltern des Angeklagten genauer zu untersuchen. Er glaube nicht daran, dass sie – obwohl der spätere Täter jahrelang bei ihnen und auf ihre Kosten wohnte – nichts von seinen Plänen mitbekommen haben wollen.
9. Prozesstag | 2. September | Überlebende erklären psychisches Leid
Zahlreiche Überlebende des Halle-Attentats berichten von schweren psychischen Folgen des Anschlags, die ihnen noch immer zu schaffen machen. Erneut wird der Umgang der Polizei mit den Opfern beklagt: Beamte hätten unsensibel gehandelt und kein Verständnis für die religiösen Bräuche gezeigt.
8. Prozesstag | 1. September | Kritik am Umgang mit Gemeinde
Eine 32-jährige Überlebende spricht vor Gericht ein jüdisches Gebet und gibt ein selbstbewusstes Statement gegen den Angeklagten ab, was Besucher und Nebenkläger mit Applaus quittieren.
Ein Rabbi, der während des Anschlags in der Synagoge war, kritisiert später das Verhalten der Polizei. Nach seinem Eindruck wurden die Gemeinde-Mitglieder eher wie Verdächtige behandelt, denn als Opfer. Die Synagogen-Besucher hätten nach dem Anschlag ungeschützt im Blickfeld von Reportern und Fotografen gestanden.
7. Prozesstag | 26. August | Zweifel an digitaler Kompetenz der Ermittler
Eine frühere Kollegin der Mutter, die Direktorin der Schule, sagt aus. Demnach hatte sich die Mutter große Sorgen um ihren Sohn gemacht. Die rechtsextremistische Gesinnung des Sohnes sei damals deutlich geworden.
Außerdem werden Internet-, Computer- und Gaming-Experten des BKA befragt. Ihren Erkenntnissen zufolge hatte der Attentäter auf seinem PC zahlreiche Gewalt-Videos, sowie rassistische Bilder und Nazi-Comics gespeichert. Andere Fragen bleiben unbeantwortet, was die Anwälte der Nebenklage kritisieren. Internetforen, in denen sich der Angeklagte aufgehalten hatte, seien nicht langfristig überwacht worden. Mögliche Kontakte zu anderen Autoren seien deshalb nicht nachvollziehbar. Die Gaming-Expertin räumt ein, die Spiele, die der Angeklagte online gespielt hat, nie selbst gespielt zu haben.
6. Prozesstag | 25. August | Gutachter: Viele Waffen, viele Mängel
LKA-Beamte erläutern ausführlich ihre Erkenntnisse zu den Waffen des Attentäters. Das Arsenal füllt zwei Tische im Gerichtssaal – darunter befinden sich auch Waffen aus dem 3D-Drucker, die allerdings mangelhaft sind. Die potenzielle Wirkung der selbstgebauten Splittergranaten hätten den Experten zufolge im Umkreis von mehr als 150 Metern tödliche Verletzungen verursachen können. Als eher ungefährlich beurteilen sie hingegen die Molotowcocktails des Angeklagten, deren Flüssigkeit kaum entflammbar war.
5. Prozesstag | 3. August | Verlängerung und Sommerpause
Das Gericht kommt nur für etwas mehr als eine Stunde zusammen. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens verliest ein BKA-Gutachten zu den drei selbstgebauten Waffen des Attentäters, die demnach alle potenziell tödlich waren. Außerdem wird die Verlängerung des Prozesses vorbereitet. Es folgen drei Wochen Sommerpause.
4. Prozesstag | 29. Juli | Die Familie schweigt
Mutter, Vater und Halbschwester des Angeklagten machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Dafür lässt sich der Ex-Partner der Halbschwester befragen. Er berichtet von einigen Vorfällen, die auf die rechtsextreme Einstellung des Beschuldigten hindeuten. Zwei Lehrerinnen aus der Grundschulzeit berichten, der Angeklagte sei früher schon ein Außenseiter gewesen, allerdings außergewöhnlich klug und eloquent für sein Alter.
3. Prozesstag | 28. Juli | Nebenkläger glauben nicht an Einzeltäter
Der US-Amerikaner Ezra Waxman, der am Tattag in der Synagoge war, fragt den Angeklagten, wie die Vorurteile, die dieser über Juden hat, auf ihn selbst zuträfen. Er entgegnet, es handle sich eher um generelle, gesellschaftliche Eigenschaften von Juden. Außerdem gibt er zu, er hätte die Tat wohl nicht umgesetzt, wenn er Kinder oder eine Freundin gehabt hätte.
Mehrere Anwälte der Nebenklage äußern Zweifel an der Darstellung, der Angeklagte habe sich ohne Wissen seines Umfelds radikalisiert. Ehemalige Mitschüler, Bekannte und die Schwester werden zitiert, wie sie dem Täter rassistische Äußerungen zuschreiben.
Das Gericht verliest außerdem einen Brief, den die Mutter des Angeklagten vor einem Selbstmordversuch an ihre Tochter geschrieben haben soll. Darin gibt sie der Gesellschaft und dem Staat die Schuld an der Tat ihres Sohnes und äußert ähnliche antisemitische Verschwörungserzählungen, wie ihr Sohn vor Gericht.
2. Prozesstag | 22. Juli | Das Tatvideo schockt – außer den Täter
Die Angehörigen des Attentäters erklären zum Beginn des Prozesstages schriftlich, nicht aussagen zu wollen. Danach wird das gut halbstündige Video der Tat, das der Attentäter beim Anschlag live ins Internet gestreamt hatte, vorgespielt. Einige Nebenkläger, Verletzte und Hinterbliebene verlassen den Raum, andere halten sich die Augen zu oder schauen weg. Der Angeklagte lächelt zunächst.
1. Prozesstag | 21. Juli | Gerichtssaal als Bühne
Neun Monate nach dem Terroranschlag von Halle beginnt mit großem medialen Interesse der Prozess gegen den Attentäter – mit rund zwei Stunden Verspätung, wegen Verzögerungen beim Einlass. Der Angeklagte nutzt seine Befragung für ein Geständnis und die ausgiebige Darstellung seiner Weltanschauung. Jede Verbindung zu möglichen Helfern oder Netzwerken streitet er ab. Reue lässt er nicht erkennen. Er bedauert aber die tödlichen Schüsse auf Passantin Jana L. als "Kurzschlussreaktion". Sich selbst bezeichnet er als Versager, weil sein Plan nicht aufging.
Quelle: MDR/ap
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 21. Dezember 2020 | 11:30 Uhr