Halle-Attentat – Reportage zum achtzehnten Prozesstag Nicht nach seinem Geschmack

03. November 2020, 19:30 Uhr

Am 18. Verhandlungstag wurde das psychologische Gutachten vorgestellt. Es bestätigt den Eindruck, den der Angeklagte im Saal bisher vermittelt hat. Ein durchschnittlich intelligenter, sozial isolierter junger Mann. Unbeholfen im Zwischenmenschlichen, aber nicht psychisch krank.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Ein Angeklagter sitzt neben seinem Verteidiger Hans-Dieter Weber im Landgericht.
Der Angeklagte (rechts) und sein Verteidiger Hans-Dieter Weber: Die Nicht-Akzeptanz seines psychologischen Gutachtens könnte die Pläne der Verteidigung durchkreuzen. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Hendrik Schmidt, Grafik MDR/Max Schörm

Krank und verrückt – mit diesen Adjektiven wurde der Angeklagte mehrfach in Kommentaren unter der Berichterstattung beschrieben. Und mehrfach haben wir und andere Kolleg:innen darauf hingewiesen, dass es für eine psychische Erkrankung keine Anzeichen gibt, und eine solche auch noch niemanden zum Attentäter macht. Vor allem aber, dass es sich viele mit dem Stempel "verrückt" viel zu einfach machen. Bereits Monate vor Prozessbeginn sickerte durch, dass der Attentäter von Halle laut Gutachten schuldfähig ist. Etwas, was erheblich für den kommenden Urteilsspruch und die damit verbundene Strafe ist. Aber von vorn.

FFP2-Masken für alle

Vier Zeuginnen und Zeugen standen auf der heutigen Tagesordnung, darunter ein weiterer Nebenkläger der jüdischen Gemeinde. Groß ankündigt war aber vor allem einer: der forensische Psychiater Norbert Leygraf. Er sollte die Ergebnisse seines psychologischen Gutachtens vorstellen. Zu Beginn sprach aber zunächst nicht er, sondern die Richterin. Ausführlich schilderte sie die neuste sitzungspolizeiliche Anordnung und warum wir alle, Journalistinnen und Journalisten, Zuschauende, die Nebenklage und sämtliche weitere Verfahrensbeteiligte am Eingang FFP2-Masken ausgehändigt bekommen haben. Seit Beginn wird der Prozess unter Pandemiebedingungen geführt. 

Desinfektionsmittel und ein Mund-Nasenschutz waren für alle auf den Plätzen der Öffentlichkeit Standard. Doch die jüngsten Einschränkungen haben natürlich auch Auswirkungen darauf. Jeder im Saal muss jetzt eine FFP2-Maske tragen - bis auf die Richter und Richterin. Nebenklage und Verteidigung dürfen sie nur abnehmen, wenn sie beispielsweise Nachfragen haben. Und ja, eigentlich auch der Angeklagte. Doch heute geht es um seine Psyche. Er soll die Maske abnehmen, damit seine Mimik zu erkennen ist. Wie reagiert er auf das, was die Sachverständigen über ihn sagen? Nun: not amused. 

Ein durchschnittlicher IQ

Nach der Vorstellung eines Gutachtens zur körperlichen Verfassung des Angeklagten und einer weiteren Aussage eines Zeugens aus der halleschen Synagoge, tritt zunächst die Psychologin Lisa John in den Zeugenstand. Sie hatte zur Ergänzung des psychologischen Gutachtens einen Intelligenz- und mehrere Persönlichkeitstests mit dem Angeklagten durchgeführt. Noch bevor sie ihre Ergebnisse präsentiert, fallen der Angeklagte und sein Pflichtverteidiger Hans-Dieter Weber durch tuscheln auf. Auf Nachfrage der Richterin erklärt Weber laut: "Mein Mandant zieht das Gutachten insgesamt in Zweifel. Es geht darum, ob Fragen währenddessen oder im Anschluss gestellt werden können." Sie können - aber erst im Nachhinein. 

Die Psychologin erklärt daraufhin detailliert die Verfahren, die sie angewandt hatte, darunter den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene und das Freiburger Persönlichkeitsinventar. Ihr Ergebnis: Der Angeklagte ist intelligent, mit einem IQ von 105 aber auch nur Durchschnitt. Eine misstrauische, selbstbezogene und introvertierte Person, verschlossen und auf einen guten Eindruck bedacht. Jemand, der seine eigenen Lebensgrundsätze und Moralvorstellungen als hoch und denen anderer als überlegen bewertet.

Die Testfragen habe der Angeklagte zügig beantwortet. Immer wieder habe er Anspielungen zu seiner Tat gemacht. "Er schien bemüht, dass ich auf die Anspielungen eingehe", sagt die Psychologin aus. Auf alles andere habe er dagegen kurz und knapp geantwortet, teils "läppische Antworten" gegeben. Auch habe er sich oft über Testfragen amüsiert, ließ immer wieder sein antisemitisches und rassistisches Weltbild durchblicken. So soll er er bei der Frage, ob ihn ein Mensch schon einmal so sehr geärgert habe, dass er ihn umbringen wollte, das Wort "Mensch" durchgestrichen und das Wort "Jude" darüber geschrieben haben. Immer wieder muss der Angeklagte bei diesen Ausführungen leise lachen – noch.

Gutachten missfällt dem Angeklagten

Eine andere als die uns allen bekannte Reaktion "Lachen" zeigt der Angeklagte am Ende der Ausführungen des forensischen Psychiaters Norbert Leygraf. Sichtlich verärgert kritisiert der Angeklagte das Gutachten. Er wird immer lauter, seine Stimme überschlägt sich ein paar Mal. Er scheint nicht zu merken, dass er damit die Ergebnisse bestätigt, die Leygraf eben erst präsentiert hat. Was war passiert? 

Zunächst hatte der Gutachter seinen Eindruck und den Verlauf der insgesamt 12-stündigen Gespräche mit dem Angeklagten geschildert. Er beschrieb ihn als einen seit früher Kindheit an sozial-unbeholfenen Einzelgänger mit labilen Selbstwertgefühl, leicht kränkbar.

Leygraf erklärte, dass bei dem Angeklagten durchaus eine komplexe, sozial gehemmte Persönlichkeitsstörung vorliege, er aber nicht wahnhaft sei. Er habe sein Handeln selbst steuern können – die langwierigen Vorbereitungen und die Tatsache, dass der Angeklagte den für ihn "bestmöglichen Moment" für seine Tat abgewartet habe, wertete der Experte hier als Beleg. Auch machte Leygraf deutlich: Der Angeklagte leidet an keiner psychischen Erkrankung wie beispielsweise Schizophrenie und ja, es gebe durchaus Parallelen zu Menschen mit einer Störung aus dem Spektrum Autismus. Der Angeklagte sei alles in allem aber schuldfähig und vor allem: Leygraf geht davon aus, dass er wieder eine schwere Straftat begeht, sollte sich dem Angeklagten die Möglichkeit dazu ergeben. 

Neue Emotion: Wut

All das hätte den Angeklagten eigentlich zufrieden stimmen müssen. Denn anders als sein Verteidiger Hans-Dieter Weber, der immer wieder mit Nachfragen versuchte die Ergebnisse anzugreifen und doch in Richtung wahnhaftes Handeln und Ähnliches zu lenken, sträubte sich der Angeklagte dagegen. Dieser erklärte nicht nur, dass er das Ergebnis des Gutachtens anzweifele, weil er beispielsweise falsch zitiert worden wäre. Er machte auch mehrfach deutlich, dass er unter keinen Umständen als psychisch krank dargestellt werden möchte. Denn so ein Ergebnis halte er nur für "politisch motiviert".

Was der Angeklagte bei seiner wütenden Diskussion nicht bemerkte: Er durchkreuzte damit die Strategie, die sich die Verteidigung offenbar zurecht gelegt hatte. Nämlich durch ein Anzweifeln und Hinterfragen der vollen Schuldfähigkeit perspektivisch milderes Urteil. Und: Er belegte mit seiner Reaktion im Saal all das, was der sichtlich amüsierte Leygraf in seinem Gutachten feststellte. Der Angeklagte ist ein Mensch, der nicht kritikfähig ist. Ein Mensch, der sehr wütend und stur wird, wenn es Kontra gibt. Eine Person, die auch ein Jahr nach der Tat und fast einem Jahr im Gefängnis felsenfest von seiner antisemitischen, rechtsextremistischen Ideologie überzeugt ist. 

Hintergrund des Gerichtsverfahrens

Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle. Aus Platzgründen wird der Prozess aber in den Räumen des Landgerichts in Magdeburg geführt. Dort steht der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts zur Verfügung.

Der 28-jährige Stephan B. hatte gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss.

Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in 68 Fällen, versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Über die Autorin Marie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

Quelle: MDR/mx,agz

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 03. November 2020 | 19:00 Uhr

2 Kommentare

part am 04.11.2020

Ich würde dann mal behaupten dieser Staat ist nicht ganz unschuldig daran, das er Kommunen die Mittel kürzt und Kommunen die Mittel für Jugendarbeit in allen Szenen und Subkulturen kürzen müssen. Eine unbegleitete Jugend, die sich selbst sozialisiert oder durch Gruppen sozialisiert wird bringt dann eben Extreme hervor oder Personen die der Geheimdienst zunächst für unbedenklich hält. Wie weit es mit der demokratischen Grundeinstellung gediehen ist zeigt die angespannte Situation in den USA, vor dem Wahlkampf und den Erwartungen danach. In den staatlichen Schulen wird heute fast nur noch Wissen vermittelt, die ganzheitliche Begleitung junger Menschen zum Erwachsenwerden gehtmimmer mehr dem Bach herunter. Geiz ist geil, wenn er die Bevölkerung betrifft und die Lobby noch wohlhabender macht.

ossi1231 am 04.11.2020

"In den staatlichen Schulen wird heute fast nur noch Wissen vermittelt" ... na dann hätten wir bessere Medien, Politik und Justiz.

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