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Halle-Attentat: Reportage zum ersten ProzesstagDie Verantwortung der Medien

23. Juli 2020, 09:01 Uhr

Die ersten Aussagen von Stephan B. dürften für die Nebenkläger im Saal am Dienstag kaum zu ertragen gewesen sein. Immer wieder hat der Angeklagte sich antisemitisch und rassistisch geäußert, während ihm die Betroffenen seiner Taten gegenüber saßen. Der erste Prozesstag hat gezeigt, wie sehr der Angeklagte von rechtsextremistischem Gedankengut angetrieben ist, das er weiterverbreiten will. Geht es nach Stephan B, dann wird der Anschlag von Halle verbal im Gerichtssaal weitergehen.

Stephan B. will die Medien zur Verbreitung seiner Ideologie nutzen. Bildrechte: imago images/Christian Grube | Grafik: MDR/Max Schörm

Der Angeklagte im Prozess ist ein sehr berechnender Mensch - das ist mein erster Eindruck. Denn noch bevor er im Saal ist, wird über seinen Anwalt mitgeteilt: Er möchte mit vollem Namen genannt werden, kann gern unverpixelt gezeigt werden.

Spätestens in diesem Moment, vor dem Beginn des Prozesses wurde klar: Der Angeklagte verspricht sich vom Verfahren eine Bühne. Speziell dieser Moment hat dazu geführt, dass der MDR den Namen des Angeklagten ab sofort nicht mehr nennt.  

43 Nebenkläger und 21 Anwälte

Die Relationen im Saal sind eindeutig: Der Angeklagte sitzt mit seinen zwei Verteidigern einem sehr, sehr großen Block gegenüber – all den Menschen, die von seinen Taten vom 09. Oktober 2019 betroffen sind. Es sind Menschen, die in der Synagoge ausharrten, während er versuchte, schwer bewaffnet einzudringen und draußen Jana L. tötete.

Es sind die Menschen, die im Kiez-Döner um ihr Leben fürchten mussten – wo der Angeklagte den Handwerker Kevin S. tötete. Es sind die Betroffenen aus Wiedersdorf. Insgesamt 43 Nebenkläger mit 21 Anwälten – sowie die beiden Anwälte der Generalbundesanwaltschaft. 

Der Anschlag von Halle geht verbal weiter

Nachdem die vorsitzende Richterin das Verfahren eröffnet hat, wird die Anklageschrift verlesen, die minutiös das Geschehen schildert. Angeklagte haben in Strafprozessen die Möglichkeit, nach der Verlesung der Anklageschrift, Einlassungen zu machen. Stephan B. tut genau das – und im Laufe dieser Aussagen wird mit jedem Satz deutlicher, warum er nicht schweigt: Der Extremist will nach wie vor versuchen, Nachahmer für seine Taten zu animieren.

Die Befragung durch die vorsitzende Richterin des Gerichtes beginnt vorhersehbar: Kindheit, Werdegang, Studium? Der Angeklagte erklärt seinen Weg in die eigene Isolation. Nach einer Operation hatte er gesundheitliche Probleme, die die Vereinsamung beschleunigt haben. Klar wird durch seine Aussagen auch: Die Isolation war zu einem großen Teil selbstgewählt. Auffällig ist vor allem, dass er auf Fragen, die sein Sozialleben betreffen, oft nur sehr knapp antwortet.

Die Tatwaffen waren selbstgebaut

Das steht im Gegensatz zu den Fragen des Gerichts nach den Gründen für den Anschlag, nach der Planung der Tat und den Geschehnissen des 09. Oktobers selbst. Auf all diese Fragen antwortet der Attentäter detailliert und ausführlich, kalt und präzise. Das wird besonders deutlich, als es um den Bau und die Funktionsweise seiner Waffen geht – die er in der Werkstatt seines Vaters unbemerkt von ihm über Jahre hinweg gebaut haben will.

Der Attentäter spricht über die Vorbereitung des Anschlags selbst: So hatte er im Sommer 2019 bereits die Synagoge ausgekundschaftet, indem er sich im Vorbeigehen ein Bild von der Lage des Gebäudes gemacht hat.

Angeklagter sieht verschwörerische Kräfte am Werk

Als das Gericht nach den Gründen seiner Taten fragt, besteht nicht mehr der geringste Zweifel an den Zielen des Angeklagten: Mehrfach, auch auf Nachfragen des Gerichts wiederholt er, er habe Juden töten wollen. Seine Antworten sind getränkt in Hass, in Antisemitismus, in Rassismus. Details möchte ich nicht nennen – genau darauf legt dieser Extremist es an.

Nur so viel: Er sieht verschwörerische Kräfte am Werk, die er für die Flüchtlingskrise von 2015 für verantwortlich hält. Die erste Waffe – noch vor dem Eigenbau der anderen Waffen – habe er zum Schutz vor Muslimen und Schwarzen gekauft. 

Nachfragen des Gerichtes

Die vorsitzende Richterin lässt den Angeklagten nicht einfach immer weiter reden. Sie unterbindet Beschimpfungen, droht die Verhandlung bei weiteren Verstößen ohne ihn weiterzuführen. Zugleich fragt sie immer weiter nach, macht auch ihren eigenen Standpunkt deutlich – sie fragt etwa, was sich nach dem Jahr 2015, das der Angeklagte als einschneidendes Ereignis schildert, in seinem Kinderzimmer in Benndorf durch Einwanderer geändert hätte.

In manchen Momenten wirkt es, als führten beide eine Diskussion miteinander. Zugleich lässt sie keinen Zweifel an der Souveränität des Gerichtes aufkommen. Zu keinem Zeitpunkt droht der Angeklagte mit seinen Aussagen unwidersprochen zu bleiben. 

Vielleicht hat es auch an dieser Art der Frage und Intervention der Richterin gelegen, dass die Seite der Nebenkläger so ruhig geblieben ist. Es muss den Menschen, den Betroffenen des Anschlages, unbeschreiblich schwer gefallen sein, die Aussagen zu hören. Die Gesichter waren stets angespannt, viele hatten die Arme verschränkt, die Minen schwer lesbar. 

Von Reue oder Schuldempfinden keine Spur

Die vorsitzende Richterin fragt mehrmals, ob er Mitleid mit seinen Opfern gehabt habe. Er antwortet, rassistisch, habe versehentlich die falschen Menschen erschossen. 

In seinen Aussagen wird deutlich, dass er überhaupt keine Vorstellung von Mitgefühl und Empathie hat. So sagt er beispielsweise, er habe die Passantin Jana L. vor der Synagoge "zur Sicherheit" getötet – nachdem er ihr in den Rücken geschossen hatte, hatte er kurz darauf noch einen zweiten Feuerstoß auf die am Boden liegende Frau abgegeben. Er sagt, er habe Kevin S. im Kiez-Döner erschossen, weil dieser "schwarze, krause Haare" hatte. In Wiedersdorf hat er auf Jens Z. geschossen, um nicht schwach zu erscheinen. 

Immer wieder spricht er von unbewusst gefällten Entscheidungen – die er zugleich "rational" begründet. Auf diesen Widerspruch hat auch die Richterin immer wieder hingewiesen. So klingen die Einlassungen des Angeklagten stellenweise wie eine Art Fehleranalyse des Tatablaufes. Wobei "Fehler" in der Gedankenwelt dieses Menschen bedeutet, dass er weniger Menschen getötet hat, als er beabsichtigt hatte.

Das Attentat muss enden

Die kommenden Verhandlungstage werden für die Nebenkläger im Gerichtssaal ebenso schwer werden wie der Prozessauftakt. Zunächst wird das Video der Tat gezeigt werden. Und auch ihre Rechtsanwälte werden Fragen an den Angeklagten richten.

Mit jedem Satz, den der Angeklagte am Dienstag gesagt hat, ist deutlicher geworden, dass er weder seine Taten bereut noch von seiner Ideologie abrückt. Mit jedem Satz, der die Betroffenen verhöhnt, geht der Anschlag weiter – solange der Angeklagte weiter sein Ziel verfolgt, für andere zum Vorbild zu werden. 

Stephan B. versucht, seine Theorien zu verbreiten

Der Anschlag von Halle hat nicht allein am 9. Oktober 2019 stattgefunden. Es hatte bereits begonnen, als neurechte Ideologen insbesondere nach 2015 begonnen haben, den Diskurs in Deutschland zu verschieben. Der Angeklagte hat am Dienstag eins zu eins Versatzstücke und Motive aus rassistischen und antisemitischen Verschwörungserzählungen der rechten Szene vorgebracht, um seine Taten zu erklären. Die Wurzeln für den Anschlag auf die Synagoge und die Kiez-Döner liegen also genau hier – das ist nach den Aussagen des Täters eindeutig. 

Weil er diese Theorien und Einstellungen nach wie vor versucht, weiterzutragen, dauert das Attentat an. Es liegt in der Verantwortung von uns Prozessberichterstattern, den Opfern und Betroffenen gerecht zu werden – und die Ansichten des Angeklagten nicht weiterzuverbreiten. Nur so kann das Attentat wirklich enden.

Bildrechte: Philipp Bauer

Über den AutorRoland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion.

Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

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Quelle: MDR/mx

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 22. Juli 2020 | 20:00 Uhr

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