Halle-Attentat: Reportage zum zehnten Prozesstag Was den Halle-Anschlag mit dem Holocaust verbindet

08. September 2020, 20:21 Uhr

Der Mord an den Jüdinnen und Juden Europas im Zweiten Weltkrieg durch die Nationalsozialisten und ihre Helfer – die Shoa, sie wirft ihre Schatten bis auf das Halle-Attentat und den zehnten Verhandlungstag im Prozess gegen Stephan B. Das haben am Dienstag Aussagen von Zeuginnen und Zeugen aus der Synagoge verdeutlicht.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle, steht neben der Tür zum Grundstück der Synagoge Halle/Saale.
Gemeindevorsteher Max Privorozki war am Dienstag als Zeuge geladen. Bildrechte: dpa

Über Stunden war Rebecca Blady von ihrer Tochter getrennt. Während sie am Tag des Attentats in der Synagoge in Halle ausharrte, war ihre wenige Monate alte Tochter mit einer Babysitterin draußen. Die Feierlichkeiten an Jom Kippur dauern üblicherweise sehr lang, die jüdische Gemeinde Halle und ihre Berliner Gäste waren auf einen stundenlangen Gottesdienst eingestellt. Die Babysitterin wollte die Zeit mit dem Kind auf einem Spielplatz verbringen. Dann begann, wenige Minuten nach 12 Uhr, das Attentat. 

Die Mutter wusste nicht – wie auch sonst niemand in der Synagoge – wie gefährlich die Lage vor dem Gotteshaus war: Ob einer oder mehrere Täter die Synagoge angegriffen hatten, ob der oder die Täter gefasst worden waren oder nicht – das erzählt Blady heute im Zeugenstand. 

Was ich wollte: Dass man versteht, dass für uns die Synagoge zu einem sicheren Zufluchtsort geworden war und dass man meine Tochter hereinlassen würde.

Zeugin Rebecca Blady

Es gebe nur eine Frau, die wirklich verstehe, was sie in diesen Momenten gefühlt habe, erklärt die Zeugin vor Gericht: ihre eigene Großmutter. Diese sei im Vernichtungslager Auschwitz am 9. Mai 1944 von ihrer Mutter getrennt worden. Dieses Familientrauma sei während des Anschlages des Halle-Attentäters auf die jüdische Gemeinde in Halle wieder präsent gewesen.

Der Holocaust – ein Trauma, das Generationen verbindet 

Auch andere Zeuginnen, die das Attentat in der Synagoge erlebt haben, betonen in ihren Aussagen immer wieder, wie tief die Erinnerungen in den jüdischen Familien an die Erfahrungen der Shoa sitzen. Sie berichten von ihren Großeltern und Urgroßeltern, die in Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet wurden. Sie berichten davon, wie die Überlebenden Deutschland verlassen haben – oder wieder aufgebaut. Wie sie selbst aufgewachsen sind, und wie schwer es ihren Familien fiel, über den Holocaust zu sprechen. Sie sagen im Zeugenstand, dass der Antisemitismus in Deutschland nach wie vor präsent sei.

Als die erste Zeugin von den traumatischen Erlebnissen ihrer Großmutter in Auschwitz berichtet, lächelt Stephan B. Der Angeklagte wendet sich heute mehrfach mit Äußerungen an die Zeuginnen aus der jüdischen Gemeinde. Seine Aussagen, manchmal in Frageform verpackt, sind antisemitisch; er leugnet den Holocaust. Oder er will die Betroffenen offenbar einfach provozieren und beleidigen. Die Anwälte und Anwältinnen der Gegenseite reagieren sofort, seine Anmerkungen werden allesamt beanstandet und somit abgebrochen.

Kritik am Verhalten der Polizei und der Ermittler 

Rebecca Blady sagt, erst als die Synagoge nach Stunden von der Polizei evakuiert worden sei, sei die Babysitterin mit ihrer Tochter zu ihr gelassen worden. Das Verhalten der Polizei war auch in den Aussagen der Zeuginnen und Zeugen am neunten Verhandlungstag bereits kritisiert worden: Stundenlang hatten die Menschen in der Synagoge keine Informationen bekommen, was genau vor sich geht, und ob die Gefahr vorüber ist oder nicht.

Ein anderer Zeuge wird gefragt, was er darüber denkt, dass keine Polizei vor der Synagoge präsent war. Seine Antwort: "Das war normal, dass niemand da war. Alle fragen sich: Wo war die Polizei eigentlich?"

Eine weitere Zeugin sagt, sie verstehe nicht, wie BKA-Ermittler guten Gewissens vor Gericht sagen konnten, sie hätten ihr Bestes getan, um die Online-Aktivitäten und das Gaming-Verhalten des Angeklagten zu untersuchen. "Ohne sich die Imageboards anzusehen" und die Spiele, die der Angeklagte gespielt haben soll.

Wie schwer es auch heute ist, als Mensch mit jüdischem Glauben in Deutschland zu leben, verdeutlicht auch die Zeugin Naomi Henkel mit der Geschichte ihrer Familie. Seit dem frühen 17. Jahrhundert hatte sie in Deutschland gelebt, habe sich in die Mitte der Gesellschaft gearbeitet, habe gehofft, dass der Antisemitismus und Nationalsozialismus nur "eine Phase" seien, die vorübergehe. Nach dem Krieg hatte ihre Familie Deutschland wieder aufgebaut – trotz der Shoa. 

Sie haben nicht auf Parallelen von Anschlägen auf der ganzen Welt, wie in Oslo, El Paso, München und Christchurch geachtet, nicht auf den Mord an Walter Lübcke. Die Narrative, die das Fundament dieser schrecklichen Taten sind, wurden nicht untersucht.

Zeugin Naomi Henkel

Die Zeugin selbst hatte Deutschland verlassen, war nach Israel ausgewandert – und 2018 zurückgekehrt, um in Berlin zur Rabbinerin ausgebildet zu werden. Ihre Motivation sei gewesen, das Erbe ihrer Familie weiterzugeben, "Brücken zu bauen, wo andere Mauern bauen." Zusammen mit anderen Rabbinern und Mitgliedern der Berliner Gemeinde fuhr sie dann an Jom Kippur 2019 nach Halle – mit der Absicht, mit der Gemeinde dort den höchsten jüdischen Feiertag zu feiern. Es kam anders.

Wie der Gemeindevorsteher den Angriff erlebte

Max Privorozki ist der Vorsteher der Gemeinde in Halle. Viele ältere Gläubige gibt es in Halles jüdischer Gemeinde, wenige junge. Als die Berliner Gemeinde sich mit einem ganzen Bus voller junger Menschen angekündigt hatte, habe er sich gefreut, sagte er. Während des Gottesdienstes habe ihn dann jemand zu dem Monitor am Eingang gerufen. Dort ist das Bild einer Überwachungskamera hin zur Humboldtstraße zu sehen.

Ich werde das nie vergessen. Dann habe ich gesehen: Jemand wurde angeschossen, beziehungsweise, wurde erschossen. Das habe ich mit meinen Augen gesehen, auf dem Monitor.

Zeuge Max Privorozki

Im ersten Moment habe er den Attentäter wegen seiner Ausrüstung für den Polizisten einer Spezialeinheit gehalten, erklärt er. Das änderte sich in dem Moment, in dem dieser auf die Tür geschossen hatte. "Ich habe die Polizei gerufen, mit zitternden Händen", sagt er. Versehentlich wählte Privorozki die Nummer der Feuerwehr anstelle des Polizei-Notrufes. 

Dann haben wir gewartet, bis die Polizei kommt. Es schien wie eine Ewigkeit.

Zeuge Max Privorozki

Eine Gruppe von Synagogen-Besuchern habe sich darum gekümmert, die Eingänge zu verbarrikadieren und die Gläubigen in Sicherheit zu bringen. Privorozki hatte telefonisch den Zentralrat der Juden in Deutschland informiert – in der Annahme, dass ähnliche Angriffe zeitgleich in anderen Städten passieren könnten. Anweisungen von der Polizei hatte der Gemeindevorsteher erst kurz vor der Evakuierung am späten Nachmittag erhalten. Die Evakuierung durch die Polizei beschrieb er als gut organisiert. 

Auch Max Privorozki zieht Vergleiche zu den Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden im Dritten Reich erlitten haben: "Wie kann er [der Angeklagte] eine solche Operation vorbereiten, ohne dass die Eltern sich wenigstens Gedanken machen? Das erinnert mich an Erzählungen, dass Menschen, die zwei, drei Kilometer von einem KZ entfernt gelebt haben, sagen, sie hätten nichts mitbekommen." 

Fotos aus dem Elternhaus des Angeklagten

Zum Ende des Verhandlungstages werden außerdem Bilder der Ermittler gezeigt, die während der Hausdurchsuchungen in der Wohnung der Mutter des Angeklagten und im Haus seines Vaters gemacht worden waren. Die Werkstatt des Angeklagten auf dem Grundstück des Vaters, in einem Nebengebäude, scheint auf den Bildern klein, aber sehr sauber. Zu sehen sind zwei Tische, Regale – und eine Art Werkbank mit einem Schraubstock und einer Standbohrmaschine. Hier hatte der Angeklagte seine Waffen gebaut. Zum Teil nach Plänen aus dem Internet, zum Teil Eigenkonstruktionen. 

Auf die Frage der Richterin, ob die Werkstatt abschließbar gewesen sei, antwortet Stephan B.: "Ja." Allerdings habe er nur hin und wieder abgeschlossen. Meistens stand die Werkstatt demzufolge offen – und hätte von seinem Vater betreten werden können. 

Klare Antworten auf die Frage nach dem Wissen und der Verantwortung der Eltern bekommen Max Privorozki und die anderen Nebenklägerinnen und Nebenkläger am zehnten Verhandlungstag nicht. Die Zeugen heute betonen, Antisemitismus sei in Deutschland nach wie vor präsent. 

Menschenkette vom 11. Oktober in Halle als wichtiges Signal

Als wichtigstes Signal an seine Gemeinde beschreibt Max Privorozki den Freitag nach dem Anschlag, den 11. Oktober. An diesem Tag bildeten 2.000 Menschen eine Kette, die von der Synagoge bis zum Kiez-Döner reichte

Das ist der größte Unterschied zwischen 1938, als unsere Synagoge angegriffen wurde von den Nazis, und 2019, als unsere Synagoge wieder angegriffen wurde. Dieser Unterschied ist ganz wichtig.

Zeuge Max Privorozki

Nach dem 9. Oktober 2019 fühle Max Privorozki sich wesentlich mehr hier zuhause als zuvor, erklärt er – durch die erfahrene Solidarität in Halle. Denn er habe gesehen: Ganz normale Menschen, Muslime, Juden, Schwarze und Weiße seien geeint gegen Hass, Mord und gegen Nazis. 

Und auch die Zeugin Naomi Henkel schließt ihre Zeugenaussage heute mit der Erklärung, sie wolle für einen offenen Judaismus in Deutschland arbeiten – und weiter Brücken bauen, wo andere Mauern bauen. "Und all das, um eine bessere, freundlichere, hellere Gesellschaft auf der Basis von Liebe und Respekt voreinander errichten."

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Über den Autor Roland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt – Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion.

Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

Der vierte Prozesstag

Quelle: MDR/kb

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 08. September 2020 | 19:00 Uhr

10 Kommentare

Haller am 10.09.2020

"Und die Aufgabe des Beweisens überlassen wir mal den Rechtsorganen." ... was wenn diese versagen?
Und außerdem darf das Publikum sich an jedem Rätsel eines Kriminalfalles beteiligen.

Karl Schmidt am 10.09.2020

"Der Typ hat einfach die wahre Gefahr für unser Land und Gesellschaft verwechselt.
Eine Armseelige Gestallt."

Das bringt solch politische Einstellung halt so mit sich.

Haller am 09.09.2020

Vollkommen falsch.
Was kritisch ist, dass ist der Missbrauch des Vorfalls für Agitprop.

"Zum Ende des Verhandlungstages werden außerdem Bilder der Ermittler gezeigt, die während der Hausdurchsuchungen in der Wohnung der Mutter des Angeklagten und im Haus seines Vaters gemacht worden waren."
Und dazu werden die Fotos der Ermittler von den Tatorten als unbeachtlich beiseite gelegt?

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