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Hunderte Menschen betroffenUnmut über Quarantänebedingungen in der Neuen Neustadt

26. Juni 2020, 11:06 Uhr

Seit dem Wochenende stehen in zwei Stadtteilen Magdeburgs 19 Hausaufgänge unter Quarantäne. Dort hatte es innerhalb kurzer Zeit einen sprunghaften Anstieg von Corona-Infektionen gegeben. Die Hilfslieferungen für die Neue Neustadt laufen nun an. Trotzdem fühlen sich viele Betroffene schlecht behandelt. Hitze, Enge, Sorge um den Job, Lebensmittelmangel und Informationsschwierigkeiten zehren an den Nerven.

Plattenbauten brüten in der Junihitze, der kleine Luftzug, der ab und zu geht, verschafft kaum Linderung. Hier, wo normalerweise Leben auf den Straßen herrscht, ist es auffällig ruhig: In der neuen Neustadt, dürfen rund 800 Menschen derzeit ihre Wohnungen nicht verlassen. Das gilt auch für Menschen, die negativ auf das Coronavirus getestet worden sind. 19 Wohnblöcke wurden unter Quarantäne gestellt, obwohl in den Häusern jeweils nur einige Bewohner mit Covid-19 infiziert sind. Ein eher ungewöhnliches Vorgehen, das Magdeburgs Oberbürgermeister Lutz Trümper (SPD) mit der hohen Dichte der Infektionen begründete.

Ordnungsamt und Polizei kontrollieren die Einhaltung der Schutzmaßnahmen im Minutentakt. Die meisten Betroffenen scheinen sich freiwillig an die Schutzmaßnahmen zu halten. Obwohl die meisten ruhig und freundlich bleiben, ist die Stimmung gedrückt.

Probleme mit der Lebensmittelversorgung und Sorge um Arbeitsplätze

Viele Menschen fühlen sich seit der Quarantäneverordnung allein gelassen und harren seit Freitag schlecht versorgt in ihren Wohnungen aus. Der unter Quarantäne stehende Reiner Majewski erzählt aus seinem Fenster, dass die meisten von der Quarantäne überrascht worden seien. Einige Familien, besonders solche mit vielen Kindern, hätten nicht genug Lebensmittel besorgen können und hätten seit Freitag Probleme mit der Versorgung, weil sie nicht einkaufen dürfen. Einige hätten durch ihre Leiharbeiterjobs schlicht nicht genug Geld, um für zwei Wochen im Voraus Lebensmittel für die ganze Familie zu kaufen. Die Stadt Magdeburg hatte deshalb Hilfslieferungen versprochen. Diese kommen allerdings erst seit Dienstag. Am frühen Nachmittag brachten die Johanniter die ersten Verpflegungspakete.

Hinzu komme bei vielen die Sorge, ihre Arbeit zu verlieren, erklärt ein Mann, der nicht namentlich genannt werden möchte. Manche hätten große Schwierigkeiten, ihren Arbeitgebern zu erklären, wieso sie trotz negativer Coronatests nicht arbeiten dürften. Er sei schon gekündigt worden, erzählt ein anderer. Quarantäne würde als Grund zum Fehlen in seiner Firma nicht akzeptiert.

Edna Pevestorf, die mit der AWO SPI GmbH Magdeburg das Projekt Neustadtmiteinander betreut, versucht die Menschen, bei ihren Anliegen zu unterstützen und sie z.B. an die Stelle zur Beratung migrantischer Arbeitskräfte weiterzuvermitteln, wo sie Hilfe und Beratung bekommen könnten. Auch die Nachfragen zur Lebensmittelversorgung würden weitergeleitet, erklärt sie.

Kommunikation: Bemüht, aber für viele unzureichend

Die Kommunikation sei von Anfang an ein Problem gewesen, erzählt Reiner Majewski. Zwar habe Trümper die Menschen selbst besucht und zwei Tage später sei auch ein Dolmetscher dagewesen. Es seien aber keine Fragen beantwortet worden, sondern nur Anordnungen vorgelesen worden. Er hätte sich hier mehr Empathie und Respekt gewünscht, und sagt, mit mehr Erklärungen und einer kurzen Vorbereitungszeit sei die Situation deutlich einfacher zu bewältigen gewesen.

Die Kommunikation sei auch dadurch erschwert worden, dass viele Betroffene Roma aus Rumänien sind, und nicht alle die deutsche Sprache gut verstehen. "Wie bereits bekannt, läuft die Kommunikation meist mit Hilfe von Sprachmittlern und dies soweit wir wissen, auch recht gut. Da dies für alle eine völlig neue und ungewohnte Situation ist, gibt es natürlich viele Fragen und auch Unsicherheiten seitens unserer Klienten. Wir versuchen jedoch, den Betroffenen die benötigten und relevanten Informationen zukommen zu lassen", erklärt Edna Prevestorf.

Inzwischen sind auch Informationsblätter auf Rumänisch aufgehängt und Sprachnachrichten an Betroffene auf Rumänisch verschickt worden, um für mehr Informationen zu sorgen. Trotzdem fühlen sich viele allein gelassen und beklagen, sie hätten das ganze Wochenende ohne klare Informationen und ausreichende Versorgung  in ihren Wohnungen ausgeharrt.

Das Gefühl von Ausgrenzung und Stigmatisierung

Viele Betroffene fühle sich schlecht behandelt durch fehlende Informationen und mangelnde Versorgung. Zudem fühlen sich viele durch ihre Nationalität stigmatisiert, wie ihre Herkunft sowohl vom Oberbürgermeister als auch von Medien hervorgehoben worden sei. Dort wurde immer wieder berichtet, dass Corona in von Rumänen bewohnten Häusern ausgebrochen sei und dort nun vermehrt kontrolliert werden müsse. In diesem Zuge war auch über zurückliegende Probleme berichtet worden.

Teile der rumänischen Community fühlten sich "in einen Topf geworfen und schlecht behandelt", sagt der Mann, der anonym bleiben möchte. Viele würden wegen ihrer Herkunft nun automatisch unter Coronaverdacht gestellt oder fremdenfeindlich beleidigt. Auch die Aussagen von Armin Laschet in Nordrhein Westfalen, der "Rumänen und Bulgaren" als Verursacher der Corona-Ausbreitung beim Fleischfabrikanten Tönnies in den Fokus gesetzt hatte, habe zu einer Stigmatisierung beigetragen und viele verletzt. "Die Narben, die dieser Umgang hinterlässt, wird man noch lange spüren.".

Wir nehmen diese Schilderungen mit Besorgnis zur Kenntnis und versuchen die Betroffenen zu unterstützen und ihnen zuzuhören. Wir betonen, dass es keinen Zusammenhang zwischen ethnischer Herkunft und der Erkrankung gibt. Hier spielen andere Faktoren eine Rolle.

Edna Pevestorf | AWO SPI GmbH, Projekt Neustadtmiteinander

Auch der Beirat für Integration und Migration der Stadt Magdeburg bewertet die ständige Nennung der Nationalität kritisch. Das Virus kenne keine Nationalität und die Herkunft sei nicht relevant, heißt es dort.

Oberbürgermeister Lutz Trümper und Medienvertreter hingegen betonten, dass es bei der Angabe der Herkunft vor allem um das Erklären der Kommunikationsbarrieren gegangen sei, und als Begründung, wieso die Menschen zusammen in einer Pfingstgemeinde gefeiert hätten, von wo aus sich der Virus vermutlich ausbreiten konnte. Zudem betonte Trümper, er würde trotz verstärkter Kontrollen auf Information und Freiwilligkeit setzen.

Der weitere Umgang mit der Lage wird viel Kommunikation und Rücksichtnahme erfordern, um eine Eindämmung des Virus und eine Versorgung der Menschen auf angemessene Weise sicherzustellen.

Chronik: Wie hat sich der Coronavirus-Ausbruch in Magdeburg entwickelt?

11. Juni – Starker Anstieg der Fälle

Die Zahl der Corona-Fälle in Magdeburg steigt seit vergangener Woche. Am Donnerstag, 11. Juni, hieß es vom Sozialministerium, dass seit Beginn der Woche mehr als zehn Personen positiv auf das neue Coronavirus getestet worden seien – der stärkste Anstieg innerhalb kurzer Zeit seit fast einem Monat. Vom 30. April bis zum 3. Juni wurde in der Stadt gar kein neuer Fall festgestellt.

Wegen der vielen Neuinfektionen wurden am Mittwoch, den 10. Juni, auch Kinder an der Grundschule "Am Umfassungsweg" getestet. Bei einem Kind und seiner Mutter bestätigte der Test eine Infektion. Daher wurde sowohl die Grundschule als auch der Hort im Magdeburger Stadtteil Neue Neustadt vom Freitag, den 12. Juni, bis zum 26. Juni geschlossen. Weitere Coronavirus-Tests waren nach Angaben der Stadt Magdeburg nicht geplant.

14. Juni – Infektionskette nicht mehr nachvollziehbar

Am Sonntag, den 14. Juni, teilte die Stadt mit, dass ab Montag, den 15. Juni, fünf weitere Schulen, zwei Jugendeinrichtungen und drei Spielplätze wegen der Corona-Fälle für zwei Wochen geschlossen werden. Die Begründung für die zusätzlichen Schließungen: Die Infektionskette sei nicht mehr nachvollziehbar. Von Freitag bis Sonntag sind laut Stadt 32 weitere Menschen positiv auf das Virus getestet worden.

Am Montag, den 15. Juni, werden zwei weitere Grundschulen sowie die dazugehörigen Horte geschlossen. Die Schulen befinden sich in Buckau und in der Alten Neustadt. Zum Mittwoch, den 17. Juni, schließt das Gesundheitsamt Magdeburg eine weitere Schule im Stadtteil Neu Olvenstedt.

16. Juni – Gemeindetreffen möglicher Ursprung der Coronavirus-Fälle

In einer Pressekonferenz am Dienstag, 16. Juni, gibt die Stadt Magdeburg weitere Details zu den Fällen bekannt. Laut Oberbürgermeister Trümper treten die Neuinfektionen vor allem innerhalb von Familien auf. Die Quelle der Infektionen ist zu dem Zeitpunkt noch unklar. Es besteht Trümper zufolge aber der Verdacht, dass ein Pfarrer aus Berlin in einer Kirchengemeinde in Schönebeck in Magdeburg lebende Rumänen infiziert haben könnte. Die erste nachvollziehbare Infektion in der Stadt wurde demnach bei einer Patientin bei der Aufnahme ins Krankenhaus nachgewiesen.

Innerhalb einer Woche sind insgesamt rund 50 Corona-Neuinfektionen bestätigt wurden. Etwa 860 Menschen haben sich bereits in der Fieberambulanz der Stadt testen lassen. Allein am Mittwoch, den 17. Juni, verzeichnet die Stadt mehr als 20 neue Coronavirus-Fälle.

18. Juni – Oberbürgermeister Trümper warnt vor Virus-Ausbreitung

Oberbürgermeister Trümper warnt im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT am Donnerstag, 18. Juni, vor einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus in Magdeburg. Bei den meisten der neuen Fälle – Trümper nannte die Zahl 90 – handele es sich bei den Betroffenen um Bewohner im Stadtteil Neue Neustadt. In den betreffenden Wohnblocks lebten etwa 700 Menschen, wo sich einige als Teil einer rumänischsprachigen Community über Treffen in einer Pfingstgemeinde infiziert haben könnten. Um das Virus einzudämmen, könnte im absoluten Notfall der Stadtteil Neue Neustadt abgeriegelt werden.

Trümper gab auch weitere Informationen zur Quelle der Neuinfektionen. Man wisse, dass alle neuen Fälle aus einer Kirchengemeinde kämen. Ob die Gemeinde aber der Ursprung ist, steht laut Trümper nicht fest. Bei den Gottesdiensten sei zudem offenbar gegen Corona-Auflagen verstoßen worden. Teilnehmerlisten seien zum Beispiel nur mit Vornamen geführt worden, obwohl voller Name und Adresse gefordert gewesen seien.

19. Juni – 31 Fälle auf 100.000 Einwohner in Magdeburg

Seit Freitag, den 19. Juni, ist im Magdeburger Stadtteil Westerhüsen eine weitere Grundschule bis 3. Juli geschlossen. Dort wurde ein Reinigungsmitarbeiter positiv getestet. Damit sind in Magdeburg elf Schulen dicht. Auch weitere Jugendeinrichtungen wurden zugemacht.

Von Donnerstag auf Freitag sind 21 neue Coronavirus-Fälle in Magdeburg bestätigt worden. Das Gesundheitsministerium meldet etwa 31 nachgewiesene Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner für die Stadt innerhalb einer Woche. Damit ist die höchste Stufe der Corona-Warnampel erreicht. Die Stadt Magdeburg will am Wochenende entscheiden, ob die betroffenen Straßenzüge in der Neuen Neustadt abgeriegelt werden müssen.

20. Juni – Magdeburg stellt einzelne Haus-Aufgänge unter Quarantäne

Wegen der Ausbreitung des Coronavirus hat die Stadt Magdeburg 19 Hausaufgänge unter Quarantäne gestellt. Die betroffenen Häuser liegen in den Stadtteilen Neue Neustadt und Salbke.

Die rund 800 betroffenen überwiegend rumänischen Anwohner sollen laut Stadt von Hilfsorganisationen mit Lebensmitteln versorgt werden, Ordnungsamt und Polizei sollen prüfen, ob die Quarantäne eingehalten wird.

Nach Angaben der Stadt ist der Grund für die Quarantäne, dass bisherige Maßnahmen und die Kommunikation mit dem Gesundheitsamt nicht im erwünschten Maße funktioniert haben.

23. Juni – Magdeburg startet Versorgung von Quarantäne-Häusern

In Magdeburg läuft die Versorgung der unter Quarantäne stehenden Häuser an. Laut Stadt sollen Helfer der Johanniter insgesamt viermal Lebensmittel liefern. Zudem werde eine Hotline des Sozial- und Wohnungsamtes mit deutsch- und rumänischsprachigen Mitarbeitern eingerichtet. Diese sollen Fragen rund um die Versorgung mit Lebensmitteln entgegennehmen und beantworten. In den betroffenen Wohnblocks in den Stadtteilen Neue Neustadt und Salbke wohnen überwiegend Rumänen.

Quelle: MDR/ls/agz

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 23. Juni 2020 | 19:00 Uhr

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