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Bestattung im WandelDigitale Gräber und wilde Tiere: Der Westfriedhof in Magdeburg lebt

27. September 2022, 17:50 Uhr

So wie sich die Gesellschaft wandelt, lassen sich auch auf Friedhöfen soziale Trends ablesen. Auf dem Magdeburger Westfriedhof gibt es seit Neuestem die Möglichkeit der digitalen Erinnerung. Friedhofsgärtner Martin Cziborra gestaltet mit einem Steinmetz und einem Webdesigner eine digitale Erinnerungsseite für eine bedeutende Ärztin, die vor Jahren verstarb. Das soll Schule machen – wie der Friedhof generell zu einem Ort des Lebens werden soll.

So wie sich die Gesellschaft wandelt, lassen sich auch auf Friedhöfen soziale Trends ablesen. Auf dem Magdeburger Westfriedhof gibt es seit Neuestem die Möglichkeit der digitalen Erinnerung. Im Herbst 2022 geht das erste Grab online – dank Friedhofsgärtner Martin Cziborra. "Ich bin immer ganz dicht an den Angehörigen dran, erzähle mit ihnen auf einer Bank auf dem Friedhof. So höre ich viele Lebens- und Familiengeschichten und denke: Wow, warum schreibt das nicht jemand mal auf? Das ist doch toll!"

Ich bin immer ganz dicht an den Angehörigen dran, erzähle mit ihnen auf einer Bank auf dem Friedhof. So höre ich viele Lebens- und Familiengeschichten und denke: Wow, warum schreibt das nicht jemand mal auf? Das ist doch toll!

Martin Cziborra | Friedhofsgärtner in Magdeburg

Er gestaltet mit einem Steinmetz und einem Webdesigner eine digitale Erinnerungsseite für die Medizinprofessorin Rita Kielstein. Die Ärztin, die vor vier Jahren verstarb, entwickelte ein einzigartiges Sportprogramm für bettlägerige Dialysepatienten, das weltweit Beachtung findet. "Digitale Trauerkultur ist ein Zukunftsthema", ist Friedhofsgärtner Cziborra überzeugt.

Grabstätte mit QR-CodeFür den Inhalt der Website sind die Angehörigen verantwortlich. Der Friedhof übernimmt keinerlei Haftung.

Wer einen QR-Code aufstellen möchte, muss dies zuvor von der Verwaltung sogar genehmigen lassen. Die Herstellung einer digitalen Erinnerungsseite kostet zwischen 300 und 500 Euro. Hinzu kommen 100 Euro für den Steinmetz, der den Code erstellt.

Die QR-Codes sind meist kleine Steintafeln oder Metallplatten, die fest in die Erde gesteckt werden.

Ob alle oder nur bestimmte Personen Zugang zu der digitalen Erinnerungssammlung am Grab haben sollen, entscheiden übrigens die Angehörigen selbst.

Doch was steckt eigentlich dahinter? Mittels eines kleinen QR-Codes, der direkt auf dem Grab aufgestellt ist, öffnet sich eine Internetseite, auf der Bilder, Videos und Texte die verstorbene Rita Kielstein porträtieren. Das geht alles recht flott. QR heißt "quick response" – schnelle Antwort also. Sofort, nachdem man den Code scannt, ploppen lebendige Erinnerungen auf.

Sie machen die Tote unvergesslich und sie sind auch eine neue und moderne Art der Trauerbewältigung. "Trauer schafft Nähe und ist für mich auch ein positives Gefühl, denn gleich neben der Trauer sind dann nämlich auch andere – positive – Gefühle und deswegen sollte man Trauer nicht wegschieben. Trauer bessert das Herz, sagt man", sagt Volker Kielstein, Arzt und Witwer.

Friedhof als Erholungsort

Nicht nur wegen der Onlinegräber – der Magdeburger Westfriedhof ist generell ein Ort, der gerade "in Mode" kommt. Hier spürt man – trotz des Todes – viel Leben. Immer mehr Menschen, die im hektischen Alltag und zu Zeiten von Corona ihre Mitte finden wollen, kommen hierher – zum Kraft tanken und Nachdenken. Oder zum Sport machen. Auf dem Westfriedhof sind Radeln, Joggen und Walken erlaubt. Nicht nur die 25.000 bepflanzten Gräber, auch 5.000 Bäume und etliche Wildblumenwiesen machen den Westfriedhof zur grünen Oase inmitten der Großstadt.

Kerstin Hartmann ist immer für Veränderungen und Neuerungen offen. Sie arbeitet seit 30 Jahren auf dem Friedhof und ist heute die Chefin hier. Hartmann registriert seit einiger Zeit ein Umdenken bei den Besuchern: "Gestern sagte ein Bürger zu mir: Der Friedhof ist der Park vor der Haustür. Die Seele baumeln lassen und auch mal überlegen, ob es überhaupt wert ist, über diese Dinge zu meckern, über die allgemein immer gemeckert wird. Vor allem diese Wertschätzung spüren: Was ist wichtig im Leben!? Denn irgendwann ist das Leben vorbei."

Anfang der 2000er Jahre – als sich die Bestattungskultur ändert, weil die anonymen Beerdigungen voll im Trend waren – bangt Hartmann um ihren Friedhof. Es sind zu wenige Tote im eigenen Grab, der Friedhof wird immer leerer. Anonyme Bestattung bedeutet: Irgendwo in einer kleinen Urne unter einer Wiese liegen, kein Stein oder Schild, keine Grabpflege, keine großen Kosten und niemanden (mehr) zur Last fallen.

Trauer gehört zum Leben

Dabei sei Trauer doch wichtig, stellt Hartmann klar. "Man muss nämlich damit leben und deswegen brauche ich einen Ort, wo ich hingehen kann, auch mal ein paar Worte reden kann und sich an den Toten erinnern oder auch mal andere Menschen mit gleichem Schicksal treffen. Das soziale Miteinander ist wichtig!" Deshalb haucht Hartmann der Friedhofskultur wieder Leben ein, sie erfindet etwas Neues – die sogenannte "Gemeinschaftsanlage für Urnenwahlgrabstätten".

Der Friedhof als Park – die Besucher freut's. Bildrechte: MDR/Anja Walczak

Eine Art Friedhofs-WG. Über 200 kleine Gräber. Dicht an dicht. In ein Grab passen zwei Urnen. Das ist gut für Ehepaare. Ein individuell gestalteter kleiner Stein und auch Blumen sind erlaubt. Seitdem es diese kostengünstigen Grab-WGs gibt, lässt sich in Magdeburg fast jeder dritte, der verbrannt wird, hier bestatten.

Neue Nutzungsformen gefunden

Stellt sich die Frage: Wie nutzt man den Friedhof, wenn weniger Platz für Gräber gebraucht wird? Die Grab-WGs benötigen nämlich keine große Fläche. Kerstin Hartmann hat eine einfache Antwort: Sie lässt ihre Gärtner pflanzen! Große Beete voller Stauden, Rosen und Gräser – rund um ihre neuen Anlagen. Auf anderen freien Flächen werden außerdem Wiesen und Naturgrabfelder mit Wildblumen angelegt. Das alles freut nicht nur die Besucher, sondern auch die Wild- und Honigbienen. Auf dem Magdeburger Westfriedhof stehen sieben Bienenstöcke.

Sie gehören den Stadtimkern Annette und Ulf Zietlow. Die beiden fahren hier seit 2016 reiche Ernte ein. Fast das ganze Jahr über blüht es hier: Zeitig im Frühjahr beginnt die Saison mit Krokussen und sie endet im Herbst mit der Blüte des Efeus. Perfektes Futter für die kleinen Summer. Über 35 Wassereimer voller Honig sammeln die fleißigen Friedhof-Bienchen pro Jahr. Anfangs wussten die beiden Imker jedoch nicht, ob das gut ankommt.

Friedhof als Hort für Tiere

Aber die Rückmeldungen, die die Zietlows bekommen haben, waren alle positiv. Den gewonnenen Honig als "Friedhofshonig" zu vermarkten, das haben sie sich dann doch nicht getraut. "Ich habe mal gelesen, dass Honig sogar nach Gräbern benannt wurde – das hat in Berlin ein Kollege gemacht. 'Kalte Sophie' hieß sein Honig. Gut, das läuft vielleicht im Prenzlauer Berg in Berlin, aber ich kann mir nicht gut vorstellen, dass man das gut verkaufen kann", sagt Annette Zietlow.

Es sind Geschichten, die der Friedhof schreibt. Leise und laute. Traurige und tröstende. Dunkle und helle. Der Tod ist für viele ein Tabu. Doch er ist ein Teil unseres Lebens.

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MDR (Antje Schneider, Hannes Leonard)

Dieses Thema im Programm:Der Osten – Entdecke, wo du lebst | 04. Oktober 2022 | 21:00 Uhr

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