Armutskonferenz Wie arme Kinder in Sachsen-Anhalt benachteiligt werden
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06. März 2019, 21:25 Uhr
Allein in Magdeburg leben mehr als 5.000 Kinder und Jugendliche in Familien, die von Hartz-IV abhängig sind. Sie sind von Kinderarmut betroffen. In der Schule und im späteren Leben haben diese Kinder nicht die gleichen Chancen wie andere. Auf einer Konferenz in Magdeburg wird diskutiert, wie mehr Chancengleichheit erreicht werden kann.
Magdeburg: 5.000 Kinder und Jugendliche sind armutsgefährdet
Manchmal merkt Jones, dass er und seine Mutter Bianka weniger Geld haben als andere Familien. Das bekomme er mit, "wenn meine Mama manchmal da sitzt und irgendwie traurig guckt", erzählt er. In der Schule sieht der Achtjährige Dinge, die für seine Mitschüler ganz selbstverständlich sind – sich seine Mutter aber für ihn nicht leisten kann. Er hätte gern ein Fahrrad, sagt er: "Ich denke, das könnte ich auch mal kriegen."
Wir treffen Jones und seine Mutter Bianka Söllner im Familienhaus Magdeburg. Während Jones hier einfach spielt oder ab und zu zusammen mit anderen Kindern kleine Ausflüge unternimmt, werden seine Mutter und andere Eltern hier von Sozialarbeitern betreut, die Familien- und Erziehungshilfe geben. Die Alleinerziehende ist Hartz-IV-Empfängerin und erhält für ihren Sohn einen Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt. Sie und viele andere alleinerziehende Mütter ohne Job bilden die größte Gruppe von Familien, deren Kinder von Armut gefährdet sind. Auch Jones wird von der Stadt Magdeburg als arm gezählt. Er ist eines von mehr als 5.000 Kindern, die nach Aussage der Sozialdezernentin Simone Borris in der Landeshauptstadt von Kinderarmut betroffen sind. In Sachsen-Anhalt sind es insgesamt 95.000 Kinder. Die meisten gelten als arm, weil sie in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben.
Was Kinderarmut bedeutet
Kinderarmut bedeutet in Deutschland in der Regel nicht, dass Kinder nicht genug zu Essen oder zu wenig Kleidung oder kein Dach über dem Kopf haben – obwohl es durchaus auch solche Fälle gibt, wie die Sozialarbeiter im Familienhaus berichten.
Stattdessen bedeutet Kinderarmut vor allem: Betroffene Kinder und Jugendliche sind bildungsbenachteiligt. Angebote, die über Kita und Schule hinausgehen, nehmen sie und ihre Eltern nicht wahr, schildert Sozialarbeiterin Sabrina Fröhlich: "Viele andere Kinder gehen in einen Sportverein. Das können viele von unseren Familien sich nicht leisten, für ihre Kinder einen Monatsbeitrag aufzubringen."
Sabrina Fröhlich zufolge verhält es sich bei Kulturangeboten und Lernnachhilfe ebenso. Die Chancenungleichheit wirke sich auf den gesamten Lebenslauf der betroffenen Kinder aus, sagt sie: "Oft ist es so, dass die Kinder, deren Eltern von Arbeitslosengeld II leben, auch keine großen Chancen haben."
Meistens bekommen sie auch einen niedrigen Schulabschluss, finden dann oft keine Arbeit und gehen oftmals den gleichen Weg wie die Eltern.
Instrumente gegen Kinderarmut
Eigentlich gibt es schon seit Jahren ein Instrument, das der Bildungsbenachteiligung von Kindern entgegenwirken soll: Das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket aus Bundesmitteln. Eltern können aus diesem Topf Geld beantragen, um etwa Nachhilfe für ihre Kinder zu bezahlen – allerdings erst, wenn diese versetzungsgefährdet sind. Das ist zum Beispiel die klassische Arbeit, die im Familienhaus in Magdeburg gemacht wird: Die Mitarbeiter dort informieren Eltern über die existierenden Hilfsangebote und füllen gemeinsam mit ihnen die passenden Anträge aus.
Bianka Söllner sagt, sie nehme die Familienhilfe aus eigenem Antrieb in Anspruch: "Weil ich viele Sorgen und Ängste hatte, habe ich mir gesagt: Jetzt gehe ich selber zum Jugendamt und frage nach. Vorher habe ich nie Bildungspakete beantragt. Das hilft wirklich viel."
Teilhabepaket sorgt nicht für Chancengleichheit
Doch vielfach greifen die Hilfen, die das Bildungs- und Teilhabepaket bietet, ins Leere – wie die Sozialpädagogin Ramona Stirtzel der Hochschule Magdeburg-Stendal berichtet: "Wir haben ganz viele Eltern, die nicht wissen: Wo bekomme ich was her, wo bekomme ich Unterstützung? Und deswegen ist es mir sehr wichtig, dass wir mehr Elternbildung anbieten und dass das ausgebaut wird. Dann können solche Pakete sicherlich sinnvoll sein."
Ganz grundsätzliche Kritik am jetzigen Aufbau der Familienförderung übt die Sozialdezernentin der Stadt Magdeburg, Simone Borris: "Mir wäre lieber gewesen, die Bundesregierung hätte damals gesagt: Das Geld wird investiert in Angebote für jedes Kind, Angebote von Bildung allgemein – als dieses bürokratische Antragstellen auf Leistung aus dem Bildungs- und Teilhabepaket." Dieser Kritik am Teilhabepaket schließt sich auch der Paritätische Wohlfahrtsverband an.
Damit wird Chancengleichheit nicht hergestellt und damit wird Kinderarmut auch nicht abgebaut.
Elternteile müssten immer wieder Anträge stellen, erklärt Gabriele Haberland – und auch Kinder müssten sich immer wieder vor Lehrern und Mitschülern offenbaren und zeigen, dass sie Geld vom Amt bekommen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert das als Stigmatisierung der Kinder.
Armutskonferenz berät über Ausweitung von Sozialarbeit
In Magdeburg sind Sozialverbände und Stadtvertreter am Mittwoch zu einer Konferenz zusammengekommen, die sich speziell um Kinderarmut dreht. Auf das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes kann die Konferenz zwar keinen Einfluss nehmen – aber hier wird beraten, wie die bestehenden Strukturen besser vernetzt werden können. Ein wichtiger Punkt dabei ist Sozialarbeit mit zusätzlichem Personal in Kindertagesstätten, die von Sozialverbänden seit Jahren gefordert wird.
Denn in Kitas können Eltern aus Hartz-IV-Familien schon früh auf Hilfsangebote aufmerksam gemacht werden und diese gemeinsam mit den Sozialarbeitern beantragen – zum Wohl der Kinder. Sozialdezernentin Simone Borris sagte MDR SACHSEN-ANHALT, auf der Konferenz werde konkret über eine Einführung von Kita-Sozialarbeit in Magdeburg gesprochen.
Zunächst sollten Kriterien festgelegt werden, in welchen Kitas die Stellen geschaffen werden sollen – etwa, wie viele Familien mit Hartz-IV-Hintergrund und wie viele Alleinerziehende im Einzugsbereich einer Kita leben. Borris glaubt, dass ab 2020 acht oder neun Sozialarbeiter in den Magdeburger Kitas eingesetzt werden können, finanziert durch das Kinderförderungsgesetz der Landesregierung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und auch Ramona Stirtzel von der Hochschule Magdeburg-Stendal begrüßen diese Ausweitung der Sozialarbeit in die Kitas.
Wer arm ist, fühlt sich nicht unbedingt so
Jones wird als Grundschüler von Sozialarbeit in Kitas natürlich nicht mehr profitieren. Aber er hat eine kleine Schwester, die – falls die Kita-Sozialarbeit in Magdeburg 2020 eingeführt wird – etwas besser gefördert werden könnte.
Bianka Söllner sieht sich und ihre Kinder selbst übrigens nicht als arm an. Ihr Bild von Kinderarmut ist ein drastischeres: "Die leben auf der Straße, haben nix zu essen– das ist für mich Armut."
Welche Nachteile ihr Sohn Jones gegenüber anderen Kindern haben könnte, kann sie nicht sagen. Sie ist froh, dass ihr im Familienhaus geholfen wurde, die Erstattung von Mitgliedsbeiträgen für Jones zu beantragen. Der Achtjährige Jones freut sich, bald einen Schwimmkurs zu machen und neue Freunde im Handballverein zu finden.
Über den Autor Roland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt - Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion. Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.
Quelle: MDR/rj
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | MDR SACHSEN-ANHALT | 06. März 2019 | 19:00 Uhr