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"So etwas noch nie erlebt"Die Rattenplage von Magdeburg – und was Corona damit zu tun haben könnte

15. September 2020, 18:14 Uhr

In der Landeshauptstadt werden immer mehr Ratten gesichtet. Die Nager verlieren zusehends ihre Scheu vor den Menschen. Zwei Orte sind besonders betroffen. Anwohner vermuten einen Zusammenhang zur Corona-Pandemie.

Ob es hier eine Plage gibt? Siegfried Köchy muss gar nicht antworten. Das übernimmt eine Ratte für ihn. Von einem Gebüsch wandert das Nagetier an diesem Freitagvormittag plötzlich über den Fußweg hinüber zum Ottersleber Teich. Ganz ohne Scheu, nur zwei Meter von dem Schädlingsbekämpfer mit 46 Jahren Berufserfahrung entfernt.

"So etwas wie momentan", sagt Köchy, "habe ich noch nie erlebt." Allein innerhalb einer Stunde beobachtet er an diesem Freitagvormittag mehr als 20 Ratten.

Magdeburg kämpft mit einer Rattenplage. Nicht nur am Ottersleber Teich im Süden der Landeshauptstadt, sondern auch im Norden am Neustädter See. Anwohner beobachten immer mehr Ratten, die ihnen immer näher kommen. Und das hängt wohl auch mit der Corona-Pandemie zusammen.

Wenn Essensreste aus dem Fenster fliegen

Christine Ermisch wohnt seit 14 Jahren in einem Zehngeschosser am Neustäder See. "Ratten habe ich hier in all den Jahren noch nie gesehen", sagt die Rentnerin. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Vor vier Monaten huschte eines der Tiere auf dem Weg von einem Müllcontainer zum anderen zum ersten Mal an ihr vorbei. "Ich konnte nicht mal aufschreien", sagt sie, "so geschockt war ich."

Sie spricht von Angst und Ekel. Sie traue sich nicht mal mehr, den Müll rauszubringen, habe Angst, in den Keller zu gehen. Ratten können schließlich hunderte Krankheiten auf den Menschen übertragen.

Ermisch sieht einen Zusammenhang zur Corona-Pandemie. Wissenschaftlich lässt der sich zwar nicht belegen, doch logisch erscheint die Erklärung: "Die Leute waren während des Lockdowns und sind immer noch mehr zuhause als früher. Sie kochen wahrscheinlich auch mehr und werfen mehr Essensreste aus dem Fenster oder entsorgen sie nicht richtig", sagt Ermisch. Denn das sei in der Hochhaussiedlung am Rande der Stadt ständig zu beobachten. "Altes Brot oder Bananenschalen, abgeknabberte Obstreste – das alles fliegt einfach auf die Straße."

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Deshalb verlieren Ratten ihre Scheu

Die Stadt Magdeburg kennt das Problem. In diesem Jahr hätten die Mitarbeiter des Gesundheits- und Veterinäramtes "tatsächlich viele Meldungen über Ratten im Stadtgebiet erhalten", erklärt Rathaussprecher Michael Reif. "Unser Gesundheitsamt arbeitet mit Hochdruck an der Bekämpfung", sagt er.

So schützen Sie sich vor Ratten

Das Umweltbundesamt empfiehlt zum Schutz vor Ratten folgende Maßnahmen:

  • Kellerfenster fest verschließen, sowie andere kleine Schlupflöcher
  •  Lebensmittel nicht offen lagern
  •  Mülltonnen fest verschließen und sauber halten
  •  Keine Speisereste herumliegen lassen
  • Keine Speisereste auf dem Komposthaufen im Garten werfen
  •  Keine Lebensmittelreste in der Toilette runterspülen
  •  Nistplätze, wie Gerümpel in der Garage, vermeiden
  •  Fallen aufstellen
  •  Im Notfall Kammerjäger rufen

Doch es gibt ein Problem. Denn das Füttern von Enten oder Tauben mache Bekämpfungsköder für Ratten unattraktiv. Die Futterreste bleiben für die Nagetiere übrig. Auch wildlebenden Katzen würden oft illegal gefüttert und das für sie ausgelegte Futter sei zu viel. Die milden Temperaturen seien zudem ein wichtiger Grund dafür, dass vermehrt junge Ratten zu sehen sind.

"Hinzu kommt", sagt Reif, "dass durch das Füttern auch Ratten ihre natürliche Scheu verlieren. Die Tiere warten teilweise sogar auf die nächsten Fütterungen durch Menschen." Sein Appell: "Wir bitten deshalb dringend darum, Enten, Tauben und Krähen nicht zu füttern!"

Ratten zieht es bald in Wohnungen

Ratten und Corona – diese Kombination sorgte zuletzt in New York für Schlagzeilen. In der US-Metropole sind die Nager seit jeher ein Problem. Durch die Restaurantschließungen gab es dort weniger Essensreste als sonst, also weniger Futter für die Tiere. Im Überlebenskampf wurden die Ratten aggressiver, näherten sich nach der Öffnung der Gaststätten sogar den Gästen in den Außenbereichen.

Sie würden sich in der Hungersnot gegenseitig auffressen und laut Experten auch ihren eigenen Nachwuchs. Die Zeitung "Daily News" titelte martialisch: "Die Ratten ziehen in den Krieg!"

Instagram-Story: Die Ratten im Video

Wir haben die von Ratten geplagten Orte in Magdeburg besucht – und die Ratten gesehen. Das und weitere Schilderungen von Anwohnern sowie eines Schädlingsbekämpfers sehen Sie auf unserer Instagram-Seite: @mdr_san.

So weit ist es in Magdeburg nicht. Doch auch hier ernähren sich die Nagetiere von den Abfällen der Menschen, auch hier gab es davon während des Lockdowns weniger. Nicht aber am Ottersleber Teich.

Anwohner berichten, dass viel gefüttert werde. Seit Corona zu viel. "Früher hat man die Ratten hier nur im Dunkeln gesehen, jetzt rennen sie zu fünft oder sechst mitten am Tag hintereinander her", erzählt ein Mann am Teich. Den Beweis liefert sogleich eine Gruppe von Ratten. Wie selbstverständlich laufen sie über den Schotterweg zum Wasser, beachten ihn gar nicht.

"Momentan ist es so schlimm wie nie", sagt der Mann mittleren Alters, der in der Nähe wohnt und hier öfter auf der Parkbank sitzt. Er ahnt: "Wenn es kalt wird und sie hier kaum noch etwas zu fressen kriegen, die Jungtiere zu sterben drohen, werden sie versuchen, in die Wohnhäuser reinzukommen. Erst an die Mülltonnen, dann in die Wohnungen."

Immerhin: In der Kanalisation sei "nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ein Ansteigen der Rattenpopulation nicht zu verzeichnen", erklärt Cornelia Kolberg, Sprecherin der Städtischen Werke Magdeburg (SWM).

"Da lachen die Ratten drüber"

Eine Ratte in der Wohnung – Siegfried Köchy kann diesen Albtraum vieler Menschen verstehen. "Ich würde nicht in der Nähe wohnen wollen", sagt der Schädlingsbekämpfer, während er am Ottersleber Teich steht. "Aus meiner Sicht", so Köchy, "wird hier zu wenig gegen die Ratten getan."

Ein Feld von vier Mal zwei Metern ist mit einem Zaun abgesperrt, darin befinden sich zwei Boxen mit Giftködern. Die Ratten interessieren sich dafür aber auch an diesem Freitagvormittag herzlich wenig, meiden das Zaunfeld konsequent. "Die lachen darüber", sagt Köchy. Solche Zaunfelder mit Giftködern stehen auch am Neustädter See.

Wer für die Rattenbekämpfung zuständig ist

Zwar beteuert die Stadt, bei der Bekämpfung der Ratten eng mit Wohnungsgenossenschaften zusammenzuarbeiten, doch zuständig ist die Stadt nur auf öffentlichen Flächen. Laut Schädlingsbekämpfungsverordnung ist für die Rattenbekämpfung anderswo der Eigentümer, Nutzungsberechtigte und sonstige Besitzer von Grundstücken, Woh- und Gewerberäumen verpflichtet.

Was getan werden müsste? "In dem Bereich, wo die Ratten sich aufhalten, müsste abgesperrt werden und eine Auslage von Giftködern erfolgen", sagt Köchy. "Die müsste dann alle drei Tage kontrolliert werden, um zu sehen, ob noch Laufwege vorhanden sind. Und das solange bis zur Tilgung der Ratten."

Christine Ermisch wünscht sich von ihrem Vermieter am Neustädter See mehr Engagement im Kampf gegen die Schädlinge. "Die Wohnungsgenossenschaft ist dafür zuständig", sagt sie. Und: "Wir wollen endlich wieder ohne Angst unseren Müll runterbringen oder in den Keller gehen können." Ohne, dass einem eine Ratte über den Weg läuft.

Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den AutorDaniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt, in der er seitdem in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet – als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

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Quelle: MDR/dg

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 13. September 2020 | 17:00 Uhr

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