Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Wegen sexueller Identität ermordet – wie Vorurteile zum Holocaust führten

28. Januar 2023, 08:56 Uhr

Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz befreit. An die Befreiung erinnert ein internationaler Gedenktag. Ein Opfer der Nationalsozialisten spielte bei dem diesjährigen Gedenken eine besondere Rolle, die Jüdin Mary Pünjer. Sie wurde als "Lesbierin" verhaftet und in Bernburg getötet. Ihr Schicksal verdeutlicht drastisch die Gefahr von Vorurteilen.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Wie eine Todesfabrik wirkt das Gebäude auf dem noch heute genutzten Klinikgelände in Bernburg nicht.

Nur ein Gedenkstein deutet an, dass hinter der gelben Fassade des Ziegelbaus gegen alle medizinischen und ethischen Grundsätze verstoßen wurde. Im Keller des Hauses sind innerhalb von drei Jahren etwa 14.000 Menschen vergast und verbrannt worden.

Zunächst waren es Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten, die als sogenannte "Lebensunwerte" in den Tod geschickt wurden, später kamen dann Häftlinge aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Flossenbürg, Groß-Rosen, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen hinzu.

Von der "Außenseiterin" zur "Volksfeindin"

Am 28. Mai 1942 wurde in Bernburg die Jüdin Mary Pünjer vergast. Zwei Jahre zuvor war sie in Hamburg verhaftet wurden, unter dem Vorwurf, sie sei "asozial" und "eine sehr aktive Lesbierin".

Obwohl die deutschen Gesetze seit 1872 Homosexualität ganz klar unter Strafe stellten, hatte es nach dem Ersten Weltkrieg eine gewisse Lockerung gegeben, zumindest in den Großstädten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich die Situation jedoch drastisch. Wer unter dem Vorwurf der Homosexualität in die Hände der Gestapo fiel, landete im KZ.

Die scharfe Verfolgung hatte mit der Nazi-Ideologie zu tun, erklärt Ute Hoffmann, Direktorin der Gedenkstätte Bernburg. "Sie störten das klassische Familienbild. Das heißt, die deutsche Familie, die mindestens drei bis vier Kinder haben sollte, die Mutter, die mindestens zehn Kinder zur Welt bringen sollte und dann auch gewürdigt wurde, für künftige Frontsoldaten." Es gebe also viele Aspekten, die homosexuelle Menschen in der NS-Zeit zur Ausnahme machten und zu ihrer Ausgrenzung führten.

Familienbild als Mordgrund?

Dass Homosexualität schon allein deshalb abzulehnen wäre, weil die dem angeblich natürlichen Trieb zur Fortpflanzung entgegenstehen würde, ist ein uraltes Vorurteil. Selbst heute noch ist es immer wieder in homophoben Äußerungen anzutreffen. Aktuelle Debatten vollziehen sich oft vor dem Hintergrund einer Diskussion über "richtige" oder "falsche" Familienbilder. Da werden nicht selten "konservative" Werte beschworen, die es nun vermeintlich zu verteidigen gelte.

Historikerin Ute Hoffmann verfolgt diese Diskussion mit einem kritischen Blick. "Es sind extrem gefährliche Argumente, weil man ein gesellschaftliches Normalbild vorgibt, gegen jede Individualität. Ich will aber selbst entscheiden, wie ich mein Leben gestalten kann. Und deswegen sind von solchen Debatten, wenn auch indirekt, noch mehr Menschen betroffen als diejenigen, die als Männer homosexuell oder als Frauen lesbisch sind."

Im Nationalsozialismus führte ein solches Denken zu den Verbrennungsöfen von Bernburg und anderswo.

Ausgrenzung noch immer Teil des Alltags

Wenn man in der als Dusche getarnten Gaskammer in Bernburg steht, dann wird einem schnell klar, warum der erste Artikel des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" die Basis für alle weiteren Ausführungen bildet.

In der Praxis allerdings ist dieser Verfassungsgrundsatz noch immer nicht vollständig umgesetzt, auch nicht für Menschen aus der LSBTIQ-Szene.

Vor allem gilt das, wenn Menschen ihre Lebensentwürfe sichtbar in der Öffentlichkeit vertreten. Das bestätigt Grit Merker vom Lesben- und Schwulenverband Sachsen-Anhalt: "Ich bin der Auffassung, dass insbesondere im Bereich Transfrauen Akzeptanzprobleme gibt. Also da hat die Gesellschaft tatsächlich massive Vorbehalte. Aber auch junge schwule Männer, die gewisse Feminismen nach außen tragen, sind durchaus mit Aggressionen konfrontiert."

Versteckte Homophobie

Welche Folgen Vorurteile haben können, zeigt sich in der Gasmordanstalt Bernburg deutlich. Wobei klar gesagt werden muss, dass nicht jeder Mensch mit homophoben Ansichten ein Nazi ist. Zwischen den Ayatollahs im Iran, dem russischen Präsidenten Putin oder den schwulenfeindlichen Vertretern unterschiedlichster Religionen gibt es doch erhebliche Unterschiede.

Und inzwischen gibt sich der Aufgeklärte unter den Schwulenhassern auch deutlich moderater, nach dem Motto: "Mir doch egal – aber bitte nicht immer so öffentlich." Für Grit Merker vom Lesben- und Schwulenverband keine unbekannte Floskel: "'Ich habe ja nichts dagegen, aber' – das begegnet uns nach wie vor häufig. Dahinter steckt ja im Grunde nichts Anderes als eine tiefe Ablehnung." Daraus spreche auch, dass es keine vollständige Akzeptanz gebe.

Wie auch gegen Radioaktivität oder Quecksilber hat der Mensch leider kein Organ, das Vorurteile ausscheidet, sodass auch für Vorurteile Grenzwerte gelten. Diese sind allerdings nicht medizinisch festgelegt, sondern müssen im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt werden.

NS-Massenmörder: "normale" Menschen

Ute Hoffmann ist Historikerin und hat 35 Jahre lang die Geschichte der Mordanstalt erforscht, vor allem die Geschichte der Täterinnen und Täter, da von den Opfern kaum mehr als ein Verwaltungsvorgang übriggeblieben ist. Das erschreckende Fazit ihrer Untersuchungen: "Hier war der Otto-Normal-Verbraucher beschäftigt." Und die Täter waren oft sogar noch nicht mal NSDAP-Mitglieder.

Weder waren die Beschäftigten gezwungen worden, in dieser Mordmaschinerie zu arbeiten, noch erwuchsen ihnen Nachteile, wenn sie kündigten. In den drei Jahren wechselten gerade einmal zwei Frauen in eine andere Tätigkeit. "Die eine war dann Schreibkraft in einer Gauleitung in Frankfurt am Main. Die andere heiratete und übernahm die Buchhaltung in der Autowerkstatt ihres Mannes."

Trügerische Gewissheiten

Auch deshalb zeigt sich Ute Hoffmann kritisch, wenn bei den zahlreichen Klassenführungen immer wieder Lehrerinnen den Lernerfolg mit der Frage prüfen wollen, wie sich wohl die Schülerinnen und Schüler in der NS-Zeit verhalten hätten.

Denn man könne sich nicht einfach so in fremde Zeiten zurückversetzen, ob es nun das Mittelalter oder der Nationalsozialismus sei, so Hoffmann.

Jüngste Umfragen zeigen, dass jeder dritte Deutsche glaubt, seine Vorfahren seien aktiv im Widerstand gegen Hitler gewesen. Für Ute Hoffmann liegt der Sinn des Erinnerns in einer gegenwärtigen Fragestellung: "Beteiligen wir uns zum Beispiel an einem Mobbing? Reichen wir die Hand, wenn jemand Hilfe braucht – auch, wenn wir die Person nicht gut kennen?"

Jeder komme in solche Entscheidungssituationen. "Und diese Entscheidung wollen wir mit dem Blick auf die Geschichte ein bisschen einfacher machen. Weil eine solche Entscheidung bedeutet, aus der Gruppe auszuscheren, sich gegen einen Mainstream zu stellen. Und das kostet mehr Kraft, als mit der Masse mitzulaufen", erklärt Hoffmann.

Diktatoren bekämpfen das Unangepasste

Es ist das Nonkonformistische, das Unangepasste, das Andersartige, dass in Diktaturen für Beunruhigung sorgt und im Zweifel im Namen einer wie auch immer festgelegten "Normalität" bekämpft wird.

Gegen den Mainstream zu schwimmen beanspruchen derzeit aber vor allem jene für sich, die glauben, gegen die liberalen Werte einer aufgeklärten Gesellschaft im Namen "ewiger Wahrheiten" oder einer gefühlten Normalität zu Felde ziehen müssen. Dass sie dies ohne öffentliche und ohne staatliche Repression tun können, zeigt, dass der derzeit inflationär gebrauchte Diktaturbegriff wohl arg übertrieben ist. Denn auch wer gegen den Mainstream schwimmt, kann in falscher Richtung unterwegs sein.

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MDR (Uli Wittstock, Hannes Leonard)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 27. Januar 2023 | 18:10 Uhr

9 Kommentare

Anita L. am 29.01.2023

Der Vater meiner Schwiegermutter kam in Pirna Sonnenstein ums Leben. Er litt an leichter Lernschwäche... Ich glaube, sie kann bis heute das Schicksal ihres Vaters nicht in allen Aspekten nachrecherchieren, weil es für sie einfach nicht zu ertragen ist.

Anita L. am 29.01.2023

So? Wer versucht denn, anderen Homosexualität als "Standard" einzureden oder die Heterosexualität zu verbieten? Dafür hätte ich doch wahnsinnig gerne mal ein belastbares Beispiel. Ehrlich: Ich habe noch keinen einzigen homosexuellen oder transgender Menschen erlebt, der anderen vorgeworfen hätte, ihre Heterosexualität zu sehr in der Öffentlichkeit zu betonen, oder der gefordert hätte, dass man doch gern heterosexuell sein dürfe, aber "bitte" doch im Privaten... Meine Schülerin zwingt niemanden, Paul statt Ursula genannt zu werden, aber manche Kollegen schaffen es bis jetzt nicht, sie Ursula statt Paul zu nennen, ohne sich zu "versprechen". Mein Schüler im rosa Pulli zwingt niemanden, im rosa Pulli zu erscheinen, sondern wünscht sich einfach nur, nicht für seinen rosa Pulli gemobbt zu werden.
Sie schreiben einfach nur Unsinn.

hinter-dem-Regenbogen am 28.01.2023

"" . . . und es ist wichtig , dass alle Welt darüber informiert wird. Zunächst werden aber alle informiert , die unterdrückt werden - es könnte ja sein, dass einer noch nicht weiss, dass er diskriminiert wird . . . . . "" (ironie)

Wie man so aber zu einer Alltags- "Normalität" gelangen will ? wenn man das "Unnormale" zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurs deklariert.

Sollten wir nicht lieber das Leben feiern, weil heute alles anders (zum Besten) ist, als gestern. Das verbietet doch nicht, dass man sich an die Schandtaten von Gestern und Vorgestern erinnert - man sollte aber tunlichst vermeiden, die Schanddtaten von Gestern, zu einem Programm von heute aufzuwiegen.
Mord, das ist doch jederman klar, ist grausam und gehört geächtet - das muß nicht jeden Tag auf dem Frühstückstisch serviert werden.

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