Familienbetrieb in Schermcke "Nur so geht das" – warum eine frühere DDR-Eisdiele noch immer Erfolg hat

27. Oktober 2019, 15:16 Uhr

Zu DDR-Zeiten nutzte das Ehepaar Jordan eine kleine Lücke im System für den Hauch von Kapitalismus: Sie eröffneten ein Eiscafé. Heute führt Sohn Christoph die Kult-Eisdiele. Eine Geschichte über berufliche Konstanz und familiären Zusammenhalt. Teil 1 unserer Serie "Gestern, heute, morgen".

Daniel George
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Hannelore und Christoph Jordan
Hannelore Jordan (l.) und ihr Sohn Christoph vor dem Eiscafé der Familie Bildrechte: MDR Collage/Daniel George/Martin Paul

Der Rasen im Garten ist nass. So ganz verzogen haben sich die dunklen Wolken am Himmel noch immer nicht. Dieser verregnete Nachmittag im Oktober fühlt sich so richtig nach Herbst an: Kalt und ungemütlich ist es. Doch trotzdem schlendert aus dem Eiscafé Jordan ein Mann mittleren Alters, mit der linken Hand öffnet er die Tür, in der rechten hält er ein Vanille-Eis, und weil er es gar nicht abwarten kann, schleckt er beim Verlassen des Verkaufsraums bereits daran.

In Schermcke haben die Leute immer Lust auf Eis. So scheint es zumindest. Seit 40 Jahren besteht das Eiscafé der Familie Jordan im kleinen Ortsteil der Stadt Oschersleben in der Börde nun schon – geführt immer in Familienhand. Das nennt sich berufliche Konstanz. "Jeden Morgen aufstehen, jedes Wochenende aufstehen – so musste das schon früher sein und so haben wir das durchgezogen", sagt Hannelore Jordan. "Du kannst nicht einfach aufhören, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt. Du musst dein Ding durchziehen. Nur so geht das."

Von der Krankenschwester und dem Elektriker zu Eis-Verkäufern

Das Ding durchziehen heißt im Fall der Jordans: Eis verkaufen. Das hätte Hannelore Jordan zu Beginn ihres Berufslebens auch nicht gedacht. "Meine Eltern hatten eine Schlachterei. Wir sitzen hier im Schlachthaus", sagt die 69-Jährige im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Heute ist das alte Schlachthaus ein uriges Wohnzimmer mit Kamin. "Meine Mutter hat immer gesagt: So ein großes Geschäftshaus mit einem normalen Verdienst zu halten, ist schwierig." Seit 1957 war der Konsum im Haus. Als der jedoch in eine neu gebaute Kaufhalle umzog, mussten sich Hannelore Kraft, die als Krankenschwester arbeitete, und ihr Mann, der Elektriker war, etwas einfallen lassen – und fanden eine Lücke im DDR-System.

"Ein kleines Café oder eine Eisdiele durften wir eröffnen. Alles andere war ja sonst Kapitalismus, aber das haben sie den Leuten zugestanden", erinnert sich Hannelore Jordan. "Ohne den Segen von oben ging nichts." Doch den hatten sie. 1979 war das. Und dann ging es los: "Am Anfang habe ich noch als Gemeindekrankenschwester gearbeitet und am Nachmittag dann Eis verkauft." Irgendwann lief der Laden aber so gut, dass Hannelore Jordan ihren Job aufgab. "Als Krankenschwester habe ich damals vielleicht umgerechnet 400 bis 500 Mark im Monat verdient." Das Eis-Geschäft war lukrativer. Auch ihr Mann zog sich ein Jahr später aus seinem Job zurück und stieg Vollzeit im Eiscafé mit ein.

Viele unserer heutigen Kunden haben schon zu DDR-Zeiten als Kinder vor dem Tresen gestanden, heute kaufen sie ihren eigenen Kindern hier Eis.

Hannelore Jordan über das traditionsreiche Schermcker Eis

"Was wir damals gemacht haben", sagt Hannelore Jordan, "war mit der heutigen Zeit nicht vergleichbar." Eine Eismaschine? Gab es nicht. War viel zu teuer. Und die Wartezeiten lang. Also "haben wir alte Maschinenteile aus Halle besorgt und uns eine Maschine selbst zusammengebaut mit Unterstützung eines Kühltechnikers", erinnert sich Hannelore Jordan.

Die Zutaten waren ein anderes Thema: "Wir mussten vieles mit Aromen machen, ohne frische Zutaten. Obst gab es ja kaum", sagt sie. Erdbeeren und Kirschen wurden selbst angebaut und eingekocht. "Wenn wir Glück hatten, gab es mal Bananen." Auch Waffeln waren nur schwer zu beschaffen, im Winter etwas leichter als im Sommer, so wurden sie auf Vorrat gekauft und gelagert, bis die Monate wieder wärmer wurden. 15 Pfennig kostete ein Fruchteis damals, genau wie ein Vanille-Eis. Schoko war etwas teurer: 20 Pfennig. Streng wurde kontrolliert, ob eine Kugel auch so viel wog, wie sie wiegen sollte. Wog sie nur etwas weniger, "galt das ja schon als Verrat am Volk", so Hannelore Jordan.

"Manch einem war das alles zu viel, der hat in den Sack gehauen", sagt sie mit Blick auf andere Eiscafés. Aber: "Wir mussten immer weitermachen, um Geld zu verdienen. Wir haben damit ja unseren Lebensunterhalt bestritten." Und das sogar gut: "In den ersten Jahren konnten wir es uns sogar leisten, die Eisdiele im Winter zuzulassen."

Nach der Wende: Finanz-Probleme

Dann kam die politische Wende – und mit ihr die Probleme. "Diese Zeit danach", sagt Hannelore Jordan, "war finanziell die schwierigste." Die Menschen "sind in Richtung Westen gefahren, haben sich dort ihr Eis gekauft. Sie wollten das Neue ausprobieren und nicht das, was sie 30 Jahre lang hatten". Familie Jordan musste an ihr privates Erspartes gehen, um den Betrieb am Laufen zu halten. Doch sie fasste auch einen Entschluss: Alles bleibt, wie es ist. "Die Leute haben uns gesagt, wir müssen jetzt einen Italiener holen, die wissen am besten, wie man Eis macht. Alle wussten es plötzlich besser", sagt Hannelore Jordan. Aber: "Mein Mann war da eher konservativ." Zum Glück, wie sich später herausstellte.

Die grundsätzliche Eis-Rezeptur ist in Schermcke seit 40 Jahren dieselbe. Große Experimente mit exotischen Sorten überlassen die Jordans den anderen. In ihrem Eiscafé wissen die Kunden, was sie bekommen: "Leckeres Eis", sagt Hannelore Jordan, "ist das Wichtigste. Frische Produkte! Die Qualität muss stimmen. Dann kommen die Leute wieder. Viele unserer heutigen Kunden haben zu DDR-Zeiten als Kinder vor dem Tresen gestanden, heute kaufen sie ihren eigenen Kindern hier Eis." Welche Sorten? "Erdbeer, Vanille oder Schoko gehen immer noch am besten – wie vor 40 Jahren."

Jahrelang führten Hannelore Jordan und ihr Mann das Eiscafé zu zweit. Ohne Mitarbeiter. Es war ein Knochenjob. Und: "Die Arbeit hat uns auch krank gemacht. Es musste ja immer weitergehen – egal, ob man erkältet war oder andere gesundheitliche Probleme hatte. Es interessiert vor dem Tresen niemanden, ob du krank bist, ob du Liebeskummer hast oder ob deine Oma gestorben ist. Du musst funktionieren. Das verlangen die Kunden von dir."

2006 erkrankte das Ehepaar: Hannelore Jordan an Krebs, ihr Mann an einer Herzkrankheit. Er starb vor zwei Jahren daran. In der schwierigsten Zeit entschied sich Sohn Christoph, in das Familien-Unternehmen einzusteigen. Mitarbeiter wurden eingestellt. "Sonst", sagt Hannelore Jordan, "hätten wir das Eiscafé bestimmt schon dicht gemacht."

Wochenend-Arbeit: "Da hast du erstmal keinen Bock drauf"

Die 69 Jahre alte Rentnerin wohnt im selben Haus, in dem auch das Eiscafé beheimatet ist, ihr Sohn mit seiner Familie gleich nebenan. "Als 17-Jähriger hatte ich keine Lust, das zu übernehmen und habe eine Lehre als Tischler angefangen", sagt Christoph Jordan. Denn: "Ich habe ja gesehen, wie meine Eltern immer an jedem Wochenende arbeiten mussten. Da hast du dann erstmal keinen Bock drauf."

Doch dann kamen die gesundheitlichen Probleme seiner Eltern. Der Laden lief aber. Und Christoph Jordan war mittlerweile erwachsen geworden. "Ich konnte dort mein Geld verdienen, musste nicht für jemand anderes arbeiten und sonstwo hinfahren", sagt er zu seiner Entscheidung. Und: "Ich bin es ja inzwischen auch nicht anders gewöhnt, als jedes Wochenende zu arbeiten."

Mittlerweile hat das Eiscafé Jordan in den Sommermonaten acht Mitarbeiter, zum Teil festangestellt, zum Teil aber auch Saisonkräfte. Im Garten, dem Verkaufsraum und der Gaststube ist Platz für 100 Leute. Im Winter ist das Eiscafé auch geöffnet, die dazugehörige Gaststätte ebenfalls. "Es war immer gut besucht, aber die Massen an Kunden, wie wir sie heute vor allem im Sommer haben, hatten wir damals nicht", sagt Hannelore Jordan.

Die Sonne hat die Wolken mittlerweile verdrängt. Plötzlich verwandelt sich dieser triste Oktobernachmittag doch noch in einen schönen. Und Hannelore Jordan sagt zum Abschied: "40 Jahre haben wir geschafft – und jetzt gehen wir die nächsten an." Ihr Sohn sitzt neben ihr im alten Schlachthaus – und nickt.

Daniel George
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt, in der er seitdem in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet – als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

Quelle: MDR/dg

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 27. Oktober 2019 | 19:00 Uhr

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