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AuswertungMehr antisemitische Vorfälle in Sachsen-Anhalt seit Hamas-Angriff auf Israel

19. Juni 2024, 18:57 Uhr

Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und den israelischen Militäroperationen im Gaza-Streifen ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Sachsen-Anhalt stark gestiegen. Die Meldestelle Antisemitismus registrierte seitdem im Schnitt täglich mindestens einen Vorfall.

178 Fälle von Antisemitismus im vergangenen Jahr hat die Recherche- und Meldestelle Antisemitismus (RIAS) in Sachsen-Anhalt verzeichnet. Besonders deutlich ist der Anstieg seit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem darauf folgenden israelischen Militäreinsatz: Allein seit dem 7. Oktober 2023 wurden 95 antisemitische Vorfälle registriert. 

Es gehe nicht um die Statistik allein, sagt der Vorsitzende des Landesverbandes jüdischer Gemeinden, Max Privorozki. Antisemitismus werde von den Jüdinnen und Juden im Land gefühlt. Er persönlich habe seit dem 7. Oktober über 40 antisemitische Hass-Mails und -briefe erhalten.

Darunter Beschimpfungen und sogar Morddrohungen – teilweise mit Klarnamen unterzeichnet. "Am Anfang war ich halb erschrocken, halb wütend. Jetzt ist es so etwas wie Routine: ich leite es sofort weiter an die Polizei. Man gewöhnt sich daran – aber das ist nicht gut."

Wir fühlen diese Zahlen. Der Antisemitsmus ist krass gestiegen.

Max Privorozki | Vorsitzende Landesverband jüdischer Gemeinden

Von Beleidigung bis Verschwörungsphantasien

Vor allen Dingen "verletzendes Verhalten" wurden registriert, also etwa Beleidigungen: 144. Oft würde die Haltung verbreitet, Jüdinnen und Juden würden nicht zu Deutschland gehören. Hinzukommen Relativierungen oder gar Leugnungen des Holocaust. Auch zahlreiche Fälle von moderner antisemitischen Verschwörungserzählungen wurden festgestellt – also etwa die Erzählung, Jüdinnen und Juden würden Regierungen und das Bankenwesen kontrollieren.  Auch 13 gezielte Sachbeschädigungen wurden festgestellt. 

Die gravierendsten Fälle waren ein Angriff und ein Fall von extremer Gewalt, die potenziell lebensbedrohlich sein kann: Der Betroffene wurde mit mehreren Schlägen gegen den Kopf verletzt. 

7. Oktober als Beschleuniger

Der 7. Oktober war ein Beschleuniger der Vorfälle: Jüdinnen und Juden seien danach häufiger in Verantwortung gezogen worden für das Verhalten Israels, es seien Gedenkfeiern gestört worden, es habe deutlich mehr Beleidigungen und Bedrohungen gegeben – sagt, Michael Schüßler von der Meldestelle RIAS Sachsen-Anhalt. "Aus Gesprächen mit den Ratsuchenden wissen wir, dass diese Sorgen da sind - die sich dann auch bestätigen, dass es zu Vorfällen kommt: Nicht nur Online, sondern konkret im Alltag - auf der Straße, im sozialen Umfeld, auf dem Arbeitsplatz." 

Antisemitismus habe keinesfalls am 7. Oktober angefangen, aber fast alle, die sich an die Dokumentationsstelle gewandt hatten, berichteten, dass sie seitdem eine Entsolidarisierung wahrnehmen und ihr Gefühl der Schutzlosigkeit größer geworden sei.

Häufig rechtsextreme und verschwörungsideologische Motivation

Häufig ist Antisemitismus politisch motiviert: 17 Vorfälle ordnet RIAS dem rechtsextremen Spektrum zu, 26 Fälle haben einen verschwörungsideologischen Hintergrund. Linksextremer Antisemitismus wurde 12 Mal festgestellt, islamistischer ein mal. Schüßler sagt auch: "Antisemitismus kommt nicht nur von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft." Denn die meisten Fälle konnten keiner speziellen politischen Richtung zugeordnet werden. 

Wir erleben alltäglichen Antisemitismus und eine Verschiebung der Selbstverständlichkeiten. Wir müssen Antisemitismus den Kampf ansagen und keinesfalls nachlassen.

Wolfgang Schneiß | Ansprechpartner für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt

Landesregierung unterstützt Monitoring

Die Landesregierung unterstützt das Monitoring, das die Recherche und Meldestelle nun erstmals vorgelegt hat. Die registrierten Fälle können von der Polizeilichen Statistik abweichen: Häufig haben Betroffene Bedenken, ihre Erfahrungen bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen. Nicht alle von RIAS erfassten Vorfälle sind strafbar. Der Ansprechpartner für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus in Sachsen-Anhalt, Wolfganz Schneiß, sagt: "Die Meldestelle ist zivilgesellschaftlich, und sie ist unabhängig von der Staatskanzlei. Sie darf uns kritisieren, sie muss das auch." 

Es handelt sich um den ersten Jahresbericht für Sachsen-Anhalt, den RIAS vorlegt. 2022 war die Meldestelle noch im Aufbau, hatte damals aber bereits 47 Vorfälle dokumentiert. Die Meldestelle selbst sieht eher davon ab, Anzeigen zu stellen - sie möchte für Betroffene von Antisemitismus ein Ansprechpartner sein an den diese sich im Vertrauen wenden können.

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MDR (Roland Jäger, Moritz Arand)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 19. Juni 2024 | 19:00 Uhr