Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben
Bevor sie eine Psychotherapie beginnen können, müssen viele Patientinnen und Patienten lange nach einer Praxis suchen und auf einen Platz warten. Bildrechte: imago/Felix Jason

Psychische ErkrankungenTrotz Vollversorgung: Lange Wartezeiten für Psychotherapie in Sachsen-Anhalt

21. Dezember 2022, 18:34 Uhr

Offiziell ist Sachsen-Anhalt "voll versorgt" mit Psychotherapeuten. Trotzdem müssen viele Patienten lange auf einen Therapieplatz warten. Wer auf dem Land lebt, muss für eine Psychotherapie oft weite Wege auf sich nehmen. Die Corona-Pandemie hat die Lage verschärft. Therapeuten, Krankenkassen und Patienten sehen unterschiedliche Ursachen für die langen Wartezeiten – und unterschiedliche Möglichkeiten, um daran etwas zu ändern.

Für viele Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, ist es schwer, schnell an Hilfe zu kommen. Das hatte zuletzt eine Erhebung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gezeigt. In Sachsen-Anhalt gibt es offiziell genug Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Doch die Wartezeit auf eine Therapie beträgt auch hier in der Regel mehrere Monate.

Dabei können in Sachsen-Anhalt immer mehr Menschen aufgrund von psychischen Erkrankungen nicht arbeiten. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse sind die Fehltage von 2011 bis 2021 stark gestiegen: von 208 auf 355 Tage je einhundert Erwerbstätiger. Dieser Trend sei in ganz Deutschland zu beobachten, Sachsen-Anhalt liege aber über dem Bundesschnitt.

Hausärzte sind oft erste Anlaufstelle bei psychischen ErkrankungenHausärztinnen und Hausärzte sind meist die ersten Ansprechpartner bei psychischen Problemen. Bei Verdacht auf eine Depression oder ähnliche Erkrankungen werden Betroffene an eine psychotherapeutische Praxis überwiesen.

Der Therapeut oder die Therapeutin klärt ab, ob eine psychische Erkrankung vorliegt, die weiter behandelt werden soll. In zwei bis vier probatorischen Sitzungen lernen Therapeuten und Patienten einander gewissermaßen kennen. Am Ende der Sitzungen entscheiden Patient und Therapeut gemeinsam, ob eine weitere Behandlung stattfindet.

Welche Therapieformen die Krankenkassen bezahlen

Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für sogenannte Richtlinienverfahren der Psychotherapie. Das sind Therapieformen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist. Darunter fallen den Richtlinien zufolge die Verhaltenstherapie, die Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie die systemische Therapie. Voraussetzung ist, dass durch die Therapie eine Erkrankung erkannt, behandelt oder eingedämmt werden kann. Beratung, beispielsweise für Familien oder Paare, wird nicht von den Kassen übernommen.

Bedarfsplanung soll flächendeckende Versorgung sichern

Dass Arzt- und Psychotherapiepraxen für alle Menschen gleichermaßen gut zu erreichen sind, soll in Deutschland die sogenannte Bedarfsplanung sicherstellen. Dabei wird berücksichtigt, dass größere Städte das Umland mitversorgen.

Für Magdeburg veranschlagt die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt (KVSA) rund 3.100 Einwohnerinnen und Einwohner pro psychotherapeutischer Praxis. In den benachbarten Kreisen Börde, Jerichower Land und dem Salzlandkreis sind es fast doppelt so viele.

Diesen Zahlen entsprechend vergibt die Kassenärztliche Vereinigung Kassensitze an Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Hinzu kommen weitere Sitze, die sich durch eine Quotenregelung ergeben. Laut dieser soll jede fünfte Stelle an Kinder- und Jugendpsychotherapeuten vergeben werden und jede vierte an ärztliche Therapeutinnen und Therapeuten.

Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten

Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten haben ein Psychologiestudium und anschließend eine Therapeutenausbildung absolviert. Sie dürfen keine Medikamente verschreiben.

Psychiaterinnen und Psychiater haben zunächst Medizin studiert und sich anschließend als Fachärzte in Psychiatrie und Psychotherapie ausbilden lassen. Sie dürfen als ärztliche Psychotherapeuten arbeiten und zudem Medikamente verschreiben.

Kassenärztliche Vereinigung: Sachsen-Anhalt "bedarfsgerecht versorgt"

Sachsen-Anhalt ist, Stand Mitte Dezember, "bedarfsgerecht versorgt". Das ergibt eine Anfrage an die Kassenärztliche Vereinigung (KVSA). Mit etwa 442 besetzen Stellen liegt der Versorgungsgrad demnach bei 100 Prozent. Hat eine Region 110 Prozent oder mehr der geplanten Stellen besetzt, gilt sie als überversorgt. In Sachsen-Anhalt müssten dafür rund 487 Sitze vergeben sein.

Alles anzeigen

Durch die Quotenregelung sind laut KVSA insgesamt etwa 505 Stellen besetzt. Therapeutinnen und Therapeuten für Erwachsene oder Kinder und Jugendliche könnten noch im Altmarkkreis Salzwedel und im Salzlandkreis einen Kassensitz besetzen. Die anderen Planungsgebiete seien abseits der Quotenregel gesperrt. Wer Hilfe sucht, spürt die Vollversorgung auf dem Papier jedoch häufig nicht.

Mehrere Monate Wartezeit bis zur Therapie

In Sachsen-Anhalt vergehen im Schnitt fast sechs Wochen, bevor eine hilfsbedürftige Person ein Erstgespräch bekommt. Das zeigt eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer aus dem Jahr 2018. Sachsen-Anhalt liegt damit etwa im Bundesschnitt. Bis die eigentliche Therapie beginnt, vergeht demnach deutlich mehr Zeit. Aktuellere Zahlen auf Landesebene liegen derzeit nicht vor. Wie lange die Patientinnen und Patienten auf ein Erstgespräch warten müssen, kann nur durch Studien erhoben und nicht anhand von Gesundheitsdaten ermittelt werden.

Eine Recherche von rbb24 hatte im Frühjahr gezeigt, dass es in Deutschland noch einmal 18 Wochen im Median dauert, bis nach einem Erstgespräch regelmäßige Sitzungen beginnen. Auf dem Land dauere es zudem deutlich länger als in der Stadt.

MDR SACHSEN-ANHALT hat mehrere gesetzliche Krankenkassen nach aktuellen Zahlen befragt. Nur die AOK Sachsen-Anhalt konnte Daten für das Bundesland liefern: Ihre Versicherten haben demnach 2021 im Schnitt 17 Wochen gewartet, um nach der ersten Sprechstunde die Therapie zu beginnen.

Ich muss in der Woche zwei Sprechstunden für neue Patienten anbieten. Dafür mache ich weniger reguläre Sprechstunden.

Psychotherapeut aus Magdeburg

Eine Umfrage von MDR SACHSEN-ANHALT unter mehreren psychotherapeutischen Praxen im Land zeigte kein klares Ergebnis. Die meisten konnten keine genauen Zahlen nennen. Oft hieß es: Mehr Leute fragen nach einer Therapie, als die Praxen anbieten können. Um offen sprechen zu können, wollten alle Befragten anonym bleiben.

Eine Psychotherapeutin aus dem Saalekreis erzählte, dass sie möglichst nur dann Erstgespräche anbietet, wenn sie die Patienten auch übernehmen kann. Ein Psychotherapeut aus Magdeburg sieht es ähnlich: "Das Nadelöhr bleibt die Sprechstunde: Ich muss in der Woche zwei Sprechstunden für neue Patienten anbieten. Dafür mache ich weniger reguläre Sprechstunden."

Wer Hilfe braucht, muss ausdauernd sein

Die Therapeutin aus dem Saalekreis sagte, sie ermuntere Betroffene, für die sie keinen Platz habe, dran zu bleiben: "Alle Praxen im Umkreis durchtelefonieren und nach sechs bis acht Wochen die gleiche Runde drehen. Das ist eine hohe Hürde, wenn es einem schlecht geht und das kann nicht jeder. Das ist nicht gut – aber wer dran bleibt, kommt erfahrungsgemäß unter." 

Zudem zeigte die MDR-Umfrage, dass es teilweise schwer ist, Praxen überhaupt zu erreichen: Die bei der Kassenärztliche Vereinigung angegebenen Telefonzeiten waren zum Teil falsch, durch Krankheit oder Urlaub war niemand erreichbar oder ein Anrufbeantworter sagte direkt, dass es keine freien Therapieplätze gibt.

Sie hatte monatelang alles abtelefoniert. Als ich gesagt habe, dass ich einen Platz für sie habe, hat sie hemmungslos geweint.

Psychotherapeut aus Magdeburg | über die Reaktion einer Patientin

Für Menschen mit weniger akuten, aber dennoch belastenden psychischen Problemen kann es schwierig sein, so lange durchzuhalten. Ein Psychotherapeut aus Magdeburg erzählte MDR SACHSEN-ANHALT, er hätte kürzlich eine Frau mit einer guten Nachricht zum Weinen gebracht: "Sie hatte monatelang alles abtelefoniert. Als ich gesagt habe, dass ich einen Platz für sie habe, hat sie hemmungslos geweint."

Hilfsangebote in Ihrer Region

Bei akuten Krisen und Notfällen – dazu zählen beispielsweise konkrete Gedanken an Suizid – rufen Sie notärztliche Hilfe über die 112 oder suchen Sie eine psychiatrische Klinik auf.

Eine Übersicht stationärer Kliniken, ambulanter Behandlungsmöglichkeiten und Beratungsstellen bietet der "Psychiatrie-Wegweiser" des Gesundheitsministeriums. Die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt bietet auf ihrer Website ein Verzeichnis der Arztpraxen und Psychotherapeuten. Gesetzlich versicherte Patientinnen und Patienten können sich Termine für Sprechstunden über die Terminservicestellen vermitteln lassen. Das geht telefonisch über die 116 117 sowie online über den "eTerminservice".

In vielen Städten gibt es zudem sozialpsychiatrische Dienste. Das sind Anlaufstellen für Menschen mit psychischen oder sozialen Problemen und ihre Angehörigen. Sie leisten schnell und einfach Hilfe – beispielsweise in Form von Krisenberatung, Einzel- und Gruppengesprächen und Unterstützung bei Behördengängen – oder vermitteln Hilfesuchende an geeignete Stellen. Hier finden Sie den sozialpsychiatrischen Dienst in Ihrer Region:

  • Anhalt-Bitterfeld
  • Börde
  • Burgenlandkreis
  • Dessau-Roßlau
  • Halle
  • Harz
  • Jerichower Land
  • Magdeburg
  • Mansfeld-Südharz
  • Saalekreis
  • Salzlandkreis
  • Altmarkkreis Salzwedel
  • Stendal
  • Wittenberg


In Magdeburg, Halle und dem Saalekreis gibt es außerdem Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste, die Kinder, Jugendliche und deren Eltern oder andere Bezugspersonen unterstützen.

Für Geflüchtete, die sich im Asylverfahren befinden oder deren Asylantrag abgelehnt worden ist, bietet das Psychosoziale Zentrum für Migrantinnen und Migranten (PSZ) in Halle und Magdeburg kostenlos und vertraulich Therapie und Beratung an.

Hilfe per Telefon und online

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr unter der 0800 111 0 111, der 0800 111 0 222 sowie online per Mail oder Chat erreichbar.

Informationen zu Depression für Betroffene und Angehörige bietet die Stiftung Deutsche Depressionshilfe online sowie telefonisch unter der 0800 33 44 533 zu folgenden Sprechzeiten: Montag, Dienstag und Donnerstag 13:00 bis 17:00 Uhr, Mittwoch und Freitag 8:30 Uhr bis 12:30 Uhr. In einem Diskussionsforum können Sie sich außerdem mit anderen Betroffenen austauschen. Kinder und Jugendliche mit Depression finden beim Online-Angebot Fideo Informationen und Unterstützung.

Die "Nummer gegen Kummer" ist eine anonyme und kostenlose Hotline für Kinder und Jugendliche. Sie ist montags bis samstags von 14:00 bis 20:00 Uhr unter der 116 111 erreichbar. Am Samstag übernehmen ausgebildete junge Beraterinnen und Berater zwischen 16 und 27 Jahren das Gespräch. Dazu gibt es Online-Beratung per Mail oder Chat. Unter der 0800 111 0 550 ist zudem montags bis freitags von 9:00 bis 17:00 Uhr und dienstags und donnerstags bis 19:00 Uhr ein Elterntelefon geschaltet.

Der Krisenchat bietet rund um die Uhr kostenlose Chatberatung für junge Menschen unter 25 Jahren. Für Hilfesuchende aus der Ukraine gibt es dort ein zusätzliches Angebot auf Ukrainisch und Russisch.

Therapeutenkammer beklagt Mangelversorgung

Für besonders dringende Fälle – etwa Gedanken an Suizid – sind laut der Sprecherin der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK), Antje Orgass, Kliniken und Krankenhäuser die richtige Anlaufstelle. In derart schweren Fällen rate sie immer zu einer Einweisung, sagte Orgass MDR SACHSEN-ANHALT. Für Menschen, die sich in anderen dringenden psychischen Krisen befinden, gebe es zudem die Möglichkeit einer Akutbehandlung. Das sei aber nur eine Kurzzeitintervention, keine Therapie.

Die Frage 'Gibt es genügend Psychotherapeuten' kann man aus Patientensicht natürlich ganz klar mit 'Nein' beantworten.

Antje Orgass | Ostdeutsche Psychotherapeutenkammer

"Die Frage 'Gibt es genügend Psychotherapeuten‘ kann man aus Patientensicht 'natürlich ganz klar mit 'Nein' beantworten", sagte Orgass MDR SACHSEN-ANHALT. Zu den langen Wartezeiten auf eine Therapie kämen im ländlichen Raum zusätzlich weite Wege. 

Corona-Pandemie sorgt für mehr Therapiebedarf

Zwar gibt es laut Orgass insgesamt mehr als 600 Erwachsenentherapeuten und fast 200 für Kinder und Jugendliche, dafür gibt es auch neue Probleme: "Die psychotherapeutische Versorgungslage wäre heute wirklich besser, wenn es Corona nicht gegeben hätte. Viele Patienten, die schon versorgt waren, die die Therapie beendet hatten, kamen durch Corona wieder zurück in die Praxen und mussten neu versorgt werden, weil wieder Symptome aufgetreten sind", sagte Orgass.

Eine Therapeutin aus Halle gab im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT zu bedenken, dass nicht jedes persönliche Leid im Therapiezimmer behandelt werden müsse. Aus ihrer Sicht ist es rein fachlich oft nicht problematisch, länger auf einen Therapieplatz zu warten – auch wenn es für die Betroffenen schwer sei. Denn schwere Krisen müssten sowieso direkt von den Einrichtungen aufgefangen werden. Es sei schwierig für eine Gesellschaft, genug Therapieplätze zur Verfügung zu stellen, sodass für jede Person immer schnelle Hilfe möglich sei.

Streit zwischen Krankenkassen und Psychotherapeutenkammer

Der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen (GKV) sieht die Therapeutinnen und Therapeuten in der Pflicht, mehr Plätze anzubieten. Laut Erhebungen des Verbands haben die meisten Betroffenen in 2022 zwischen Erstgespräch und Therapiebeginn maximal einen Monat gewartet. Die Bedarfsplanung zeige auch eine Überversorgung.

Die Bundestherapeutenkammer kritisiert die Studie. Die Datenbasis sei zu klein. Der GKV übersehe außerdem, dass durch Wartelisten viele Hilfesuchende erst eine Sprechstunde bekämen, wenn ein Therapieplatz im Anschluss sicher sei.

Patientenberater fordern mehr Therapieplätze

Für die Betroffenen ist der Streit um genaue Zahlen wenig hilfreich. Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland stellt nach eigenen Angaben in ihren Beratungen fest, dass aufgrund von Krisen der psychosoziale Druck in der gesamten Bevölkerung stark steigt. Es brauche deshalb mehr Therapieplätze und die Terminvermittlung müsse besser funktionieren.

Bei nicht zumutbaren Wartezeiten auf eine Therapie müssen Krankenkassen die Kosten bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten ohne Kassensitz erstatten. Doch Ratsuchende berichteten laut Patientenberatung, dass mittlerweile viele Kassen die Kosten nicht erstatten wollten – und stattdessen auf Terminservicestellen verweisen würden.

Mehr zum Thema: Psychotherapie

MDR (Leonhard Eckwert, Maren Wilczek, Anne Sailer)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 20. Dezember 2022 | 12:00 Uhr

Kommentare

Laden ...
Alles anzeigen
Alles anzeigen