Ostdeutsche Autorin Lesereihe "Verwegen in Gardelegen": Wie eine Schwarze Ostdeutsche die Nachwendezeit erlebt

21. März 2023, 16:45 Uhr

Es gibt Fußball und Frauen-Fußball. Den Fußball, den die Männer spielen, das ist der 'normale' Fußball, der braucht keinen Zusatz. So ähnlich verhält es sich auch mit Deutschland und Ostdeutschland. Ostdeutschland ist noch immer nicht das 'normale' Deutschland – auch nicht mehr als 30 Jahre nach der Wende. So sieht es die Autorin und Soziologin Katharina Warda. Die war zu Gast bei der Lesereihe "Verwegen in Gardelegen" – und hat sich dort mit den Menschen ausgetauscht.

Eine blonde Frau mit Brille
Bildrechte: Carina Emig

Sie kommt aus Sachsen-Anhalt, genauer aus Wernigerode, und kennt sich mit Ostgeschichte(n) aus, doch in Gardelegen war sie noch nie. Die Autorin Katharina Warda ist bekannt durch ihren Essay "Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland".

An der Seite von Journalistin Valerie Schönian und Filmproduzent Christoph Herms, die beide aus Gardelegen stammen, geht Katharina Warda auf Erkundungstour durch die altmärkische Hansestadt.

Seit der Wende erlebe ich Rassismus, Klassismus – und Abwertungen als Ostdeutsche.

Katharina Warda "Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland"

Katharina Warda liest aus dem Essay vor: "Ich bin das Kind einer deutschen Mutter und eines südafrikanischen Vaters und wurde in der DDR geboren. Seit der Wende erlebe ich Rassismus, Klassismus – und Abwertungen als Ostdeutsche. Laute Jubiläumsfeiern übertönen die Sprachlosigkeit, die wir erleben, wenn wir uns an die 'Wendezeit' erinnern. Es fehlen zu viele Stimmen, noch immer."

"Dunkeldeutschland": Das kollektive Ossi-Trauma

Katharina Warda will eine Stimme sein und mit den Menschen in den Austausch kommen. Sie ist aus ihrer Wahlheimat Berlin angereist. Im Gepäck hat sie ihren Essay, den sie in der Stadtbibliothek in Gardelegen vor rund 80 Zuhörerinnen liest. So teilt Warda ihre Erfahrungen, möchte mit Menschen aus Gardelegen aber auch über deren Nachwendeerfahrungen sprechen.

Kennen auch die Gardelegener das Gefühl, sich zu schämen, Ossi zu sein, als Ostdeutsche nicht gesehen und gewürdigt zu werden? Ja, auch in Gardelegen ist Dunkeldeutschland – ein Begriff, der sich für Ostdeutsche nicht gut anfühlt. In ihrer Arbeit geht Katharina Warda immer dahin, wo es weh tut und will so die kollektiven traumatischen Erfahrungen der Nachwendezeit sichtbar machen.

Katharina Warda erklärt den Begriff "Dunkeldeutschland" "Die Rede vom 'dunklen Deutschland' prägt, wie der Osten wahrgenommen wird. Dieses 'Dunkeldeutschland' begleitet den Osten eigentlich schon lange: Bereits vor der Wiedervereinigung kam der Begriff in der BRD als abwertende Bezeichnung der DDR auf. Er zielte auf die spärliche Straßenbeleuchtung der Städte, ihre reklamefreien, dunklen Nächte. Zur Wendezeit wird Dunkeldeutschland zum Schlagwort und taucht immer da auf, wo es um die 'Zone', 'drüben' oder die Tristesse der ehemaligen DDR geht. 1994 wird der Begriff sogar Kandidat für das Unwort des Jahres, neben anderen sprachlichen Demütigungen gegenüber den Menschen der neuen Bundesländer. So fasst es die Süddeutsche Zeitung zusammen. Die Metapher 'Dunkeldeutschland' und der abwertende Blick auf den Osten, der damit verbunden ist, sind nie ganz aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen verschwunden. Und wer es doch vergessen hatte, den erinnerte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede zu den Anschlägen auf ein Asylheim in Heidenau 2015 daran. Das dunkle Deutschland, das diese Anschläge hervorgebracht habe, stehe einem 'hellen, lichten Deutschland des bürgerschaftlichen Engagements' gegenüber, meinte er, dieses dunkle Deutschland sei das Land der Hetzer und Brandstifter."

Das ist Katharina Warda früher

Katharina Warda wächst im Wernigeröder Ghetto in der Platte auf, Bildung und Erziehung erfährt sie nach der Wende nur durch den Fernseher. Als Person of Colour sind Rassismus und Diskriminierung prägende Kindheitserinnerungen. Sie schreibt: "1992, ich bin sieben Jahre alt und besuche die zweite Klasse einer Plattenbaugrundschule. Auf dem Weg nach Hause beginnt mein eigentlicher Unterricht: wegrennen, verstecken, keine Angst zeigen. Ich lerne zu flitzen, wenn die Mädchengruppe aus der Berufsschule mich mit dem N-Wort beschimpfend mit Steinen bewirft. Lerne mich rechtzeitig zu verstecken, wenn Männergruppen in Bomberjacken auf mich zu kommen, und langsam abzustumpfen, weil es aus dieser Hölle Heimat keinen Ausweg gibt."

Die Mutter verliert nach der Wende ihren Job als Galvanisiererin, der Stiefvater wird Alkoholiker und begeht schließlich Suizid. Erstmals verstanden fühlt sich Katharina Warda in der Punkrockszene. Sie ist die erste in ihrer Familie, die das Abitur macht und bis heute die Einzige, die es an die Elite-Universität Princton in New Jersey schafft. Katharina Warda bezeichnet sich selbst als soziale Aufsteigerin.

Das ist Katharina Warda heute

Wissenschaftlich und journalistisch beschäftigt sich Warda mit marginalisierten Identitäten, Rassismus und Klassismus. In ihrem Projekt "Dunkeldeutschland" erkundet sie die Nachwendezeit von den sozialen Rändern aus und beleuchtet blinde Flecken in der deutschen Geschichtsschreibung, basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Schwarze ostdeutsche Frau in der DDR und nach 1989/90.

Darüber hinaus produziert sie Podcasts und Hörstücke wie "Ossis of Colour", hält Vorträge und Seminare. Momentan schreibt Katharina Warda an ihrem ersten autofiktionalen Roman, der in der DDR-Zeit beginnt und auch die Verwerfungen der Nachwendezeit zum Thema hat. Wenn der fertig ist, will sie wiederkommen und ihn dem "Verwegen in Gardelegen"-Publikum präsentieren.

Lesereihe ermöglicht Austausch über ostdeutsche-Erfahrungen

Ein ähnliches Anliegen hat die Journalistin und Autorin Valerie Schönian. Sie berichtet: Wie überall im Osten seien nach der Wende auch aus Gardelegen viele junge Leute weggegangen, Geschäfte und Firmen hätten dicht gemacht, kulturell ging nicht mehr viel.

Sie erklärt: "Die Ladeninhaber wurden von der Stadt sogar aufgefordert, Bilder in die Schaufenster zu hängen, weil so viel Leerstand war." Aber in den letzten Jahren sei das Leben nach Gardelegen zurückgekehrt. Nun gäbe es wieder Zuzug, Garley-Bier, Juwelier, Buchladen und Kultur.

Um sich über die Erfahrungen auszutauschen und Kultur zurückzubringen, veranstaltet Schönian seit zwei Jahren ein Projekt mit Christoph Herms. "Verwegen in Gardelegen“ heißt ihre Lesereihe, die jungen Autorinnen und Autoren aus Ostdeutschland eine Plattform bietet. Christoph Herms ist in Gardelegen aufgewachsen, Valerie Schönian in Gardelegen geboren. Gemeinsam wollten sie einen Raum schaffen, in dem man sich begegnen, Kultur erfahren, in dem man sich austauschen kann.

Gefördert wird "Verwegen in Gardelegen" von der Landeszentrale für politische Bildung. Viele namhafte Autorinnen und Autoren waren schon da. So haben Lukas Rietschel ("Mit der Faust in die Welt schlagen"), Greta Taubert ("Guten Morgen, du Schöner") und Hendrik Bolz ("Nullerjahre") ihre Bücher präsentiert. Einen Probelauf gab es zuvor im Herbst 2020 mit Valerie Schönians Buch ("Ostbewusstsein").

Die Macher und Moderatoren von "Verwegen in Gardelegen" Valerie Schönian ist Autorin ("Ostbewusstsein") und Journalistin ("Zeit im Osten"). Geboren in Gardelegen wächst sie in Magdeburg auf. Christoph Herms verbringt Kindheit und Jugend in Gardelegen. Heute ist er Geschäftsführer der Film- und Videoproduktion "gretchen". Gemeinsam haben sie die Lesereihe "Verwegen in Gardelegen" initiiert. Beide leben und arbeiten heute in Berlin, fühlen sich aber mit ihrer Heimat nach wie vor eng verbunden. Nicht zuletzt, weil sie Familie und Freunde in der Hansestadt haben.

MDR (Carina Emig)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 20. März 2023 | 19:00 Uhr

14 Kommentare

Frau K. am 23.03.2023

@pwsks
Es ist ein System, für das die Mehrheit 1990 gestimmt hat. Sollten sie nicht die CDU gewählt haben, dann wäre Ärger auf die angebracht, die das getan haben, um an die schnelle Westmark zu kommen.
Die Westdeutschen wurden wie schon erwähnt nicht gefragt, ob sie uns wollen. Das hat Kohl arrangiert.

pwsksk am 22.03.2023

Ich habe mich nicht in einer Opferrolle gefühlt, wenn ich, mit vielen anderen, 12 Stunden für einen Billiglohn und einen Westunternehmer gearbeitet habe. Ich habe zum ersten Mal richtig Geld verdient und wir waren stolz darauf. Aber die sogenannte "Solidarität" über den Gartenzaun fiel weg, weil mein Nachbar im Westen das Doppelte verdiente. Aber das nahm ich ihm auch nicht übel, hätte ich ja auch machen können.
Und natürlich sind viele Menschen vor den neuen, komplexen, ganz anderen Aufgaben gescheitert. Wenn ein kompletter Wirtschaftsraum wegfällt, ist das so. Da hat übrigens die Treuhand einen speziellen Anteil dran. Nicht umsonst wurde ja in Berlin darüber diskutiert, nachträglich einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Es ist ein Ursache-Wirkungsprinzip. Es sind nicht die Westdeutschen, mit denen wir Ossis nicht klarkommen, es ist ein System, was uns übergestülpt wurde. Das Sprichwort hieß "Freiheit statt Sozialismus". Wollten aber selbst die größten Bürgerrechtler nicht so.

Frau K. am 22.03.2023

@Hobby
Mach ich, hier wird nicht zu 30% die Partei eines Faschisten gewählt. Ich wüsste in Dunkeldeutschland gar nicht, mit wem man sich da noch gern unterhalten soll ohne die Verständnislosigkeit über dieses Verhalten runterschlucken zu müssen. Oder sich anhören zu müssen, dass an allem aber auch allem - die Roten und Grünen Schuld sind.

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