"über den Zaun" Eisenbahntheater
Das Theaterstück "Über den Zaun" erzählt die Geschichte einer junge Frau im Wendeherbst 1989. Bildrechte: Oliver Ackermann

Die Welt verändern Theaterstück "Über den Zaun" erzählt DDR-Fluchtgeschichten

08. Juni 2023, 09:26 Uhr

Weltweit sind mehr als 30 Millionen Menschen auf der Flucht. Viele ältere Ostdeutsche haben eigene Fluchterfahrungen, wenn wir an die Wende 1989 zurückdenken. Die Geschehnisse damals veränderten die Welt: Tausende DDR-Bürger flohen über den Zaun der Prager BRD-Botschaft. Ein Theaterstück in Salzwedel widmet sich jetzt diesen DDR-Fluchtgeschichten in Form eines dokumentarischen Eisenbahntheaters.

Eine blonde Frau mit Brille
Bildrechte: Carina Emig

Schauspielerin Alexa Harms spielt am Bahnhof Salzwedel eine Szene aus dem Theaterstück "Über den Zaun". Sie verkörpert eine junge Frau im Wendeherbst 1989, die schwanger ist, keinen Wohnraum findet und Repressalien erleiden muss, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hat. Deshalb will sie raus aus der DDR und wagt schließlich den Sprung über den Zaun der BRD-Botschaft in Prag.

In "Über den Zaun" geht es um insgesamt sechs DDR-Fluchtgeschichten. Vor allem die Rolle des jungen NVA-Soldaten Holzer, der von der Armee flieht, geht Darstellerin Alexa Harms unter die Haut. "Im Stück arbeiten wir mit drei Schauspielern, die aus Russland geflohen sind, weil sie sonst in Putins Krieg eingezogen worden wären, die nicht einverstanden sind mit dem, was in ihrem Land passiert. Das macht das Ganze noch mal aktueller und berührender."

Schauspielerin Alexa Harms

Schauspielerin Alexa Harms wurde 1996 geboren und wuchs in Hamburg auf. Die DDR-Geschichte kannte sie bislang fast nur aus dem Schulunterricht, aus Büchern und Filmen. In Geestenseth bei Cuxhaven, wo das Stück im Mai Premiere feierte, lernte sie die Zeitzeugin kennen, auf der ihre Rolle basiert. Die damals schwangere Frau hat sich und ihr Ungeborenes über den Zaun der Prager Botschaft in Sicherheit bringen können und wohnt heute in Bremen.

Fluchterfahrungen eines Schauspielers

Ihr Schauspiel-Kollege Vladimir ist einer dieser jungen Männer. Wenn er an seine eigene Fluchterfahrung denkt, wirkt er tieftraurig. Auch wenn 1989 schon 34 Jahre her ist, zieht er Parallelen zwischen seiner Rolle und seiner eigenen Fluchterfahrung. "Meine eigene Geschichte über mich und mein Land gleicht der des jungen Holzer, den ich spiele. Für mich ist diese Rolle daher sehr wichtig. Es berührt mich und ich bin froh, dass ich über die Schauspielkunst darüber sprechen kann", sagt Vladimir, der kein Wort Deutsch spricht, aber seine Rolle auf Deutsch performt.

Das Theaterstück "Über den Zaun"

Das Eisenbahntheather Das Letzte Kleinod erzählt "Über den Zaun" in einer reisenden Aufführung an zehn Bahnhöfen in Ost und West. Die Uraufführung fand am 16. Mai 2023 in Geestenseth statt. Weitere Vorstellungen werden bis zum 4. Juli 2023 in Worpswede, Helmstedt, Magdeburg, Halberstadt, Stützerbach, Finsterwalde, Frankfurt (O), Fürstenwalde und Salzwedel gespielt.

"über den Zaun" Eisenbahntheater
Die Aufführungen finden an zehn Bahnhöfen in ganz Deutschland statt. Bildrechte: Jens-Erwin Siemssen

Proben am Originalschauplatz

Das Theaterstück spielt in, vor und auf einem ozeanblauen Zug aus DDR-Zeiten, der an insgesamt zehn Stationen in Ost und West Halt macht. Eine davon ist Salzwedel.

Im Mittelpunkt des Stücks stehen die Ereignisse im Herbst 1989 in der damaligen BRD-Botschaft in Prag. Am Originalschauplatz durften die Schauspieler drei Tage lang proben, um den Ereignissen vom Herbst 1989 noch intensiver nachzuspüren. "Durch die Proben vor Ort ist alles weniger abstrakt. Man fühlt das Gras unter den Füßen, man sieht die Botschaft, man sieht den Zaun. Dazu bekamen wir unsere vielen Fragen von den Botschaftsmitarbeitern beantwortet. Das war sehr, sehr wertvoll", so Alexa Harms.

"über den Zaun" Eisenbahntheater
Für die Proben ist das Ensemble extra nach Prag zur deutschen Botschaft gereist. Bildrechte: Jens-Erwin Siemssen

Dialoge von Zeitzeugen

Alle Dialoge im Stück stammen von Zeitzeugen. Das sind zum einen ehemalige DDR-Bürger, die über den Zaun der Prager Botschaft kletterten, um in den Westen zu gelangen. Zum anderen interviewten die Macher des Stücks Botschaftsangehörige, Rote-Kreuz-Helferinnen, Nachbarn des Botschaftsviertels und Eisenbahner zu ihren Erinnerungen an die Geschehnisse dieses Spätsommers. All diese Aussagen flossen in das dokumentarische Theaterstück ein.

Die Prager Botschaft – ein Meilenstein auf dem Weg zum Mauerfall

Am 30. September 1989 verkündete BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag die Ausreisegenehmigung für Tausende DDR-Flüchtlinge: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...", lautet der wohl berühmteste unvollendete Satz im Vorfeld des Mauerfalls am 9. November 1989. Genschers übrige Worte gingen im Jubelsturm der mehr als 4.000 DDR-Flüchtlinge unter. Einige von ihnen hatten dort seit Wochen ausgeharrt, um nach Westdeutschland auszureisen.

 "Wie mutig wir waren"

Salzwedelerin Sabine Spangenberg kann sich an den Wendeherbst 1989 noch lebhaft erinnern. Sie organisierte von der Salzwedeler Marienkirche aus Proteste im Rahmen der DDR-Bürgerbewegung "Neues Forum". Ein Teil des Neuen Forums ging später im Bündnis 90 und schließlich in der Partei Bündnis 90/Die Grünen auf.

"Wir haben uns bewusst entschieden, nicht wegzugehen, sondern von vor Ort etwas zu bewegen. Dass wir geblieben sind, gehört mit zu meiner schönsten Zeit, weil alles möglich schien", sagt Spangenberg rückblickend. Auf das Theaterstück freut sie sich, weil die DDR-Fluchtgeschichten bis heute wichtig seien, denn "wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wie mutig wir waren", so Spangenberg.

Auf diesen Mut verweist auch die Tafel an der Katharinenkirche, denn von dort organisierte sich die Salzwedeler DDR-Opposition. Das Theaterstück soll aufklären, denn gerade jungen Leuten mangele es an Wissen zur Wendezeit, sagt Olaf Meining. Er war ebenfalls beim Neuen Forum in Salzwedel aktiv und ist heute Bürgermeister der Hansestadt.

Schulvorstellungen geplant

Meining empfiehlt, sich "Über den Zaun" unbedingt anzusehen. "Weil auch heute überall auf der Welt geflüchtet wird und wir durch so ein Theaterstück besser verstehen können, warum Menschen ihre Heimat verlassen."

Dem Bürgermeister ist es wichtig, dass möglichst viele junge Menschen das Stück erleben. Deshalb setzt sich Olaf Meining für zusätzliche Schulvorstellungen ein, wenn das Ensemble rund um den ozeanblauen Theaterzug am 3. und 4. Juli am Bahnhof Salzwedel das Stück "Über den Zaun" performen wird.

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MDR (Carina Emig, Moritz Arand)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 07. Juni 2023 | 19:00 Uhr

8 Kommentare

Untertan vor 41 Wochen

auch wenn sie es nicht lesen wollen, ich bin meiner Mutter unheimlich dankbar, das sie mit uns Kindern in der DDR geblieben ist. Näher darauf einzugehen, warum, würde den Rahmen eines Kommentares sprengen.

Untertan vor 41 Wochen

im April 1988 war ich das erste Mal bei einer Großtante meiner Frau in Kiel zu Besuch. Nun ja, einkaufen im Westen ... jeden Tag und ob. Aber wohnen, nein, nie und nimmer. Die soziale Kälte konnte man förmlich am Atem sehen.

Copper vor 41 Wochen

Daniel, ich muss Sie enttäuschen, aber Ihre Vorurteile treffen in meinem Fall nicht zu. Ich bin tatsächlich ein Ostdeutscher, und es ist bedauerlich, dass Sie nur eine Sichtweise akzeptieren und die andere ignorieren möchten. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es verschiedene Perspektiven gibt. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es Gründe für die Flucht aus Ostdeutschland gab und dass das DDR-Regime seine Bürger unterdrückte und verfolgte.

Jedoch finde ich es äußerst bedenklich, dass Sie anscheinend diese von mir beschriebene Tatsache gerne unter den Teppich kehren und lieber mit Schubladeneinteilungen argumentieren, anstatt eine sinnvolle Diskussion zu führen. Es wäre wünschenswert, wenn wir offen über diese Themen sprechen könnten, ohne einander zu beleidigen oder abzuwerten.

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