Bahnhofsgelände Hochschule StendalLeitsystem für blinde Menschen sorgt für Verwirrung
Behindertenparkplätze, abgesenkte Bordsteine und Leitplatten auf dem Boden, die blinden und sehbeeinträchtigten Menschen zur Orientierung dienen sollen – auf den ersten Blick wirkt das Gelände um den Bahnhof an der Hochschule Stendal wie ein Paradebeispiel für Barrierefreiheit. Doch ein Spaziergang zeigt: Die Wegeführung ist für blinde Menschen nicht richtig nachvollziehbar und an einigen Stellen gefährlich.
- Das Gelände um den Bahnhof Hochschule Stendal wurde elf Monate lang für rund 600.000 Euro saniert. Bei einer Begehung sorgen die Bodenindikatoren jedoch für Verwirrung oder erfüllen an einigen Stellen keinen Zweck.
- Die Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragte wurde damals beratend hinzugezogen. Es ist jedoch nicht vorgeschrieben, dass diese Person Fachkenntnisse für barrierefreies Bauen besitzen muss.
- Beteiligungsangebote wie Begehungen durch das örtliche Teilhabemanagement mit Betroffenen könnten in Zukunft bei größeren Projekten genutzt werden, um Unklarheiten vorzubeugen.
"Wenn man sich nicht bereits auskennt, sollte man als blinde Person hier nicht alleine herumlaufen", resümiert Daniela Waiß nach einem Rundgang um das Bahnhofsgelände der Hochschule Stendal. Waiß hat eine Sehbeeinträchtigung und ist mit einem Taststock unterwegs. Im Rahmen einer Begehung, organisiert vom örtlichen Teilhabemanagement, testet sie, wie zugänglich der Bahnhof und das umliegende Gelände sind.
Direkt zu Beginn stößt Daniela Waiß auf zwei gebogene Bordsteinkanten hintereinander an der Ecke zur Mannsstraße. Ihre Funktion ist nicht ersichtlich. Stattdessen sorgen sie laut Waiß bei blinden Menschen für Verwirrung, vor allem im Zusammenhang mit den dort verlegten Leitplatten, deren Rillen in eine andere Richtung als die Kanten zeigen. "Blinde Menschen orientieren sich am Ende immer an den Kanten der Bordsteine. In diesem Fall würde ich die zwei gebogenen Bordsteinkanten direkt hintereinander ertasten und dann schräg anstatt gerade laufen. So lande ich aber gegenüber im Seitenstreifen", sagt Waiß.
Leitplatten im Boden führen zu Verwirrung
Weiter geht es auf dem Gehweg in Richtung Bahnhof, am Parkplatz vorbei. Sowohl bis ganz nach rechts ans Beet als auch rechts und links Richtung Parkplatz wurde an Leitplatten nicht gespart. Eine Menge Platten, die es eigentlich nicht brauche, erklärt Waiß, denn sie seien eher irritierend als hilfreich. Laut Daniela Waiß ist vor allem das Achtungsfeld, eine Leitplatte mit Noppen anstatt Rillen, entscheidend: "Man hat das Achtungsfeld und sucht sich dadurch die Leitlinie. Hier kommen dann rechts und links noch mehr Platten. Sie lenken ab."
Auch der noch nagelneue Fahrradstellplatz ist von Leitplatten für sehbeeinträchtigte Menschen komplett umgeben. So soll verhindert werden, dass Betroffene dagegen laufen. Doch die Platten sind viel kleiner als die anderen und ganz dicht an den Stellplätzen verlegt. Wenn ein größeres Fahrrad hervorsteht, würde man trotzdem dagegen laufen, sagt Waiß.
Zum Abschluss läuft Waiß auf die andere Seite des Bahnhofs. Auf dem Weg hinunter zur Osterburger Straße kommt ein kurzer Abschnitt mit Leitplatten, der jedoch nicht weitergeführt wird. Danach nimmt der Weg eine Kurve. "Hier würde ich jetzt geradeaus weiterlaufen, weil es keine Platten gibt, die mir etwas anderes signalisieren", sagt Waiß und blickt nach vorne. Dort steht ein schmales Geländer, dahinter ein bewachsener Hang. Jemand, der das nicht sieht, könnte sich dort verletzen.
Bahnhofsgelände wurde für rund 600.000 Euro saniert
Seit rund zwei Jahren sind der Bahnhof und das Gelände für Reisende freigegeben. Elf Monate dauerte damals der Bau, sechs Millionen Euro flossen durch Deutsche Bahn und das Land Sachsen-Anhalt in den Bahnhof. Auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV schreibt die Deutsche Bahn, man habe sich an die geltenden Vorschriften gehalten. Tatsächlich gibt es eine große Rampe, Brailleschrift am Geländer, die das Gleis angibt und taktile Leitplatten auf den Gleisen. Aber was nützen diese Elemente, wenn Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung den Weg zum Bahnhof nicht finden?
Für das umliegende Gelände war die Stadt Stendal zuständig. Im Ausschuss für Stadtentwicklung wurde im November 2021 einstimmig beschlossen, das Gelände mit Zuwendungen aus dem Bahnhofsprogramm der Nasa GmbH zu sanieren. Vor allem der Gehweg von der Mannsstraße aus zum Bahnhof, den Daniela Waiß beschreibt, sollte erneuert werden. Die Kosten beliefen sich auf rund 600.000 Euro.
"Wo doch alles neu gemacht wurde, hätte man dort aus zwei Kanten auch nur eine machen können", sagt Daniela Waiß heute beim Anblick des Gehweges. An sich gehe es schon in die richtige Richtung, wie die Wegeleitsysteme gestaltet seien, meint sie, aber es sei an manchen Stellen irritierend oder eben nicht vollendet. "Da hat man mittendrin aufgehört, habe ich das Gefühl."
Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises war beteiligt
In den Bauplänen von damals findet sich kein Hinweis auf die Verlegung von taktilen Leitplatten. Auf Nachfrage von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV schreibt die Stadt, alle taktilen Elemente seien nach Regelwerk verlegt worden und verweist auf die Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises.
Die Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises, Elisabeth Seyer, war damals in die Planungen mit eingebunden. Sie vertritt laut kommunaler Satzung der Stadt Stendal Menschen mit Behinderungen. Ein Planungsgutachten von ihr ist außerdem eine Voraussetzung, um die Zuwendungen der Nasa GmbH zu bekommen. Seyer war zu dem Zeitpunkt erst kurz im Amt und vorher als Sozialpädagogin tätig. "Ich habe zwar mal einen Workshop zu barrierefreiem Bauen besucht, aber Expertin bin ich dafür keine", sagt sie. Für die Stellungnahme, um die sie gebeten wurde, habe Seyer sich deshalb Hilfe bei der Architektin Hilke Groenewold aus Magdeburg geholt.
Groenewold war Beraterin beim Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen-Anhalt und erinnert sich noch an diesen Auftrag. Mehrmals seien die Pläne hin und her geschickt worden und die Planung habe sich gezogen. "Ich habe nach DIN-Norm beraten und die kenne ich gut", sagt sie heute. Gemeint ist die DIN 32984, ein Regelwerk, in dem festgelegt ist, wie Bodenindikatoren verlegt werden sollten, damit blinde und sehbehinderte Menschen sich sicher im öffentlichen Raum bewegen können.
Zukünftig Betroffene in Planung einbeziehen
Die finale Stellungnahme der Behinderten- und Gleichstellungsbeauftragten zur Barrierefreiheit auf dem Gelände von damals liegt MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV vor und zeigt deutlich: Hier wurden potenzielle Hindernisse für blinde und sehbehinderte Menschen nach bestem Wissen mitbedacht. Doch weder Hilke Groenewold noch Elisabeth Seyer sind blind oder haben eine Sehbeeinträchtigung. Sie müssen sich auf eine theoretische Vorstellung und die Regelungen der DIN-Norm verlassen.
Dass die Hilfen in der Umsetzung nicht so funktionieren wie geplant, sei schade, sagt Groenewold. Ihr fällt eine ähnliche Situation beim Hauptbahnhof Stendal ein, bei der sie ebenfalls beratend hinzugezogen wurde. Auch dort hätte sich im Nachhinein Verbesserungsbedarf herausgestellt. Und auch in diesem Fall sei der Hinweis durch eine Begehung des örtlichen Teilhabemanagements mit Betroffenen gekommen. "Wenn eine Stadt wie Stendal so eine aktive Gemeinschaft von Betroffenen hat, muss diese zukünftig auch an solchen großen Projekten beteiligt werden", sagt Groenewold. Alles andere sei nicht zielführend.
MDR (Chiara Swenson, Hanna Kerwin)
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 30. Mai 2024 | 08:30 Uhr
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