Cold CaseChronik eines Vermisstenfalls: Inga aus Schönebeck seit zehn Jahren spurlos verschwunden
Am 2. Mai 2015 verschwand die damals fünfjährige Inga Gehricke aus Schönebeck bei einer Familienfeier im Landkreis Stendal. Bis heute wurden mehr als 40.000 Seiten Aktenmaterial von der Polizei zusammengetragen, doch eine echte Spur fehlt. Die Ermittlungen gerieten deshalb immer wieder in die Kritik. Was in den vergangenen zehn Jahren in dem Fall passiert ist.
2. Mai 2025: Ermittlungen zum Fall Inga dauern auch zehn Jahre später an
Eine achtköpfige Ermittlungsgruppe der Polizei beschäftigt sich auch zehn Jahre nach dem Verschwinden des kleinen Mädchens Inga noch mit dem Fall – wieder muss man sagen. Mehrfach waren in den vergangenen Jahren die Ermittlungen eingestellt worden. Doch der Druck auf die Ermittlungsbehörden ist groß.
Selten gab es in Deutschland einen derart mysteriösen Fall eines verschwundenen Kindes, wie er sich vor zehn Jahren auf dem Diakoniehof in Wilhelmshof am Rande des Waldes von Uchtspringe abgespielt hat. Polizei und Staatsanwaltschaft haben mehr als 4.000 Hinweise gewälzt. "Eine echte Spur haben wir nicht", sagt der Stendaler Staatsanwalt Thomas Kramer.
Februar bis März 2025: Durchsuchungen im Wald von Uchtspringe
Mit Staffeln der Landesbereitschaftspolizei in Sachsen-Anhalt wird das Waldstück in Uchtspringe systematisch durchkämmt. Ausgehend vom Diakoniehof in Wilhelmshof, suchen die Polizisten den gesamten Wald Quadratmeter für Quadratmeter ab.
"Wir wollen nichts unversucht lassen", sagt Antje Hoppen, Pressesprecherin der Polizeiinspektion in Halle. Auch Kollegen der Ermittlungsgruppe sind dabei. Die Suche ist so terminiert, dass die Vegetation noch nicht angesprungen ist und somit der Waldboden übersichtlicher erscheint als zu anderen Zeiten, heißt es von der Polizei.
4. November 2024: Suche nach Inga mit Aufdrucken auf Smoothie-Flaschen
Der Bonner Getränkehersteller True Fruits druckt für einige Wochen einen Fahndungsaufruf zum Fall Inga auf seine Flaschen. Mehrere 100.000 Flaschen bekommen den Aufdruck, der auch zwei Fotos enthält. Ein Foto zeigt Inga am Tag ihres Verschwindens mit fünf Jahren, das zweite eine Fotomontage wie sie heute aussehen könnte.
Der Getränkehersteller hat gleichzeitig die Belohnung für zielführende Hinweise auf 50.000 Euro verdoppelt. Letztlich gehen laut Polizei 82 ernstzunehmende Hinweise ein, die bearbeitet werden. Laut Anwalt Steffen Tschoppe aus Berlin, der die Hinweise bündelt, gab es auch zahlreiche unseriöse Hinweise wie die von "Astralreisenden", die angeblich in die Vergangenheit blicken können.
Sommer 2024: Experten erstellen ein Aging-Bild der vermissten Inga
Die Cold-Case-Gruppe in Halle/Saale nutzt das Fachwissen der Landeskriminalpolizei in Baden-Württemberg und lässt ein Aging-Bild erstellen. Mit Hilfe alter Fotos von Inga und auch den Eltern und Geschwistern wird rekonstruiert, wie das Mädchen heute mit 15 Jahren aussehen könnte. Ingas Mutter Victoria Gehricke möchte nach Angaben ihrer Magdeburger Anwältin Petra Küllmei, dass das Bild auch zur Fahndung verwendet wird.
Da kommt das Angebot des Getränkeherstellers True Fruits gerade recht. Die Mutter willigt ein und hofft Küllmei zufolge darauf, dass sich Inga selbst auf einer solchen Flasche erkennen könnte. Einen solchen Fall hatte es in den USA bereits einmal gegeben.
2. Dezember 2023: Suchhunde entdecken Knochenreste in Stendal
Suchhunde des Vereins Victim Recovery Dogs entdecken im Stendaler Ortsteil Staats Knochenreste. Und das unweit des Ortes, an dem Inga verschwand. Die Ermittlungsbehörden greifen das zwei Wochen später auf und lassen die Knochen von der Rechtsmedizin untersuchen. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass es sich um Tierknochen handelt.
23. November 2023: Innenausschuss des Landtags beendet Debatte um Fall Inga
Innenministerin Tamara Zischang (CDU) verspricht, dass sie den Landtag unaufgefordert informiert, sobald es Neues im Fall Inga gibt. Im Innenausschuss wird letztmals über den Fall und vor allem die Polizeiarbeit diskutiert. Die Eltern und auch die Anwälte der Familie sehen wesentliche Fragen bislang nicht beantwortet. Jetzt wird auf die neue Ermittlungsgruppe in Halle gesetzt.
3. April 2023: Ermittlungen werden von Stendal nach Halle/Saale verlagert
Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt bestätigt den Tausch der Ermittlungen von der Inspektion in Stendal, wo der Fall seit acht Jahren bearbeitet wurde, nach Halle. Ein achtköpfiges Team der "Prüfgruppe Cold Case Wald" übernimmt. 25 Umzugskartons mit 177 Leitz-Ordnern gehen an die neue Gruppe. Sie sollen unter anderem mit dem Fallbearbeitungssystem "RS Case ST" digitalisiert werden. Mit den eingepflegten Informationen können Zusammenhänge hergestellt und wie in einem Spinnennetz grafisch dargestellt werden.
9. März 2023: Eltern von Inga kommen in den Innenausschuss des Landtags
Im Beisein ihrer Anwälte kommen die Eltern von Inga, Victoria und Jens-Uwe Gehricke, in den Innenausschuss des Landtags in Magdeburg. Die Ermittlungen im Fall Inga werden kritisiert. So sei eine Neuaufnahme des Falls im Jahre 2019, mit dem ein Zusammenhang zum Vermisstenfall Maddie McCann untersucht werden sollte, nach nur elf Tagen wieder eingestellt worden. Außerdem sollen zeitweise 1.800 Seiten der Ermittlungsakten verschwunden gewesen sein.
Juni 2020: Zusammenhang zum Fall Maddie wird geprüft – ohne Bestätigung
Durch Medienberichte wird öffentlich, dass das Bundeskriminalamt (BKA) einen Mordverdächtigen im Fall der 2007 in Portugal verschwundenen Maddie McCann hat. Der 43-jährige Christian Brückner aus Braunschweig taucht auch in den Akten von Inga auf.
Brückner war nur einen Tag vor Ingas Verschwinden auf der A2 bei Helmstedt unterwegs gewesen und hatte dort einen Parkplatzrempler. Der Ort des Geschehens ist nur 90 Kilometer von Wilhelmshof entfernt. Staatsanwalt Thomas Kramer sagt später, man habe weder über einen Funkzellenabgleich noch über Durchsuchungen eines Privatgeländes in Neuwegersleben in der Börde Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Fall Inga herstellen können.
2. Mai 2020: "Kripo live" berichtet im MDR über den Fall
Zum fünften Jahrestag des Verschwindens wird der Fall Inga im MDR-Fernsehen bei "Kripo live" erneut gezeigt.
September 2019: Prüfgruppe schließt Arbeit nach elf Tagen ab
Nach neuen Hinweisen wird eine Prüfgruppe gebildet, die ihre Arbeit bereits nach elf Tagen wieder einstellt. Es geht – wie sich erst später herausstellt – um die Frage, ob der Fall Inga etwas mit dem Fall Maddie McCann zu tun hat. Der Vorgang spielt sich außerhalb der Öffentlichkeit ab. Das schnelle Wiedereinstellen des Vorgangs führt später zu heftiger Kritik an der Polizeiarbeit.
27. April 2017: Eltern von Inga geben "Stern" erstmals ein Interview
Die Eltern von Inga, Victoria und Jens-Uwe Gehricke, äußern sich zwei Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter erstmals öffentlich im Magazin "Stern". Sie haben sich mittlerweile getrennt, auch weil sie das Geschehen sehr unterschiedlich verarbeiten, wie sie sagen. Victoria Gehricke glaubt bis heute fest daran, dass ihr Kind noch lebt. Jens-Uwe Gehricke sagt "rational", dass er "nichts gefunden hat, was für einen guten Ausgang sprechen könnte, so sehr ich mir den auch wünsche."
Anfang 2017: Ermittlungen zum Fall Inga werden formal eingestellt
Das Verfahren zum Verschwinden von Inga wird offiziell eingestellt. Bereits Ende 2016 waren 16 Kartons mit 150 Aktenbänden an die Stendaler Staatsanwaltschaft übergeben worden. "Bei neuen Erkenntnissen kann das Verfahren stets wieder eröffnet werden", betont Staatsanwalt Thomas Kramer.
August 2016: Ermittlungsgruppe "Wald" wird aufgelöst
In der Polizeidirektion in Stendal wird die seit mehr als einem Jahr arbeitende Ermittlungsgruppe "Wald" aufgelöst. Zeitweise hatten 40 Mitarbeiter zu der Gruppe gehört.
Mitte Juni 2015: Maintrailer-Hunde sollen Spur von Inga finden
Die Polizei zeigt sich experimentierfreudig. Es werden sieben sogenannte Maintrailer-Hunde eingesetzt. Sie sollen eine Spur nachverfolgen – und das sogar im Auto. Experten halten das Verfahren für unseriös, zumal bereits mehrere Wochen seit Ingas Verschwinden vergangenen sind. Ein Hund führt die Ermittler bis nach Dresden, ein anderer nach Österreich.
9. Juni 2015: Diakonieleiter aus Wilhelmshof spricht über Inga-Suche
Der Leiter der Diakonieeinrichtung in Wilhelmshof, Joachim Arnold, spricht öffentlich in der "Volksstimme" über die große Betroffenheit vor Ort. "Wir beten jeden Tag für Inga", sagt er. Die Polizei habe ihn und die Bewohner vor dem Medienrummel beschützt. Der Suchthilfebereich habe unter Generalverdacht gestanden, sagt er.
20. Mai 2015: Fall Inga wird in ZDF-Sendung "XY … ungelöst" gezeigt
Nur zweieinhalb Wochen nach dem Verschwinden bekommt der Fall Inga durch die Ausstrahlung in der ZDF-Sendung "XY … ungelöst" bundesweite Aufmerksamkeit. Ermittlungsleiter Holger Herrmann ist live im Studio bei Rudi Cerne. Es gibt zahlreiche Hinweise – ein Durchbruch bleibt aber aus.
14. Mai 2015: Privatinitiative druckt Suchplakate für Inga
Die Hamburger Initiative "Vermisste Kinder" druckt 3.250 Suchplakate, die von der Polizei je nach Bedarf verteilt werden. Zudem wird in 19 Großstädten auf 297 Infoscreens nach Inga gesucht, für die Region Stendal werden 20 Großplakate in Auftrag gegeben.
12. Mai 2015: Polizei benennt Leiter der Ermittlungsgruppe "Wald"
Die Polizeiinspektion Sachsen-Anhalt Nord in Stendal betraut den 53-jährigen Kriminaldirektor Holger Herrmann mit der Leitung der Ermittlungsgruppe "Wald". Herrmann ist der oberste Kriminalist der Behörde und erfahren in der Kriminalitätsbekämpfung. Später wechselt er an die Polizeischule nach Aschersleben.
7. Mai 2015: Polizei spricht erstmals von einem Verbrechen
Die Polizei geht mittlerweile davon aus, dass ein Verbrechen "wahrscheinlich" ist. Die Eltern von Inga reisen nach Tagen und Nächten des Bangens und Hoffens aus Wilhelmshof ab.
6. Mai 2015: Suche im Wald wird nach drei Tagen beendet
Ergebnislos wird die Suche im angrenzenden Waldgebiet beendet. Tag und Nacht war nach Inga gesucht worden. Teiche wurden ausgepumpt, Stolperfallen und Hänge geprüft.
4. Mai 2015: Großeinsatz mit vielen Helfern im Wald von Uchtspringe
Am Montag nach Ingas Verschwinden beginnt eine groß angelegte Suche. Mittlerweile ist auch die Kriminalpolizei eingeschaltet. Rund 1.000 Polizisten und Helfer von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk (THW) durchkämmen das rund 3.500 Hektar große Waldgebiet bei Wilhelmshof. Auch Hubschrauber mit Wärmebildkameras und 60 Spezialhunde sind im Einsatz.
2. Mai 2015, 18:45 Uhr: Die fünfjährige Inga verschwindet beim Spielen
Es ist etwa 18:45 Uhr, als die fünfjährige Inga von ihrer Mutter vermisst wird. Schnell wird von den Erwachsenen überall gesucht, auch im nahegelegenen Waldstück. Um 20:13 Uhr wird die Polizei informiert. Um 20:22 Uhr trifft der erste Funkstreifenwagen ein. Ab 22 Uhr sind auch Suchhunde im Einsatz.
Das Zeitfenster, in welchem Inga spurlos verschwand, ist sehr klein. Ich glaube, dass Inga von einer ihr bekannten Person weggelockt oder überfallartig entführt wurde.
Petra Küllmei, Anwältin von Victoria Gehricke
Es wird die ganze Nacht gesucht, vor allem im angrenzenden Wald – ohne Erfolg. Zuletzt gesehen wurde das kleine Mädchen gegen 18:30 Uhr. Die spätere Anwältin der Mutter, Petra Küllmei, sagt 2023 in einem Interview: "Das Zeitfenster, in welchem Inga spurlos verschwand, ist sehr klein. Ich glaube, dass Inga von einer ihr bekannten Person weggelockt oder überfallartig entführt wurde. Meine Überzeugung ist, dass sich die Person auf dem Gelände in Wilhelmshof aufgehalten hat."
2. Mai 2015, nachmittags: Familie Gehricke feiert unter Freunden in Wilhelmshof
Familie Gehricke – die Eltern und ihre vier Kinder (darunter Inga) – treffen sich mit befreundeten Familien in der Diakonie-Einrichtung in Wilhelmshof bei Uchtspringe im Landkreis Stendal. Das Wetter ist schön, Erwachsene und Kinder toben draußen, auf einer Wiese wird Fußball gespielt.
An dem Nachmittag halten sich rund 100 Menschen auf dem weitläufigen Gelände und in den zahlreichen Gebäuden der Suchthilfeeinrichtung auf. Nach dem schönen Nachmittag wollen die Gehrickes eigentlich zum Abend hin wieder aufbrechen und zurück nach Schönebeck fahren. Doch dann entscheiden sie sich, noch zu grillen. Die Erwachsen treffen die Vorbereitungen, die Kinder spielen.
Mehr zum Thema: Inga Gehricke vermisst
MDR (Bernd-Volker Brahms, Sarah-Maria Köpf)
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT Heute | 28. April 2025 | 19:00 Uhr