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Geschichten aus Sachsen-AnhaltWie eine Frau aus Halberstadt vor 300 Jahren als Mann lebte

26. März 2023, 17:47 Uhr

Catharina Margaretha Linck lebte vor rund 300 Jahren und das völlig anders als die Frauen ihrer Zeit. Sie kleidete sich wie ein Mann, gab sich als einen solchen aus und heiratete sogar eine andere Frau. Dafür wurde sie in Halberstadt hingerichtet. Ihr Leben wurde in Gerichtsakten dokumentiert und archiviert – und ist nun in einem Buch verewigt.

Wir schreiben den 12. September 1717. In der Paulskirche zu Halberstadt wird eine Trauung gefeiert. Der 30-jährige Anastasius Lagrantinus Rosenstengel heiratet seine 19-jährige Geliebte Catharina Margaretha Mühlhahn aus Halberstadt. Der Pfarrer gibt seinen Segen, das Brautpaar schwört ewige Treue.

Was niemand der Anwesenden zu diesem Zeitpunkt ahnt: Der Bräutigam ist in Wahrheit auch eine Frau. Für die Menschen damals sei das beinahe unvorstellbar gewesen, erklärt die Schriftstellerin Angela Steidele. Sie hat über diese Geschichte ein Buch geschrieben.

Aus Catharina wird Anastasius

Der Bräutigam Rosenstengel hieß ursprünglich Catharina Margaretha Linck. Zum Zeitpunkt der Hochzeit hatte Linck bereits ein aufregendes Leben hinter sich. Als uneheliches Kind im Jahr 1687 im nordthüringischen Gehofen bei Artern geboren, wächst sie in Halle im Waisenhaus des Pietisten August Hermann Francke auf. Sie gilt als klug und lernt im Waisenhaus, anders als die meisten Frauen ihrer Zeit, lesen, schreiben und auch einen Beruf. Sie wird Knopfmacherin und Textildruckerin.

Doch Linck leidet unter den strengen Regeln im Waisenhaus. Im Alter von 15 Jahren verlässt sie Halle und schließt sich einer radikal-religiösen Wandertruppe an. Hier lässt sie sich auf den Namen Anastasius Lagrantinus Rosenstengel taufen. Man müsse sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen, sagt Angela Steidele, die darin eine tiefere Bedeutung sieht. Lagrantinus sei zwar ein Kunstbegriff, glaubt sie, aber Anastasius bedeute "der Auferstandene", und der Rosenstengel symbolisiere zum einen die Rose als weiblichen und zum anderen den Stengel als männlichen Teil.

War Catharina Linck ein trans Mann?

Ob Linck sich als Mann ausgab oder ob sie sich als Mann identifizierte, nach heutigen Begriffen also transgeschlechtlich war, zeigen die erhaltenen Quellen laut Deutschlandfunk nicht.

Catharina Linck, sagt die Schriftstellerin Steidele, habe sich einen Kunstnamen gegeben, der hintergründig und selbstironisch ihr Dasein bezeichne. Ein solcher Bruch mit der Identität wäre damals nicht akzeptiert worden. Mit dem Vollzug der Taufe habe wohl für Catharina Linck festgestanden, dass sie sich einen neuen Platz in der Welt suchen muss. Und genau das tut sie. Fortan wird aus Catharina Linck Anastasius Rosenstengel.

Sieben Jahre als Soldat

Im Jahr 1705, im Alter von 18 Jahren, wird sie sogar Soldat und kämpft in verschiedenen Kriegen. Um nicht aufzufallen, macht sie sich einen Leder-Dildo, an den sie, wie es später in den Gerichtsakten vermerkt wird, "zweÿ ausgestopffte von Leder gemachte testiculi gehänget".

Aus heutiger Sicht scheint es kaum fassbar, dass ein solches Versteckspiel immer wieder funktioniert. Aber Catharina Linck bleibt als Anastasius Rosenstengel wohl über lange Zeit unentdeckt, weil damals schier undenkbar ist, dass eine Frau Männerkleider trägt. Ein Mensch in Hosen gilt schlicht als Mann. Außerdem sind gerade Bärte außer Mode, was sehr zum Vorteil für die als Mann lebende Catharina Linck ist.

Ihr Leben als Soldat sei wohl einfach eine Möglichkeit des Überlebens gewesen, sagt Buchautorin Steidele. Das Leben als Soldat sei besonders beschwerlich gewesen, habe aber auch viele Freiheiten beinhaltet. Catharina Linck wollte als Anastasius Rosenstengel ein Leben als Mann versuchen, auch weil sie als Frau keine eigenen Verdienst- und Reisemöglichkeiten gehabt habe. Sie sei so viel unabhängiger gewesen. Außerdem habe sie sich sexuell zu Frauen hingezogen gefühlt, was sie als Mann viel einfacher ausleben konnte.

Die Schwiegermutter lässt die Täuschung auffliegen

Sieben Jahre lebt Cathartina Linck alias Anastasius Rosenstengel das Leben eines Soldaten. Dann kommt sie nach Halberstadt. Hier findet sie Arbeit in ihrem Beruf und lernt schließlich die junge Catharina Margaretha Mühlhahn kennen – und lieben. Im September 1717 heiraten beide. Doch die Schwiegermutter schöpft bald Verdacht, weil ihre Tochter nicht schwanger wird. Sie forscht nach und bekommt Kontakt zu dem Waisenhaus in Halle, in dem Catharina Linck aufgewachsen ist.

Bevor der Schwindel auffliegt, flieht das Ehepaar. In Münster kommen beide unter. Dort nehmen sie den katholischen Glauben an und heiraten ein zweites Mal. Doch sie verarmen, leben von Bettelei. Verarmt kehrt die Ehefrau Catharina Mühlhahn im Frühjahr 1720 zurück nach Halberstadt. Ihr Mann Anastasius aber geht nach Helmstedt, wo er in der lutherischen Gemeinde Unterschlupf findet und sich ein weiteres Mal taufen lässt.

Als Anastasius seine Frau aus Halberstadt holen will, schlägt die erzürnte Schwiegermutter zu. Sie hat eine Nachbarin zur Verstärkung geholt. Gemeinsam entwaffnen sie den vermeintlichen Schwiegersohn, fesseln ihn und schlitzen die Hose auf. Die Schiegermutter entdeckt den falschen Penis aus Leder und bringt diesen zum Stadtgericht. Und sie zeigt ihren falschen Schwiegersohn an.

Zum Tode verurteilt

Daraufhin werden beide Catharinas verhaftet, befragt und gefoltert. Homosexualität ist in dieser Zeit in Deutschland strafbar und wird mit dem Tode bestraft, und das im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen.

Der folgende Gerichtsprozess dauert ein halbes Jahr und wird für die damalige Zeit ungewöhnlich aufwändig geführt und akribisch genau dokumentiert. Ein Umstand, durch den wir heute überhaupt von der Geschichte wissen. Die Ehefrau Catharina Mühlhahn versucht sich zu retten, indem sie behauptet, sie habe noch nie einen Mann, auch nicht ihren Ehemann, nackt gesehen. Das bringt ihr am Ende "nur" drei Jahre Zuchthaus ein. Das Gericht sieht sie als Verführte. Sie heiratet 1726 erneut und bekommt drei Kinder. 1776 stirbt sie im Alter von 78 Jahren.

Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel aber wird vom Gericht zum Tode verurteilt. Entsprechend den damaligen Gepflogenheiten wird das Todesurteil nach Berlin geschickt. Es muss vom König und seinen Hof-Juristen bestätigt werden.

Gleim-Literaturpreis für Autorin Steidele

Interessanterweise können sich die Juristen nicht gleich einigen. Eine Minderheit, so hat Angela Steidele recherchiert, habe argumentiert, dass zwei Frauen keinen Beischlaf vollführen können, weil "kein Saft von einem zum anderen Körper" fließen würde. Und wenn Frauen keinen Geschlechtsverkehr miteinander haben können, so die Argumentation, dann können sie dafür auch nicht bestraft werden. Doch das bleibt die Meinung einer Minderheit. Catharina Linck nützen diese Argumente nichts.

Die Mehrheit der Hof-Juristen und auch König Friedrich Wilhelm selbst verfügen das Todesurteil. Catharina Linck ist 34 Jahre alt, als sie am 8. November 1721 mit dem Schwert auf dem Fischmarkt von Halberstadt hingerichtet wird. Ihre Überreste werden auf dem nahen Galgenberg verscharrt.

Rund 300 Jahre später ist Schriftstellerin Angela Steidele so sehr vom Schicksal der Catharina Margaretha Linck fasziniert, dass sie ihr Leben umfangreich recherchiert und schließlich ein Buch darüber schreibt. "In Männerkleidern", so lautet der Titel. Im Jahr 2005 bekam sie dafür in Halberstadt den Gleim-Literaturpreis überreicht.

Angaben zum BuchAngela Steidele: "In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation" 326 Seiten, Suhrkamp Verlag, November 2021 ISBN: 978-3-458-17945-0

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MDR (Carsten Reuß, Alisa Sonntag)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 26. März 0023 | 11:46 Uhr