Wirtschaftsreise Was Sachsen-Anhalt von Vietnam lernen kann

09. Dezember 2019, 14:52 Uhr

In Sachsen-Anhalt leben rund fünftausend Vietnamesen. Obwohl sie lange unter Rassismus und Ausgrenzung zu leiden hatten, gelten sie inzwischen als sehr gut integriert. Auch die Landesregierung setzt verstärkt auf Kontakte nach Vietnam. Eine Wirtschaftsdelegation war gerade vor Ort. Bislang wurde vor allem debattiert, was Vietnam von Sachsen-Anhalt lernen könnte. Unser Autor Uli Wittstock war vor kurzem auf einer Bildungsreise in Vietnam und fragt nun - was kann Sachsen-Anhalt von Vietnam lernen?

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Klingt es gelegentlich etwas unbeholfen, wenn die Altmark "mit dem Luxus der Leere" wirbt, so ahnt man nach wenigen Stunden in Hanoi, welcher Luxus da gemeint sein könnte. Hanoi ist jung, Hanoi ist quirlig, laut, voller Menschen, voller Mopeds und voller Feinstaub. Neben dem Helm gehört der Mundschutz im Straßenverkehr zur Grundausstattung, auch viele Passanten tragen eine solche Atemmaske.

100 Prozent Steuern auf Autos

Warum in Asien das Thema Elektromobilität eine ungleich höhere Priorität genießt als hierzulande, ahnt man, wenn man die Stadtluft in Vietnam einfach mal tief einatmet. Mit Mitteln der Steuerpolitik versucht der vietnamesische Staat, den Verkehrsinfarkt aufzuhalten. Der Kauf eines Autos wird mit 100 Prozent des Kaufpreises besteuert.

Deshalb ist der Roller das wichtigste Transportmittel, auf dem sich von einer Kleinfamilie über lebende Hühner und Schweine bis hin zu mächtigen Paketen von Obst und Gemüse so ziemlich alles transportieren lässt. Und es gibt immer etwas zu transportieren.

Überall wird gewerkelt

Vietnamesische Städte kennen nämlich kein Gewerbegebiet, denn gewerkelt wird überall. Das Untergeschoss der Häuser dient dem Broterwerb, darüber, dahinter oder daneben wird gewohnt. Noch vor 35 Jahren war Vietnam eines der ärmsten Länder der Welt und die sozialistische Planwirtschaft schaffte es nicht, die damals rund 65 Millionen Einwohner zu ernähren. Dann steuerte die kommunistische Staatspartei um und brachte "Doi Moi" auf den Weg, also die "Erneuerung", ohne jedoch die politische Macht aus der Hand zu geben.

Zu Beginn der Reformen betrug das Durchschnittseinkommen der Vietnamesen rund 90 Euro im Jahr. Inzwischen verdient ein Vietnamese jährlich rund zweitausend Euro. Zum Vergleich: In der Ukraine sind es derzeit nur rund 250 Euro mehr.

Die Straße als Fabrik

Die gleiche Hartnäckigkeit, mit der einst die vietnamesischen Vertragsarbeiter sich eine Existenz in Ostdeutschland aufbauten und zwar ohne die sozialen Sicherungssysteme in Anspruch nehmen zu können, diese Hartnäckigkeit ist auch in Vietnam selbst zu spüren. Kleinst- und Kleinunternehmen bilden ganz offenbar das Rückgrat der Wirtschaft. Man findet kein Gebäude, in dem nicht gefräst, gehobelt, gehämmert oder gebohrt würde.

Ganze Straßenzüge gleichen einer lang gezogenen Fabrik, wo man im Haus 1 eine Metallstange abgibt und im Haus 22 eine Lampe oder einen Fahrradrahmen abholt. Und da wird auch auf moderne Technologie gesetzt, denn in so mancher Werkstatt steht eine CNC-Maschine oder eine Spritzgussanlage. Sicherlich lassen sich komplexe Werkzeugmaschinen so nicht herstellen, aber dieses Kleingewerbe hat dennoch eine wichtige Funktion. Es sorgt für Einkommen und für eine Belebung der Stadtquartiere bis in die Randbezirke.

Sachsen-Anhalt: Innenstädte müssen belebt werden

Nach unseren europäischen Vorstellungen wirkt das freilich nicht allzu effizient. Natürlich produziert eine Lampenfabrik deutlich günstiger und schneller, als ein einzelner Handwerker. Und eine Brötchenfabrik wie etwa die in Eisleben verkauft die Teiglinge deutlich günstiger als ein lokaler Bäckermeister, selbst wenn Ware durchs ganze Land gekarrt werden muss.

Zugleich jedoch starten Sachsen-Anhalts Städte aufwändige Kampagnen, um ihre Innenstädte zu beleben. Die nämlich verlieren zunehmend ihre Funktion. Erst verschwanden Handwerk und Kleingewerbe, nun droht auch der Einzelhandel dem Online-Trend zum Opfer zu fallen.

Zukunft liegt in der Vergangenheit

Provokant formuliert könnte man sagen: Die Zukunft der Städte liegt in ihrer Vergangenheit, also in einer Wiederbelebung von Handwerk und Gewerbe. Sieht man die Vitalität der vietnamesischen Städte, dann ahnt man, welches Potenzial nutzbar gemacht werden könnte, und das auch mit Blick auf die Zukunft der Erwerbstätigkeit. Denn dass mit der zunehmenden Digitalisierung eine erneute Beschäftigungskrise einhergehen könnte, ist ja nicht ausgeschlossen.

Und auch deshalb wird ja über die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens debattiert. Aber statt das Unproduktivsein zu finanzieren, könnte man ja auch das Kleingewerbe fördern, also Strukturen unterstützen, die zwar weniger effizient sind, aber regionale Wirtschaftskreisläufe in Gang halten.

Menschen brauchen Gefühl, gebraucht zu werden

Nun geht es dabei nicht um Sozialromantik. Arbeitszeitregelungen, Arbeitsschutz oder Urlaubsgeld spielen in der vietnamesischen Kleinwirtschaft keine Rolle und die Aufgaben des Sozialstaates muss die Familie übernehmen. Diese Schattenseite  kann nicht verschwiegen werden und sollte auch nicht als Vorbild dienen. Aber die aktuellen Debatten um den Kohleausstieg in Sachsen-Anhalt zeigen, dass ein Perspektivwechsel angeraten scheint.

Denn diese Debatten sind ja derzeit zu einem nicht unerheblichen Teil vom Warten bestimmt, dem Warten auf Fördergelder und dem Warten auf einen Großinvestor. Und mit Blick auf letzteren könnte man genauso gut auf einen Lottogewinn spekulieren. Wie nachindustrielle Regionen so zu gestalten sind, dass sie lebenswert bleiben, also den Menschen das Gefühl geben gebraucht zu werden, gehört zu den großen Herausforderungen der Digitalisierung. Ein Blick auf vorindustrielle Formen des Wirtschaftens könnte da helfen.

"Macher-Gen" gegen die Leere?

Bislang sucht Sachsen-Anhalt vor allem den Kontakt nach Vietnam, um den Fachkräftemangel in schwierigen Branchen wie zum Beispiel der Pflege zu begegnen. Leicht dürfte das nicht werden, denn wer das quirlige Leben in den Straßen dort erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, dass die reale Leere in Teilen Sachsen-Anhalts von den jungen Zuwandererinnen als Luxus empfunden wird.

Aber vielleicht gelingt es ja, auch einen Teil des vietnamesischen "Macher-Gens" zu importieren, also das Bewusstsein, selber wirtschaftlich aktiv zu werden, natürlich flankiert von staatlicher Unterstützung. Auch wenn der Blick als Besucher ein oberflächlicher ist, die Menschen in Vietnam scheinen ihren Alltag deutlich optimistischer zu gestalten, als man dies in Ostdeutschland erlebt. Mit dem Verweis auf Einkommen oder Vermögen lassen sich diese Unterschiede  jedenfalls nicht erklären.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Über den Autor Geboren ist Uli Wittstock 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR-Hörfunk. 2016 erschien sein Roman "Weißes Rauschen oder die sieben Tage von Bardorf" im Mitteldeutschen Verlag Halle.

Quelle: MDR/olei

MDR SACHSEN-ANHALT

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