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Die Corona-Pandemie hat auch den Arbeitsalltag vieler Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter verändert. (Symbolbild) Bildrechte: imago images / Jochen Eckel

BahnverkehrAngriffe aufs Zugpersonal: Beleidigt, geschlagen und angespuckt

13. Februar 2022, 16:52 Uhr

Eine große Umfrage zeigt: Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter werden im Jahr durchschnittlich 35 Mal beleidigt, viermal angespuckt und zweimal körperlich angegangen. Auch in Sachsen-Anhalts Zügen gibt es regelmäßig Angriffe. Die Ursachen dafür sind vielfältig – die Lösungsideen vage. Ein Gespräch mit einem Zugbegleiter, der statt Fahrkarten drei Faustschläge bekam.

Es ist noch früh am Morgen, als die Regionalbahn übers Land in Richtung Magdeburg rollt. Hinter den Fenstern ist die Sonne bereits aufgegangen, weite Äcker und Felder ziehen vorbei. Drinnen im Abteil dreht Zugbegleiter Jan* seine Runde.

Das Reporter-Gespräch zum "Nachhören":

Nach und nach fragt er die Passagiere im Abteil nach ihren Fahrkarten, bis er bei einer Vierer-Gruppe ankommt: zwei Männer, zwei Frauen, alle angetrunken. Ihre Tages-Tickets vom Vortag sind bereits abgelaufen. Jan bietet ihnen ausnahmsweise an, nachträglich ein Ticket bei ihm zu lösen. "Halt die Schnauze!", tönt es ihm entgegen, die Gruppe beleidigt, wird aufbrausend. Jan fordert sie auf, an der nächsten Station aus dem Zug zu steigen.

Gegen 7:30 Uhr rollt der Zug am nächsten Bahnhof ein. Die Vier verlassen wütend den Waggon, auch der letzte von ihnen hat schon einen Fuß auf dem Gleis. Jan tritt hinter der Scheibe hervor, hinter der er vorerst Schutz gesucht hat. "Dann dreht der Mann sich plötzlich um, seine Faust kommt aus dem toten Winkel", erinnert er sich heute, zwei Schläge ins Gesicht, eine auf den Rücken. Jans Kiefer renkt sich aus, völlig überrascht geht er auf die Knie. "Dann hat er mich angespuckt und weg war er."

Tausende Angriffe pro Jahr

Was Jan an diesem Morgen erlebt hat, war ein Schock. Aber so etwas passiert Zugbegleiterinnen und Zugbegleitern immer wieder. Die Deutsche Bahn als größter Eisenbahn-Konzern Deutschlands spricht auf MDR-Anfrage von rund 2.000 Angriffen pro Jahr auf ihr Personal. Das betrifft neben den Zugbegleitenden vor allem auch das Sicherheits-Personal an den Bahnhöfen deutschlandweit. Die meisten Angriffe seien einfache Körperverletzungen, knapp 150 davon schwere. Die Bundespolizei erfasst die Zahlen auch nach Bundesland, dort werden aber natürlich nicht alle Fälle gemeldet. Im vergangenen Jahr seien in Sachsen-Anhalt um die 50 Körperverletzungs-Delikte gegen Bahnmitarbeitende erfasst worden, teilt die Bundespolizei auf Anfrage mit.

Doch natürlich gibt es eine Dunkelziffer. Und: Es muss ja nicht immer gleich ein Faustschlag sein. Um das Ausmaß der Vorfälle zu bestimmen, hat die Gewerkschaft GDL im Jahr 2019 eine groß angelegte Umfrage unter Tausenden Mitarbeitenden verschiedener Eisenbahn-Unternehmen gemacht.

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Betrachtet man nur die Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter, zeigt sich: Jede und jeder von ihnen wird dieser Umfrage zufolge im Jahr durchschnittlich 35 Mal beleidigt, viermal angespuckt und zweimal körperlich angegriffen. 

Fragt man Zugbegleiter Jan, ob diese Zahlen für ihn grundsätzlich realistisch klingen, stimmt er klar zu. "Man wird so oft beleidigt, wenn man so arbeitet, wie man arbeiten muss", sagt er. "Ich glaube, das liegt an den Menschen. Die werden heutzutage schneller aggressiv. Viele haben ja selbst vor der Polizei keinen Respekt mehr."

Den abnehmenden Respekt sieht auch Martin Kröber, Geschäftsstellenleiter der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) in Magdeburg, der inzwischen für die SPD im Bundestag sitzt. "Die Hemmschwelle, zum Beispiel einen Menschen zu schlagen, ist im Vergleich zu vor zehn Jahren eher gesunken", sagt er. Das nehme er bei verschiedenen Berufsgruppen wahr. "Ich glaube aber, wenn man Kunden-Betreuer in einer Bahn wird, erwartet man nicht automatisch, dass man den ganzen Tag beleidigt oder auch angegriffen wird."

Corona-Kontrollen als weitere Belastung

Durch die Pandemie kamen zudem auch in den Bahnen neue Bedingungen hinzu: zum Beispiel die Maskenpflicht oder der 3G-Status. Die Deutsche Bahn zum Beispiel führt etwa ein Zehntel der rund 2.000 Angriffe auf die Kontrollen der Corona-Maßnahmen zurück.

"Das hat die Belastung enorm erhöht", sagt Martin Kröber. "Solche Kontrollen können nicht einfach auf das Zugpersonal übertragen werden." Mittlerweile werde das aber auch vor allem von Sicherheitskräften oder im Team kontrolliert. "Und da bin ich auch sehr froh drüber", sagt Kröber. "Weil hier reden wir nicht nur davon, dass man beleidigt wird. Zumindest in den Fällen, die mir bekannt geworden sind, kam es in der Regel auch zu Gewalt."

Welche Situationen besonders kritisch sind

Natürlich sind die persönlichen Erlebnisse eines einzelnen Zugbegleiters oder einer einzelnen Zugbegleiterin abhängig von vielen individuellen Faktoren – manche erleben solch aggressive Vorfälle sehr regelmäßig, andere berichten kaum davon. Doch von welchen äußeren Faktoren hängt das ab? Auch damit hat sich die Umfrage der GDL beschäftigt.

So erleben die meisten Zugbegleitenden bestimmte Anlässe wie zum Beispiel ein Fußballspiel oder ein Volksfest als kritisch. Auch bestimmte Strecken sorgen für negative Gefühle sowie Zugfahrten bei Nacht. Direkt darauf folgt die Situation, alleine Dienst zu haben.

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"Wir fahren eigentlich immer alleine"

Das Problem dabei: Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter sind bei vielen Verkehrsunternehmen und in vielen Situationen standardmäßig alleine im Zug unterwegs. Das berichtet auch Jan aus dem Regionalverkehr der Deutschen Bahn: "Ob Mann oder Frau, ob Tag oder Nacht, wir fahren eigentlich immer alleine." Bei Fußballspielen gehe er deshalb manchmal schon von vornherein nicht durch den Zug. "Da sagt man sich: Dann ist mein Leben einfach sicherer."

Aus seiner Sicht spielt der Einfluss von Alkohol eine große Rolle. ​​"Wenn die Leute zum Fußball oder zu Diskotheken unterwegs sind, wäre es schön, wenn man zu zweit unterwegs wäre", wünscht sich Jan. Aber er hat auch Verständnis für seinen Arbeitgeber. "Dadurch, dass kein Mensch mehr diesen Job machen möchte, kann der das auch nicht gewährleisten."

Wie man Übergriffen vorbeugen kann

Die von Jan gewünschte Doppelbesetzung wäre eine Möglichkeit, mit der man das Risiko für Zugbegleitende minimieren kann. Eine andere ist die entsprechende Ausbildung und Schulung des Personals. Jan sieht sich dahingehend durch die Deutsche Bahn aber ganz gut vorbereitet. Einmal im Jahr gehe er zu einem dreitägigen Deeskalations-Training, wo er lerne, wie man sich in Krisensituationen verhalte. Auch der private Bahn-Konzern Abellio erwähnt auf Anfrage "Trauma- und Deeskalations-Schulungen".

Die Deutsche Bahn erwägt zudem derzeit neue technische Möglichkeiten. So seien die Sicherheitskräfte in den großen Bahnhöfen wie Berlin, Frankfurt am Main oder München schon mit sogenannten Bodycams ausgestattet. Neben der Beweismittel-Sicherung erfüllen diese Kameras laut der Bahn auch eine präventive Wirkung: So sei ein kleiner Monitor eingebaut, in dem sich die Angreiferinnen und Angreifer selbst sehen. Ein möglicher Einsatz bei Zugbegleiterinnen und Zugbegleitern wird seit 2021 auf einer Strecke der Westfrankenbahn getestet.

Auch Martin Kröber von der EVG sieht schon gute Ansätze, aber auch sehr viel Nachholbedarf – vor allem in der Breite der Eisenbahnbetriebe: aus seiner Sicht braucht es mehr vorbereitende Sicherheitstrainings, mehr Sicherheitspersonal in den Zügen und an den Bahnhöfen und mehr Kontrollen der Bundespolizei.

Welche Möglichkeit Zugbegleitende bei einem Übergriff haben

Wenn die Stimmung bedrohlich wird und ein Fahrgast aggressiv aufbraust, folgt ein weiteres Problem: der Zug bietet der Zugbegleitung kaum Ausweichmöglichkeiten. "Du hast die Möglichkeit in den Führerstand zum Lokführer zu rennen", beginnt Jan aufzuzählen und kommt auch schon zum Ende. "Ansonsten bleibt dir als allerletzte Lösung nur noch, dich in die Toilette einzusperren."

Wenn Zugbegleiterinnen oder Zugbegleiter angegriffen werden, können sie sich im Zug kaum zurückziehen. (Symbolbild) Bildrechte: picture alliance / dpa | Soeren Stache

Dort kann die betroffene Person Hilfe rufen: beim eigenen Sicherheitspersonal und bei der Bundespolizei. Die müssen dann aber erst einmal ausloten, zu welcher Zeit sie wo an Bord steigen können.

Als Jan an besagtem Morgen angegriffen wird, sind die Täter schon verschwunden. Jan fährt bis zum Bahnhof in Magdeburg und fällt zwei Wochen aus.

Wie man Betroffene nach einem Übergriff unterstützen kann

Jan wirkt heute recht gelassen, wenn er über den Angriff auf ihn spricht. Er scheint die Tat gut verarbeitet zu haben. Doch das muss natürlich nicht der Normalfall sein. Martin Kröber von der EVG weiß das aus Erfahrung – schließlich laufen bei der Gewerkschaft immer wieder solche Fälle auf. 

"Spätestens, wenn man sowas zwei, drei Mal in seinem Leben erlebt hat, geht man schon mit einer sehr großen Angst in so einen Zug rein", sagt Kröber. "Das ist ja ein Druck, den man nie wieder los wird." Die EVG bietet für solche Fälle eine Hilfe-Hotline an, die bei Bedarf auch psychotherapeutische Angebote empfiehlt.

Und auch manche Zugbetriebe bieten ähnliches an. Abellio teilt auf Anfrage mit, mit einem psychologischen Dienst zusammenzuarbeiten. Zudem schaue die entsprechende Führungskraft, welcher Unterstützung es bedarf. Die Deutsche Bahn führt eine "zunächst anonyme Beratung bis hin zu weiterführender psychologischer Betreuung" an. Doch Jan wollte so ein Angebot nach seinem Angriff nicht wahrnehmen.

"Ich hatte Angst, dass sie vielleicht sagen: 'Sie sind psychisch so fertig, Sie sind nicht mehr geeignet für den Job.'"

Ich hatte Angst, dass sie einen totschreiben.

Jan, Zugbegleiter

Die Bahn verspricht in solchen Fällen zwar, Betroffene "an einen anderen Arbeitsplatz zu vermitteln". Aber auch Martin Kröber von der EVG weiß, dass aus diesen Gründen der eine oder andere so ein Angebot nicht annimmt. "Das birgt immer die Gefahr, dass es eine gewisse Rückkopplung mit dem Arbeitgeber oder dem arbeitsmedizinischen Dienst gibt." Stattdessen würden sich einige Angestellte externe Hilfe suchen.

Insgesamt zeigt die GDL-Umfrage auch, wie sich die Befragten nach einem Vorfall von ihren Arbeitgebern versorgt fühlen.

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Problem des Preiskampfs

Für Gewerkschafter und SPD-Politiker Martin Kröber muss man neben all den betrieblichen Möglichkeiten aber auch das im Blick haben, was aus seiner Sicht die Ursache des Problems darstellt: die Art der öffentlichen Ausschreibung. "Wenn ich über Jahre einen Preiswettbewerb habe, der sich immer nur nach unten dividiert, dann ist klar, dass irgendwann auch nicht mehr genug Geld für ausreichend Personal da ist", sagt er. "Und das hat am Ende des Tages auch dafür gesorgt, dass man über Jahre nicht genügend Leute ausgebildet hat."

Seit Oktober 2021 sitzt der SPD-Politiker mit einem Direktmandat aus dem Wahlkreis Magdeburg im Bundestag – und auch im Verkehrsausschuss. Dort will er sich unter anderem für das einsetzen, was ihn als Gewerkschafter in den vergangenen Jahren gestört hat.

Und Zugbegleiter Jan?

Er kann verstehen, warum nicht mehr viele junge Menschen den Job machen wollen. Für ihn ist es aber trotz des Angriffs und fortwährenden Beleidigungen ein Traumjob. "Jeder Tag ist anders, das ist schönste daran", sagt er. "Und jeden Tag kommen neue Leute, es passieren andere Dinge."

*Jan heißt eigentlich anders. Zum Schutz seiner Persönlichkeit wurde der Name von der Redaktion geändert. Sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt.

Mehr zum Thema: Der Alltag von Zugbegleitern

MDR (Daniel Tautz)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 13. Februar 2022 | 17:00 Uhr

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