Interview zur Situation in Afghanistan Oberstleutnant der Reserve: "Jetzt ist alles zu spät"
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Tausende Menschen sitzen in Afghanistan fest und warten auf Evakuierung, auch nach Deutschland. Neben deutschen Staatsbürgern betrifft das auch heimische Ortskräfte, deren Leben durch ihre Arbeit mit der Bundeswehr nun bedroht ist. Einer, der dabei hilft, Menschen - auch aus Sachsen - aus der Gefahrenzone zu bringen, ist der Oberstleutnant der Reserve, Hans-Jürgen Domani. MDR SACHSEN hat mit ihm gesprochen.

Hans-Jürgen Domani Hans-Jürgen Domani war bis Ende 2020 Vorsitzender der Landesgruppe Sachsen des Reservistenverbandes der Bundeswehr. Der Zwickauer versucht sogenannten Ortskräften die Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen. Im Gespräch mit MDR SACHSEN sagte er, es seien vor allem persönliche Kontakte, die ihn angesprochen und um Hilfe gebeten haben. Er ist kritisch mit Blick auf die abwartende Haltung der Bundesrepublik. Domani war von 2010 bis 2011 als Verbindungsoffizier in Afghanistan stationiert. Er ist Oberstleutnant der Reserve.
Wie sehen Sie die Sicherheitslage in Kabul?
Die Chance zur Evakuierung ist noch geringer als vorher.
Jetzt ist alles zu spät, weil mittlerweile auch der Luftraum gesperrt ist, auch für zivile Maschinen. Das kam aber alles mit Ansage.
Die Ortskräfte haben aktuell keine Möglichkeit mehr, auszureisen, der Luftraum ist geschlossen. Eine Evakuierung geht nur noch über Regierungsmaschinen. Aber den Weg zu Flughafen muss man erstmal schaffen. Man kommt nur mit bewaffneten Begleitkräften zum Flughafen, ein Bekannter von mir musste den Weg aus Sicherheitsgründen abbrechen. In der Stadt bricht alles zusammen, es gibt keine öffentliche Ordnung mehr.
Was sind Ortskräfte? Ortskräfte sind Menschen, die entweder direkt oder indirekt bei der Bundeswehr beschäftigt waren. Zum Beispiel als Dienstleister, Fahrer oder Übersetzter vor Ort. Insgesamt kommen wir auf etwa 700 Menschen, die ein Visum für Deutschland haben, aber noch vor Ort festsitzen. Rund 2.000 Personen könnten jetzt noch ein Visum bekommen. Dazu kommen noch rund 4.000 Menschen, die bisher keinen Anspruch hatten, jetzt aber auch ein Anrecht bekommen könnten. (Quelle: Hans-Jürgen Domani)
Was ist Ihre persönlich Rolle zurzeit?
Ich versuche, zwischen privaten Sicherheitsfirmen und meinen Kontakten vor Ort zu vermitteln, um den Transport der Schutzsuchenden und ihrer Familien zum Flughafen zu organisieren.
Ich betreue seit Jahren schon eine Familie in Zwickau, deren Angehörige in Afghanistan erpresst werden. Eine der Forderungen war beispielsweise, die minderjährige Tochter vor Ort mit einem Taliban-Angehörigen zu verheiraten. Einer der Söhne ist Polizist. Die Familie hat ein Drohschreiben erhalten, dass er überlaufen soll, dann werde man mit dem Leben davon kommen.
Wie beurteilen Sie das Handeln der Bundesregierung?
Die Lage hat sich seit Monaten angebahnt. Man muss völlig naiv gewesen sein, etwas anderes erwartet zu haben, als das, was jetzt passiert ist.
Wir hätten zwei Monate Zeit gehabt, die Ausreise der Ortskräfte zu organisieren.
Im Juni hatten die Grünen dazu einen Antrag im Bundestag gestellt, den Prozess zu vereinfachen. Jetzt müssen wir das an einem Wochenende organisieren.
Anmerkung der Redaktion In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass Hans-Jürgen Domani Chef des Reservistenverbandes der Bundeswehr sei. Domani war bis Ende 2020 Chef der Landesgruppe Sachsen des Reservistenverbandes der Bundeswehr. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.
Quelle: MDR/bj/st
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | Sachsenspiegel | 16. August 2021 | 19:00 Uhr