Sonderpädagogik Eine Schule fürs Leben: In der Förderschule Kleinwachau lernen Menschen mit Behinderung

09. Januar 2023, 05:00 Uhr

Im Norden von Dresden, kurz hinter Radeberg, liegt Kleinwachau. Ein kleiner Ort, versteckt zwischen den Hügeln und Wäldchen des Hochlandes über der Landeshauptstadt. Inmitten der Idylle betreibt das Diakonische Werk der evangelischen Landeskirche Sachsens ein großes Epilepsiezentrum. Die Einrichtung besteht aus einer Neurologieklinik, Wohnungen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung - und einer von 157 Förderschulen im Freistaat.*

In der Förderschule Kleinwachau steht die geistige Entwicklung der Kinder im Mittelpunkt. Das bedeutet, die Einrichtung kümmert sich vor allem um Kinder mit "komplexen Lernschwierigkeiten und um Kinder mit Einschränkungen in den Bereichen Wahrnehmung, Bewegung und Kommunikation" - so heißt es auf der Internetseite der Schule.

"Wir betreuen Schüler, die verschiedene Diagnostiken haben. Das geht von sprachlichen Einschränkungen bis zu körperlichen", erzählt die stellvertretende Schulleiterin Petra Reithmeier-Wiciak.

Schreiben und lesen lernen ist nicht für jeden hier das Ziel.

Petra Reithmeier-Wiciak Stellvertretende Schulleiterin der Förderschule Kleinwachau

Wissen wird erfühlbar gemacht

Der Unterricht hier ist völlig anders als an regulären Schulen, erzählt sie. Erklären, mitschreiben, Frontalunterricht - das gebe es hier nicht. "Unsere Schüler brauchen Dinge in der Hand. Erfahren und erleben, vorzeigen und nachmachen." Aber wie macht man Mathe erfühlbar? "Wir schreiben zum Beispiel Zahlen auf den Rücken oder arbeiten mit Knete." Schreiben und Lesen lernen gehöre natürlich dazu, sei aber nicht das Ziel für jeden Schüler, sagt Reithmeier-Wiciak.

Individueller Bedarf im Vordergrund

Unabhängig davon, mit welcher Beeinträchtigung die Kinder an die Schule kommen, wird versucht, jedem Kind individuell gerecht zu werden, sagt Matthias Dieter. Er ist der Schulleiter der Einrichtung und dazu auch für den Kindergarten des Epilepsiezentrums Kleinwachau zuständig. "Die Schüler kommen zu uns, weil hier der eigene Plan im Vordergrund steht. Es gibt in der Schule kein Klassenniveau, sondern es wird individuell geschaut, welcher Schüler welches Ziel hat", erzählt er. Das eine Ziel, was alle verbindet, sei die Teilhabe. "Aber auch das ist individuell: Für den einen bedeutet Teilhabe, sich artikulieren, sprechen zu können. Für die anderen ist es die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz nach der Schule", erklärt Dieter.

Fast so viel Lehrpersonal wie Schüler

Der Anspruch, jedem Kind gerecht zu werden, hat einen hohen Personalaufwand zur Folge. Im Gesamtvergleich sei die Schule in Kleinwachau eher klein, meint der Schulleiter. Derzeit würden hier 62 Schülerinnen und Schüler in neun Klassen unterrichtet. "Dann mag es irritierend klingen, wenn ich sage, dass wir 45 Beschäftigte haben." Für jede Klasse gebe es einen Lehrer und zwei pädagogische Mitarbeitende, schlüsselt er auf.

Es mag irritierend klingen, wenn ich sage, dass wir 45 Beschäftigte bei 62 Schülern haben.

Matthias Dieter Schulleiter Förderschule Kleinwachau

Dazu kämen spezialisierte Förderlehrer und -lehrerinnen, die außerhalb des normalen Unterrichts unterstützen. "Wir haben außerdem eine Art 'overhead-Personal' - einen Pool an Mitarbeitenden wie Sozialdienst, Schulpsychologe und Berufsplaner, die abseits des Unterrichts unterstützen." Dabei gehe es beispielsweise um Berufsplanung, Fahrdienste und Ähnliches. Finanziert werde das, wie andere Schulen auch, über das Kultusministerium, so Dieter.

Möglichst vollständige Betreuung

Für die Schülerinnen und Schüler bedeutet dieser hohe Personalaufwand eine durchgängige Betreuung. Phillip** besucht derzeit die 11. Klasse. Besonders der Werkunterricht habe es ihm angetan, erzählt er. "Werken gefällt mir besonders. Da dürfen wir nämlich an die Bohrmaschinen." Nach dem Schulabschluss will Phillip etwas Handwerkliches machen. "Wir haben in der Vorweihnachtszeit eine Art Teelicht gebaut und dann auf dem Weihnachtsmarkt verkauft, das war cool!"

Selbstständigkeit vermitteln

Genau solche Projekte gehören zum Kernanliegen der Schule, meint Petra Reithmeier-Wiciak. "Selbstständigkeit ist das Ziel, irgendwann möglichst unabhängig zu sein. Ob im Alltag oder dem Beruf." Dafür gibt es an der Förderschule neben dem regulären Mathe-, Deutsch- und Sachunterricht auch spezielle Berufsvorbereitungskurse. In denen werde vor allem anwendungsbezogen geübt. "Die Schülerinnen und Schüler lernen Dinge wie das Abmessen beim Kochen oder selbstständig mit Bus und Bahn zu fahren, einen Fahrplan zu lesen oder Flächen zu schätzen", sagt Dieter. Der Unterricht hier sei vor allem Unterricht fürs Leben.

Förderschule oder Inklusionsklasse?

Eine solch intensive Begleitung und Betreuung ist laut Dieter und Reithmeier-Wiciak einer der großen Vorteile einer Förderschule. Allerdings liegt die Entscheidung, welche Schule ein Kind mit Förderbedarf besucht, bei den Eltern.

Laut sächsischem Schulgesetz wird potentieller sonderpädagogischer Förderbedarf bei den Aufnahmegesprächen zur Einschulung angesprochen. Darauf folgen Beratung, gegebenenfalls Diagnostik und die Suche nach einer geeigneten Schule. Schließlich entscheiden die Eltern, ob inklusiv - also in einer regulären Schule - beschult oder in einer Einrichtung mit Förderschwerpunkt unterrichtet wird. "Inklusiv geht nur, wenn die Gegebenheiten in der Schule vorhanden sind und keine Fremd- oder Selbstgefährdung vorliegt", sagt Dieter. Entscheidend sollte der individuelle Bedarf des Kindes sein.

Kultusministerium sieht Förderschulen als wichtigen Baustein 

Das sächsische Kultusministerium sieht das ähnlich und verweist darauf, dass viele Eltern sich sehr bewusst für eine Förderschule entscheiden würden. Manchmal auch übergangsweise. "Förderpädagogische Maßnahmen, eine spezielle Ausstattung der Klassen- und Fachräume sowie die Klassenstärken ermöglichen in vielen Fällen die (Wieder-)Eingliederung in andere allgemeinbildende Schulen", so eine Sprecherin. Insofern werde die Formulierung, Kinder würden "an die Förderschulen abgeschoben", den Bildungseinrichtungen und dem großen Engagement der Lehrerinnen und Lehrer nicht gerecht. Das Ziel des sächsischen Bildungswesens sei es, "so viel gemeinsamen Unterricht an der Regelschule wie möglich und so viel Unterricht an der Förderschule wie nötig" zu gewährleisten.

Hoher Bedarf an Förderschullehrkräften

Um den Bedarf zu decken, brauchen natürlich auch Förderschulen ausreichend Pädagogen. Und auch wenn die personelle Ausstattung in Kleinwachau scheinbar sehr komfortabel ist, so gibt es landesweit einen erheblichen Bedarf, wie der Junge Sächsische Lehrerverband (SLV) zuletzt moniert hat. "Nur ein schulartfremder Einsatz von ausgebildeten Lehrkräften könnte noch die große Lücke zwischen Einstellungsbedarf und Bewerberzahl schließen", so der SLV. Von den rund 3.500 Lehrkräften an Förderschulen in öffentlicher Trägerschaft haben nach Angaben der Grünen im Sächsischen Landtag 44,2 Prozent keine entsprechende sonderpädagogische Ausbildung.

Der SLV sieht die Ursache vor allem auch in der Hochschulausbildung. "Das Defizit liegt im hohen Anteil von Studierenden aus anderen Bundesländern im Lehramt Sonderpädagogik an der Universität Leipzig. Nur etwa 70 von ca. 300 sächsischen Interessenten erhalten pro Jahr einen der ca. 220 Studienplätze, obwohl in Sachsen langfristiger Bedarf von 150 bis 170 Einstellungen pro Jahr besteht."

Heterogenität als Normalität

"Für eine Akzeptanz und eine geglückte Inklusion von Menschen mit Behinderung braucht es die Heterogenität als Normalität", meint Schulleiter Matthias Dieter. Dazu leisteten Förderschulen - ob staatlich oder in freier Trägerschaft - einen wichtigen Beitrag. Laut Dieter sei die Frage, ob es in Regelschulen immer leistbar sei, dem Bedarf der Schüler auch gerecht zu werden. "Das ist derzeit mit Sicherheit nicht möglich. Es braucht einen heterogenen Grundansatz des Denkens von Bildung", sagt der Schulleiter. Nur dann werde Inklusion wirklich möglich. 

Pilotphase zur Inklusion beendet - nicht der gewünschte Erfolg

In seiner Dezembersitzung hatte der Sächsische Landtag eine Novelle des sächsischen Schulgesetzes beschlossen. Damit endete ein auf fünf Jahre angelegtes Modellprojekt an 20 Schulen. An diesen Einrichtungen wurde erst in der Klassenstufe 2 entschieden, ob bestimmte Kinder eine besondere Förderung in puncto Lernen oder emotionale und soziale Entwicklung benötigen. "Der ursprüngliche Gedanke, Kinder nicht frühzeitig zu etikettieren, war gut gemeint, hatte aber einen entscheidenden Nachteil", sagte Kultusminister Christian Piwarz (CDU). Denn sonderpädagogische Diagnostik habe primär den Sinn, möglichst rasch eine gezielte Förderung zu ermöglichen. Im Gesetzentwurf hieß es daher: "Deshalb ist es geboten, von einer flächendeckenden Übertragung auf alle Schulen mit Primarstufe abzusehen, die Pilotphase zu beenden." Vereinbart wurde allerdings, neue Wege der Inklusion zu gehen.

* Stand Schuljahr 2021/22, Quelle: Kultusministerium Sachsen
** Name von der Redaktion geändert

Zahlen und Fakten zur Förderschule Kleinwachau

  • Zahl der Schüler insgesamt: 62
  • Klassenstärke: zwischen sechs und zwölf Schülerinnen und Schüler
  • für Kinder ab dem sechsten Lebensjahr (Grund- und weiterführende Schule in einem Gebäude)
  • Personal: etwa 45 Mitarbeitende, das umfasst Lehrpersonal, Psychologe, Sozialdienst u.ä.
  • vor allem für Schülerinnen und Schüler aus dem Landkreis Bautzen und Dresden
  • Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
  • Die Förderschule ist eine Schule in freier Trägerschaft der Diakonie der evangelischen Landeskirche Sachsens.

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