Versuch an elf SchulenVerzicht auf Noten – ein Erfolgsmodell?
Elf Schulen in Sachsen beteiligen sich an einem Versuch: Was passiert, wenn Kinder ohne Noten lernen? Die Grundschulen in Großpostwitz und Olbersdorf in der Oberlausitz wollen es herausfinden und schaffen die Noten in mehreren Nebenfächern ab. Eltern und Lehrer sind teils begeistert, teils skeptisch.
- Wie finden es die Schüler, dass sie in bestimmten Fächern keine Noten mehr bekommen?
- Welche Befürchtungen haben die Eltern?
- Zwei Lehrerinnen berichten, warum sie die Abschaffung von Noten in Ethik oder Musik richtig finden.
In der Lessing-Grundschule in Großpostwitz bei Bautzen gibt es seit Beginn dieses Schuljahres in vier Fächern keine Noten mehr. Die Grundschule nimmt an einem Versuch des Landes Sachsen teil. Vier Jahre lang darf sie erproben, wie es sich auswirkt, wenn in den Nebenfächern keine Noten vergeben werden.
"Wir haben uns für dieses Schuljahr für Sport, Kunst, Ethik und Religion entschieden", erklärt Schulleiterin Doreen Rindock. Weitere Fächer könnten im Verlauf der vier Jahre hinzukommen. Man denke zum Beispiel über Musik nach.
In welchen und wie vielen Nebenfächern keine Zensuren vergeben werden, ist den teilnehmenden Schulen freigestellt. Ausgenommen sind Mathematik, Deutsch und Sachkunde, weil diese Fächer relevant für die Schulempfehlung sind und Zensuren für die Vergleichbarkeit wichtig.
Woher kommt die Idee der Schule ohne Noten in Sachsen? (zum Ausklappen)
Den Anstoß zu dem Versuch hatten Expertinnen und Experten gegeben, die im Rahmen des Projektes "Bildungsland Sachsen 2030" im Auftrag des Freistaates Handlungsempfehlungen für die Schule der Zukunft erarbeitet hatten. Sie empfahlen, Noten durch alternative Rückmeldeformate zur Leistungsbewertung zu ersetzen.
Kultusminister Christian Piwarz (CDU) ermöglichte Schulen daraufhin, den Verzicht auf Noten in den Nebenfächern vier Jahre lang zu erproben. Elf Schulen nehmen teil, zehn Grund- und eine Sonderschule. Der Schulversuch wird von der TU Dresden wissenschaftlich begleitet.
Schriftliche Rückmeldung statt Zensuren
Statt Noten soll es jetzt zum Halbjahresende schriftliche Rückmeldungen an der Lessinggrundschule geben, aus denen für die Schüler klar hervorgehen soll, was sie gut gemacht haben und woran sie noch arbeiten können. Die Lehrer nutzen Beobachtungsbögen mit verschiedenen Kriterien, um die Fortschritte der Schüler nach bestimmten Kriterien beurteilen zu können. Es gehe auch darum, die Stärken und Fortschritte hervorzuheben. "Wir erhoffen uns von diesem Bewertungssystem, dass die Kinder mit mehr Freude reingehen, mit mehr Kreativität", sagt Rindock.
Wir erhoffen uns von diesem Bewertungssystem, dass die Kinder mit mehr Freude reingehen, mit mehr Kreativität.
Doreen Rindock, Schulleiterin
Denn das beobachte sie in den Klassenstufen eins und zwei. In der ersten Klasse gibt es in Sachsen keine Noten, in der zweiten nur in den Hauptfächern. "Da lernen die ganz frei aus dem Bauch heraus. Die Antworten kommen spontan und man kann mit den Kindern sehr kreativ arbeiten", sagt die Schulleiterin.
Noten in Nebenfächern ab dritter Klasse
Ab der dritten Klasse gibt es in Sachsen in allen Fächern außer Englisch eine Note. Manche Schüler würden dadurch überlegen, was der Lehrer hören will. "Wir wollen, dass sie ihre Meinung sagen und lernen, sie zu begründen, nicht dass sie uns nach dem Mund reden", erklärt Rindock.
Wir wollen, dass sie ihre Meinung sagen und lernen, sie zu begründen, nicht dass sie uns nach dem Mund reden.
Doreen Rindock
Gerade in Fächern wie Kunst, in denen die Note sehr vom Talent abhinge, könnten Zensuren demotivierend wirken. "Wir wollen im Kunstunterricht zum Beispiel verstärkt mit den Kindern Arbeitstechniken üben und sie bestärken, dass sie, auch wenn sie angeblich nicht malen können, ganz tolle Bilder produzieren können. Und das funktioniert mit Zensuren nicht so gut, haben wir festgestellt."
Was sagen die Schüler?
Und wie finden es die Schüler der Lessing-Grundschule in Großpostwitz, dass sie künftig in Kunst, Sport, Religion und Ethik keine Noten mehr bekommen? Schnell sammelt sich eine Gruppe Viertklässler um den Reporter, etwa 15 Kinder, die alle etwas zu dem Thema loswerden wollen: "Ich finde das cool, weil ich jetzt keine schlechten Noten mehr in Sport bekomme", sagt ein Junge. Ein Mädchen findet es schlecht "weil in Kunst und Sport hatte ich gute Noten. In Ethik finde ich es aber gut, weil ich da nie gute Noten hatte", erklärt sie.
Ein anderes Mädchen wendet ein, dass Schüler, die in einem bestimmten Fach "nicht so gut sind", durch das neue Bewertungssystem denken würden, sie müssten sich nicht mehr anstrengen, "weil es ja eh keine Noten mehr gibt".
Ein Junge neben ihr ist zwar froh, dass die Note in Sport wegfällt, weil er "nicht gerade sportlich" sei. Anstrengen würde er sich trotzdem, "weil Sport ist wichtig". Aber es mache mehr Spaß ohne schlechte Note. Ein weiteres Mädchen stimmt zu: Sie sei weiterhin genauso motiviert, denn "es gibt ja immer noch eine schriftliche Bewertung."
Grundschule in Olbersdorf beteiligt sich auch an Versuch
Die Grundschule "Emil Ufer" in Olbersdorf bei Zittau geht noch einen Schritt weiter. Dort entschied man sich dafür, gleich in allen Nebenfächern die Notengebung auszusetzen: in Musik, Kunst, Werken, Sport, Ethik, Religion und Englisch.
Viele Eltern hätten sofort "Hurra" gerufen, als man sie nach ihrem Einverständnis zu dem Vorhaben fragte, berichtet Schulleiter Gordon Alisch. "Andere waren nicht begeistert. Die haben ganz viel recherchiert und sind in Fachgespräche gekommen mit uns", berichtet er.
Mutter: Zensuren geben Klarheit
Auch Uta Neumann, deren Tochter in die vierte Klasse der Grundschule geht, war dagegen. "Und ich kann auch heute noch nicht sagen, dass ich davon begeistert bin", sagt sie. "Ich denke, Kinder wissen bei einer Zensur, wo sie stehen". Und diese Klarheit würden sie sich wünschen.
Sie habe sich aber sagen lassen, dass die Schüler sich durch das neue Bewertungs- und Rückmeldungssystem besser einschätzen könnten. Deshalb habe sie sich für den Versuch geöffnet. Letztendlich stimmte auch der Elternrat trotz Skepsis zu. "Man könne es zumindest versuchen", sei der Tenor gewesen, berichtet der Schulleiter.
Detailliertes Feedback
Er zeigt einen "Einschätzungsbogen" für das Fach Werken in der vierten Klasse. Mit seiner Hilfe sollen Lehrer Schülern ein Feedback geben können, das viel mehr aussagt als eine Zensur. 17 Punkte stehen darauf, die inhaltliche Kompetenzen oder die Arbeitsweise betreffen: von "zeigt Einfallsreichtum und individuelle Lösungen" über "erkennt und findet Fehler an technischen Objekten" bis hin zu "kennt Einsatzbereiche von Holz- und Kunstwerkstoffen".
Hinter den einzelnen Punkten können vier Symbole angekreuzt werden, von einem zarten Pflänzchen, das gerade erst aus dem Boden keimt, bis zu einem ausgewachsenen Baum. Die vier Entwicklungsstufen der Pflanze stehen dabei für den Entwicklungsstand bestimmter Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder.
Lehrerin: "Ich war sofort begeistert"
"Sofort begeistert" von der Teilnahme an dem Versuch war die Lehrerin Susanne Hergesell. Sie ist vor vier Jahren mit dem Referendariat fertig geworden und unterrichtet neben den drei Hauptfächern auch Ethik. In dem Fach sei es besonders schwer, aussagekräftige Noten zu geben.
Sie glaubt, dass Zensuren sich nachteilig auf die Motivation auswirken können. Denn durch sie würden Kinder sich angewöhnen, für Noten zu lernen statt aus Freude daran.
Lehrerin: "Bestimmte Fächer werden durch Noten zu Problemen"
Auch ihre Kollegin Antje Berger ist froh, dass sie keine Noten mehr geben muss. Sie unterrichtet Kunst und Musik. "Bestimmte Fächer werden mit Noten für Kinder zu Problemen", sagt sie und veranschaulicht das Gesagte mit einem Beispiel: "Es gibt Kinder, die können einfach nicht singen. Und wenn man denen dann sagt: Du hast den Text gelernt, den Rhythmus kannst du auch. Das ist eine Drei oder eine Vier, dann sind sie frustriert".
Es käme ganz anders bei den Schülern an, wenn man ihnen zum Beispiel zurückmeldet: "Du hast die Melodie noch nicht so richtig drauf, du kannst aber super den Rhythmus halten. Wir arbeiten an der Melodie." Dadurch fühlten die Kinder sich "nicht in eine Schublade gedrückt". So könne man sie bei der Weiterentwicklung viel besser unterstützen, statt sie zu demotivieren.
Welche Erfahrungen gibt es in Sachsen mit dem Modell Schule ohne Noten? (zum Ausklappen)
An der Universitätschule Dresden wird schon seit 2019 das Lernen ohne Noten erprobt. Die Professorin der Erziehungswissenschaften Anke Langner begleitet das Projekt wissenschaftlich. Vor allem die Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen schwerfällt, würden vom Verzicht auf Noten profitieren. "Wir sehen, dass sie leistungsfähiger sind. Sie werden nicht so degradiert", sagt die Erziehungswissenschaftlerin.
Auch würde durch Noten Druck aufgebaut, der Kinder zu "Bulimie-Lernen" verleite - also dem intensiven Lernen vor Klausuren und Tests statt eines kontinuierlichen, nachhaltigen Lernens. Langner warnt aber davor, zu viel vom Verzicht auf Noten allein zu erwarten. Die Maßnahme müsse Teil einer neuen Lernkultur sein, die zum Beispiel Kooperationsfähigkeit sowie kreatives und lösungsorientiertes Denken zum Ziel hat.
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalreport aus dem Studio Bautzen | 12. November 2024 | 16:30 Uhr
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