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Rückblick 22.07.2021Impfstoff-Streit: Ist Professor Stöcker ein Oberlausitzer Wohl- oder Straftäter?

22. Juli 2021, 11:02 Uhr

Gegen den gebürtigen Oberlausitzer Winfried Stöcker ermitteln Staatsanwaltschaften in Görlitz und Lübeck. Zudem laufen Verwaltungsverfahren gegen den 74 Jahre alten Professor, weil er ein nicht genehmigtes SARS-CoV-2-Antigen verimpft haben soll. Erst vor wenigen Tagen gab es wieder eine Impfaktion im Kulturzentrum in Kiesdorf. Zudem injiziert angeblich eine Ärztin aus dem Zittauer Dreiländereck auf Patientenwunsch das Präparat von Stöcker.

Die Staatsanwaltschaft Lübeck geht davon aus, dass der Mediziner Winfried Stöcker gegen Gesetze verstoßen hat und ermittelt gegen ihn. Zuvor hatten das Landesamt für soziale Dienste in Lübeck und das Paul-Ehrlich-Institut den gebürtigen Oberlausitzer, der seit Jahren in Lübeck lebt, angezeigt, weil er Straftaten nach den Paragrafen 95 und 96 des Arzneimittelgesetzes begangen haben soll.

Stöcker soll ohne die erforderliche Erlaubnis ein SARS-CoV-2-Antigen hergestellt und in der Folgezeit sich selbst und anderen Personen verabreicht haben, ohne dass er über die dafür erforderlichen Genehmigungen verfügt hätte.

Ulla Hingst | Oberstaatsanwältin Lübeck

Zum aktuellen Stand der Ermittlungen wollte sich die Lübecker Oberstaatsanwältin Ulla Hingst nicht äußern, auch nicht vor dem Hintergrund einer erneuten Impfaktion im Kiesdorfer Kulturzentrum.

Wer ist der Mediziner?- Winfried Stöcker wurde 1947 in Rennersdorf in der Oberlausitz geboren.
- Ein Jahr vor dem Mauerbau siedelte seine Familie nach Westdeutschland/Bayern über.
- Nach dem Medizinstudium und Promotion gründete Stöcker 1987 ein Unternehmen für Labordiagnostik. Das ist mittlerweile weltweit tätig im Bereich der Labormedizin. Vor vier Jahren verkaufte der Medizinprofessor sein Unternehmen an einen US-Konzern, laut Handelsblatt für 1,3 Milliarden Dollar.
- Stöcker ist als Forscher Inhaber mehrerer Patente im Bereich der Laboratoriumsmedizin und arbeitet in der Nähe von Lübeck.
- Als Investor kaufte er 2013 das Görlitzer Warenhaus, seit 2016 ist er über eine Objektgesellschaft Besitzer des Flughafens Lübeck.
- Der Mann provozierte in den vergangenen Jahren immer wieder in der Öffentlichkeit, indem er zum "Sturz der Kanzlerin Merkel" aufrief, wiederholt gegen Flüchtlinge, Journalisten und Feministinnen wetterte und Vertreterinnen der Me-Too-Bewegung herabwürdigte.
- Nach dem AfD-Skandal nach der Landtagswahl 2020 im Thüringischen Landtag trat Stöcker aus der FDP aus, in der er jahrelang Mitglied war. Im Jahr 2019 hatte er laut Spendenliste 20.000 Euro der AfD gespendet.

Die Sicht des Mediziners

Winfried Stöcker forscht nach eigenen Aussagen nach dem Auftreten von COVID-19 an einem Impfstoff. Im Frühjahr 2021 sagte er MDR SACHSEN in einem Telefoninterview, dass er dafür seine langjährigen Erfahrungen bei der Autoimmundiagnostik, Infektions-Serologie und seine Kenntnisse in der Molekulargenetik nutze. Ihm und seinem Team sei es demnach gelungen, ein Antigen, einen sogenannten Totimpfstoff, zu entwickeln. "Der Virus dockt an unsere Zellen an und nutzt dafür eine spezielle Oberflächenstruktur. Diese Struktur haben wir genutzt, um ein Antigen herzustellen." Um die Wirksamkeit seiner Entwicklung zu testen, riskierte der Mediziner und drei seiner Mitarbeiter einen Selbstversuch, erzählte er.

Gegen Winfried Stöcker wird ermittelt, weil er einen selbstentwickelten Impfstoff an Patienten verabreicht haben soll. Bildrechte: Winfried Stöcker

Ich habe in ganz kurzer Zeit, innerhalb von vier Wochen Antikörper bekommen und habe auch keine Nebenwirkungen gespürt. Nur die Einstichstelle hat so etwa drei Tage lang geschmerzt.

Prof. Winfried Stöcker | Mediziner

Mit seinem Impfstoff will sich der Mediziner drei Mal immunisiert haben und sei deshalb von Corona verschont geblieben, sagt er. Allerdings sollen nach der ersten Immunisierung drei weitere Selbstversuche mit verbessertem Impfstoff gefolgt sein. Stöcker habe damit überprüfen wollen, ob der Körper Schaden nimmt oder Nebenwirkungen auftreten. An einem sogenannten Heilversuch hätten anschließend 150 Menschen freiwillig teilgenommen, sagt Stöcker. "Alle Teilnehmer haben so viele Antiköper entwickelt, um den Virus anschließend zu neutralisieren."

Strafanzeigen wegen nicht zugelassenem Impfstoff

In Kiesdorf sollen vor einigen Tagen zahlreiche Oberlausitzer mit dem Stöcker-Antigen geimpft worden sein. "Es haben viele Autos hier gestanden, alles zugeparkt", erzählt ein Anwohner. Die Ortsfremden seien sehr freundlich gewesen. Da seien junge Mädchen darunter gewesen, Ehepaare in jedem Alter, aber auch viele Rentner, erzählt der Anwohner weiter. Stöcker sei auch da gewesen. Den habe er auf dem Parkplatz vor dem "Kulti" erkannt.

Die Aktion sei nicht die erste Impfaktion gewesen, ergänzt eine andere Nachbarin. Das war wahrscheinlich das zweite oder schon dritte Mal. Deshalb habe sie spontan zwei junge Frauen gefragt, ob sie denn Nebenwirkungen gespürt hätten. Die Frauen hätten verneint, seien aber sehr kurz angebunden gewesen.

Kiesdorfer wortkarg bei Nachfragen

Überhaupt werden die Oberlausitzer rings um Kiesdorf sehr wortkarg, wenn sie von MDR SACHSEN auf Stöcker angesprochen werden. Zu dessen Impfungen äußern sie sich nicht oder nur in der Art: Die Pharmakonzerne wollten wohl einen unliebsamen Mitwettbewerber ausschließen. Angesprochene verweisen vielmehr auf die Verdienste Stöckers in der Region, auf Arbeitsplätze in Bernstadt bei einer Tochter der Firma von "Euroimmun", auf Hilfe bei der Erschließung der Blauen Lagune am Berzdorfer See oder die Sanierung des Jugendstil-Kaufhauses in Görlitz.

Die schnelle Erschließung der Blauen Lagune wäre ohne die finanzielle Unterstützung durch Stöcker nicht möglich gewesen. Bildrechte: IMAGO / Rainer Weisflog

Interner Kreis von Stöcker-Anhängern?

"Die Impfwilligen kommen meist aus dem Umfeld von Stöckers Betrieben. Es sind Mitarbeiter, Familienangehörige oder Verwandte", erzählen zwei Männer, die nach eigenen Angaben bereits die zweite Stöcker-Dosis erhalten haben. "Darunter sind aber auch einige Impfskeptiker, die nur Stöcker vertrauen und Medizinkonzerne ablehnen."

Im Saal des Kulturzentrums Kiesdorf sind die dunkelbrauen Stühle hochgestellt. Nichts erinnert mehr an eine Impfaktion. In der Küche daneben herrscht Hochbetrieb, denn die Mitarbeiter der Stöcker Hotel GmbH kochen dort Essen für Kitas und Schulen in der Umgebung. Von den Mitarbeitenden will sich keiner auf Nachfragen äußern. Nur soviel ist zu hören: "Herr Stöcker ist ein guter Arbeitgeber."

Impfen als Heilversuch

Dass sich auch Stöcker an die Zulassungsbestimmungen und die Gesetze halten muss, wird von fast allen Gesprächspartnern ignoriert. Darin werden die Oberlausitzer in ihrer Meinung vom Mediziner selbst bestärkt. Stöcker will nur einen Formfehler gemacht haben, indem er bei seinen Patienten von Probanden und damit von Testpersonen gesprochen habe. Er meint, dass jeder Arzt Heilversuche unternehmen dürfe, wenn er sich seine Arznei selbst herstellt.

Bei der Behandlung seiner Patienten darf dem Arzt niemand reinreden. Das ist geltendes Recht.

Prof. Winfried Stöcker | Mediziner

Gemeinde und Polizeibehörden ahnungslos

Von Stöckers Impfzentrum in seiner Gemeinde weiß der parteilose Bürgermeister Christian Hähnel angeblich nichts. "Die Stöcker Hotel GmbH ist der Pächter in Kiesdorf und wir sind froh, dass wir diesen Pächter seit zehn Jahren haben. Und auf Veranstaltungen haben wir ohnehin keinen Einfluss", erklärt der Kommunalpolitiker.

Ahnungslos gab sich auf Nachfrage von MDR SACHSEN auch die Polizei. Fallen Menschenansammlungen in Kiesdorf nicht auf? Das Kulturzentrum liegt abgelegen an einer Dorfstraße. Auch die Görlitzer Staatsanwaltschaft wusste bislang nichts von den "illegalen" Impfaktionen. Sie prüft noch, ob sie eigene Ermittlungen aufnimmt. Dabei wollen sich die Görlitzer mit ihren Kollegen in Lübeck abstimmen, sagt der Görlitzer Staatsanwalt Christopher Gerhardi - auch wenn es offiziell von den Behörden heißt: "Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Weitere Auskünfte können daher aktuell nicht erteilt werden."

Eines sickerte trotzdem aus Ermittlerkeisen durch: Die Arbeit sei nicht einfach. Rings um den Professor sei eine Mauer des Schweigens entstanden, hieß es.

Quelle: MDR/uwa

Anmerkung der RedaktionIn einer früheren Version hatten wir das Alter von Herrn Stöcker mit 76 Jahren angegeben. Er ist allerdings 74 Jahre alt. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Bautzen | 19. Juli 2021 | 06:30 Uhr