Ringen um Arbeitsplätze Görlitzer Waggonbau vor ungewisser Zukunft
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Im Osten stirbt die Industrie weiter auf Raten. Ein Beispiel dafür ist der Görlitzer Waggonbau. Er wurde vor einem Jahr vom französischen Bahntechnikkonzern Alstom übernommen. Soll jetzt der neue Standortleiter den traditionsreichen Betrieb abwickeln?

Grau sind die Wolken über dem Görlitzer Waggonbau. Stürmische Böen wirbeln Staub auf den Betriebsstraßen auf. Vor reichlich zwei Monaten sorgte eine Meldung für Entrüstung in der Stadt, dass der französische Bahntechnikkonzern Alstom in seiner Görlitzer Tochter 400 Mitarbeiter entlassen will. Nun lenkt seit Januar Jens Koep als neuer Standortleiter die Geschicke des Schienenfahrzeugbauers an der Neiße. Der Schweißingenieur kam aus Bremen nach Görlitz. Die Stadt kannte er vom Hörensagen - vom Waggonbau kennt er die legendären Produkte wie den "Fliegenden Hamburger", die Doppelstockwaggons und den Schnellzug SVT.
Bombardier ist auf Verschleiß gefahren
Die Aussichten sind aber nicht rosig, sondern eher düster. Den derzeit 830 Beschäftigten drohen weiterhin stürmische Zeiten, auch wenn derzeit die Auftragsbücher ausreichend gefüllt sind. Jens Koep beklagt als neuer Standortleiter:
Der Vorgänger von Alstom - der kanadische Bombardier-Konzern - habe das Werk seit 1998 auf Verschleiß gefahren. Damals - vor 24 Jahren - zählten die Fertigungsanlagen in Görlitz zu den modernsten in Europa. Als einer der wenigen Hersteller weltweit waren die Görlitzer in der Lage, komplette Wagenkästen aus Aluminium zu fertigen, beispielsweise für den Intercity-Express. Im ersten Jahr nach der Übernahme investierte Alstom bereits sechs Millionen Euro in neue Schweißtechnik.
Um die Sicherheit im Werk zu gewährleisten, wird jetzt das gesamte Feuerlöschsystem erneuert. Doch das sind nicht die einzigen Probleme, mit denen Görlitz zu kämpfen hat, berichten Mitarbeiter des Werks. Relativ hohe Produktionskosten belasteten den Standort und haben in der Vergangenheit zu einer Verlagerung der Produktion ins polnische Breslau geführt. Paradox dabei: Die Görlitzer mussten zuvor ihre polnischen Kollegen technologisch und fachlich aufrüsten. Damit steht die neueste Technik in Polen. Trotzdem habe es in Breslau Qualitätsprobleme gegeben, die dann in Görlitz behoben werden mussten. "Das spricht für die Görlitzer Kollegen", sagt Burkhard Reuter als Leiter für das operative Geschäft Schienenfahrzeugbau: "Alstom will den Standort in Görlitz erhalten!"
Kein klares Konzept für den Standort
Der französische Bahntechnikkonzern Alstom arbeitet nach Aussage seiner beiden Manager an einem "Zukunftskonzept" für seine Görlitzer Tochter. Details werden nicht genannt oder sollen noch nicht genannt oder bekanntgegeben werden.
Die Zukunft des Standortes hängt ganz konkret an der Ausrichtung, die wir jetzt machen. Wir sind deshalb mit vielen im Gespräch, auch mit den Vertretern der Arbeitnehmer. Aber man darf nicht vergessen, dass lange Zeit kein neuer Auftrag gewonnen werden konnte, unter Bombardier. Diese Schmerzen spüren wir gerade kräftig.
Auch deshalb hängt die Zukunft der Görlitzer Schienenfahrzeugbauer weiterhin am seidenen Faden. Derzeit haben aber die 830 Beschäftigen aufgrund von alten Aufträgen alle Hände voll zu tun. Sie bauen Doppelstockwagen für die Schweizer Bundesbahn, die Deutsche Bahn und auch für eine Verkehrsgesellschaft in Niedersachsen. Zudem werden Rohbauten für die Straßenbahnen in Dresden und Göteborg gefertigt.
Doch im internationalen Wettbewerb könnten die Oberlausitzer Schienenfahrzeugbauer kaum noch mithalten, meint der Görlitzer Betriebsratschef René Straube: "In der Tat waren die letzten Jahre bei Bombardier davon gekennzeichnet, dass sehr zögerlich und sehr nachlässig entwickelt wurde und dann fehlten natürlich die Investitionen in den Standort."
Zudem habe Bombardier 2016 das Engineering in Hennigsdorf und damit auch die Entwicklung zusammenfassen wollen. Viele Ingenieure verließen daraufhin den Betrieb, wechselten oft sogar das Unternehmen - und stärkten auf diese Art Mitbewerber.
"Ein schwerer Schlag bis heute", bilanziert der Betriebsratschef. Vom "Zukunftskonzept" für Görlitz hat René Straube auch noch keine Details in Erfahrung bringen können. Aber als Mitglied des Gesamtbetriebsrats der deutschen Standorte hat der Görlitzer klare Vorstellungen.
Wertschöpfung muss an einem Standort bleiben
Um einen Standort langfristig zu sichern, müsse die gesamte Kette der Wertschöpfung am Standort bleiben und dürfe nicht über ganz Europa verteilt werden. Die Görlitzer Schienenfahrzeugbauer hätten in diesem Zusammenhang leidvolle Erfahrungen bei der Produktion von Triebköpfen für die Hochgeschwindigkeitszüge ICE-X gemacht, so Straube. Statt - wie ursprünglich vorgesehen in Görlitz - wurden die Rohbauten im polnischen Breslau produziert.
"Eine Rückbesinnung auf die Fähigkeiten der Görlitzer würde den Standort ebenfalls langfristig sichern", meint der Chef des Betriebsrates.
Der Betriebsrats-Chef fordert im Klartext: Wird ein Zug oder ein Waggon für Deutschland gebaut, dann muss er auch in Deutschland gefertigt werden. Doch da grätschten die Alstom-Manager dazwischen. "Bei einem international aufgestellten Konzern, wird auch die Arbeit international aufgeteilt!" Derzeit werde in Salzgitter um eine derartige Arbeitsteilung gerade heftig geschritten.
Der französische Bahntechnikkonzern Alstom hat mit dem norwegischen Staatsunternehmen Norske Tog einen Vertrag über bis zu 200 Regionalzüge abgeschlossen. Gebaut werden sollen sie am Standort Salzgitter. Doch der Konzern will an dem 1,8 Milliarden-Euro-Auftrag nun auch das Werk in Breslau beteiligen. 18 bis 20 Prozent der Wertschöpfung sollen mithilfe der preiswerteren Fahrzeugbauer in Polen erfolgen. Salzgitter befürchte deshalb ebenfalls den Verlust von Arbeitsplätzen.
Auch deshalb beobachten die Görlitzer derzeit sehr aufmerksam das Geschehen in Salzgitter und das Tauziehen um Züge für den Großraum Oslo.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Als Waggonbauer gibt René Straube trotzdem die Hoffnung nicht auf, dass Görlitz weiter Schienenfahrzeuge bauen wird.
Die Strategie in Frankreich scheint zu sein, überschaubare Werksgrößen zu haben, um dort die gesamte Wertschöpfung realisieren zu können.
In den vergangenen Jahren wechselten bei bisherigen Waggonbau-Besitzern die Standortleiter gefühlt im Monatstakt. Nun ist Jens Koep aus Bremen gekommen und will für Alstom an der Neiße bleiben. Als Segler kenne er stürmische Zeiten und ihn würden nur langfristige Aufgaben reizen", sagt der Familienvater. "Ich bin nicht nach Görlitz gekommen, um nach 170 Jahren den Waggonbau zu schließen."
Es fehlten aber Folgeaufträge. Darum bemühten sich jetzt Manager innerhalb des Konzerns - auch in der Hoffnung auf Unterstützung von landes- und bundespolitischer Seite. Ob der Görlitzer Waggonbau auf dem Weg aufs Abstellgleis ist oder auf freier Strecke wieder an Fahrt gewinnt, ist also weiterhin offen.
MDR (uwa)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Sachsenreport | 18. Februar 2022 | 13:05 Uhr
Ralf Richter vor 50 Wochen
Was das Potential bzgl. Verkehrswende ist, widerspreche ich Ihnen nicht, allerdings schränke ich hier ein auf den Güterverkehr nicht beim Individual-(Personen-)verkehr.
Das ändert aber nichts daran, daß für den Standort Görlitz der Zug abgefahren ist. Profitieren werden aber billigere, EU-subventionierte Standorte in Osteuropa.
AlexLeipzig vor 50 Wochen
Auch wenn es sicher schwierig ist, aber eine pessimistische Sicht hilft auch nicht weiter ("selbsterfüllende Prophezeiung"). Die Chance liegt doch gerade in der EU und dem großen Markt für Schienenfahrzeuge, den Deutschland allein nie bieten könnte. Und die Verkehrswende weg vom Auto hin zur Bahn bietet auch Potenzial!
Ralf Richter vor 50 Wochen
"Die Hoffnung stirbt zuletzt."
Ja, diese Zwischenüberschrift ist richtig. Sie sagt aber auch, daß es kaum noch Hoffnung gibt.
Wie geschriebe, wurde der Standort Görlitz von Bombadier "auf Verschleiß" gefahren (besser: heruntergewirtschaftet). Alstorm müßte also gewaltige Investitionen tätigen und Görlitz wieder auf Stand zu bringen.
Warum sollten Sie das? In Breslau und Böhm. Leipa hat man moderne und billigere! Standorte als Zulieferer für die kostenintensiven (also lohnintensiven) Teilproduktionsbereiche. Perspektivisch werden wir einen Weiterverkauf an den nächsten "Investor" erleben.
Nein, Görlitz wird sich wohl oder übel auf den Abgesang seiner 173jährigen Waggonbaugeschichte vorbereiten müssen. Daran werden auch alle lauwarmen Beteuerungen zum Erhalt aus dem SPD-Wirtschaftsministerum und der IG Metall nichts ändern können. Das ist Marktwirtschaft gepaart mit EU-Investitionspolitik.