Interview 100 Tage in russischer Gefangenschaft: "Wir dachten, sie halten sich an die Genfer Konvention"

27. Oktober 2022, 19:36 Uhr

Kostiantyn Velychko lebt seit seiner Flucht aus dem russisch besetzten Mariupol in Chemnitz. Mehr als 100 Tage war der IT-Spezialist in Kriegsgefangenschaft, weil er Zivilisten bei der Flucht geholfen hat. Er hat mit MDR SACHSEN darüber gesprochen.

Dafür, dass er anderen Ukrainern ganz offiziell beim Verlassen der russisch besetzten Gebiete geholfen hat, wurde Kostiantyn Velychko für mehr als 100 Tage eingesperrt. Durch medialen Druck kam er frei und lebt seitdem in Chemnitz. Die Technische Universität Chemnitz hat ihn zu einem Zeitzeugen-Gespräch zum Krieg in der Ukraine eingeladen. MDR SACHSEN hat mit Kostiantyn Velychko im Vorfeld der Veranstaltung gesprochen.

Wie fühlen sie sich angesichts des schon lange andauernden Krieges?

Ich habe ein Gefühl der Unsicherheit. Viele Leute sterben, auch gute Freunde, leiden und sterben. Und zweitens muss ich sagen, dass ich hier in Deutschland einiges gelernt habe darüber, wie die deutsche Öffentlichkeit tickt. Dass zum Beispiel nicht alle Leute hier hinter der Ukraine stehen. Viele meinen, dass Russland gar kein Aggressor gewesen ist und man die Ukraine vielleicht nicht so unterstützen muss. Das macht mir große Sorgen.

Macht es sie traurig, dass sich ihre Hoffnung auf Frieden nicht erfüllt hat?

Ja. Ich und auch andere Leute um mich herum sind enttäuscht. Wir haben viele Verbindungen nach Russland, wir sind Nachbarn. Und so haben wir gedacht, so ein Konflikt hat keinen Sinn. Wir konnten nicht glauben, dass Putin imperiale Ambitionen hat. Niemand, den ich kenne, profitiert von diesem Krieg, auch in Russland nicht.

Einige Deutsche tun so, als würden sie Putin verstehen und sagen, dass vielleicht Putin Recht hat und Selenskyi nicht. Vielleicht liegt ja die Wahrheit irgendwo dazwischen.

Wir wollten nicht, dass man uns von irgendwas was befreit. [Anm. d. Red.: Velychko bezieht sich auf Äußerungen Putins, die Menschen in der Ukraine von westlichem Einfluss und einer "faschistischen" Regierung befreien zu wollen]

Wir hatten Familien, wir hatten unsere Leben, unsere Jobs. Viele haben diese Familie nicht mehr, sie sind zerstört durch den Krieg. Viele tolle Jobs sind zerstört. Das nennt sich nicht Befreiung, sondern Vernichtung. Ich glaube im Allgemeinen, dass Konflikte, die entstehen, am besten politisch geregelt werden.

Wie haben sie den Kriegsausbruch erlebt und was haben sie getan?

Am 24. Februar Februar [Anm. d. Red.: erster Tag des Angriffs Russland auf Ukraine] sagten mir Freunde aus der Armee, dass dies ein richtiger Krieg sei. Ich müsse die Familie und mich selbst in Sicherheit bringen. Da habe ich meine ehemalige Frau, meine Tochter, meine Mutter, meine Freundin und einen Freund von Mariupol nach Saporoschje gebracht. Ich bin dann zurückgefahren und habe andere Menschen aus der Stadt geholt.

Sie sind in russische Gefangenschaft geraten. Hatten Sie damit gerechnet, dass sie für ihre Fluchthilfe irgendwann selbst dann ins Gefängnis müssen?

Uns war klar, dass die Fluchthilfe sehr riskant ist. Wir sind mehrmals beschossen worden. Bis zu unserer Gefangennahme haben wir geglaubt, dass sich auch Russland an die Genfer Konvention hält. Das war unser Fehler. Man hat uns als Terroristen gefangen genommen, obwohl wir alle nötigen Papiere hatten, die uns als Zivilisten auszeichneten.

Wie wurden Sie dann im Gefängnis behandelt?

Die Behandlung war sehr schlecht. Die Russen haben gedacht, wir sind Spione. Es gab kein Essen und wenig zu trinken, auf die Toilette durftest du lange Zeit nicht. Es waren so viele Leute in den Zellen, dass wir nicht alle gleichzeitig auf dem Fußboden liegen konnten, um auszuruhen. Wir haben unsauberes Wasser getrunken und alle wurden krank.

Andere Gefangene wurden gefoltert. Ich habe das selber gesehen mit meinen eigenen Augen. Sie wurden mit Stöcken, Schaufeln und Kabeln geschlagen. Wir haben auch gesehen, wie junge Leute zu Tode geschlagen wurden. Das waren Kriegsgefangene, die für die Ukraine gekämpft hatten.

Stahlwerk Azovstal in Mariupol
Im Stahlwerk Azovstal in Mariupol hatten sich wochenlang ukrainische Zivilisten und Soldaten verschanzt. Nach ihrer Kapitulation gerieten sie in russische Kriegsgefangenschaft. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Wie sind sie freigekommen?

Es gab eine Pressekampagne, sodass die Welt von dem berüchtigten Gefängnis Oleniwka erfahren hat. Daraufhin wurden wir mit einem Schreiben der Staatsanwaltschaft entlassen, dass wir Zivilisten sind und keiner extremistischen terroristischen Organisation angehören.

Wie kamen sie nach Deutschland?

Man hat uns geraten, über Russland und die baltischen Staaten und nach Polen und dann nach Deutschland zu gehen, weil man die Frontlinie zur Ukraine nicht ungefährlich passieren konnte.

Was wollen sie jetzt in Deutschland tun?

Ich möchte von Deutschland aus meinem Land und meinem Volk weiter helfen, sich gegen die russische Aggression zu wehren. Und zweitens möchte ich die deutsche Öffentlichkeit über die Probleme unseres Landes informieren.

Ich möchte sie über die russische Propaganda aufklären. Ich möchte mit den hier lebenden Aktivisten der Ukraine ehrenamtlich helfen. Mit Hilfslieferungen, mit Demonstrationen, Ausstellungen und Diskussionsrunden, um die Wahrheit über die russische Gefahr zu erzählen.

Das Gespräch führte Mario Unger-Reißmann.

MDR (tfr/mur)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | SACHSENSPIEGEL | 26. Oktober 2022 | 19:00 Uhr

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