03.10.2019 | 18:20 Uhr Vor 30 Jahren: DDR-Bürger springen in Reichenbach auf den Zug in die Freiheit auf

03. Oktober 2019, 18:20 Uhr

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Diesen Satz von Hans-Dietrich Genscher kennt wohl jeder Deutsche. 30 Jahre danach erinnert Reichenbach an die Flüchtlingszüge aus Prag von 1989. Denn in Reichenbach war der letzte Halt für die Züge vor dem Erreichen des Grenzbahnhofes Gutenfürst an der innerdeutschen Grenze.

Jörg Reinhard und Jens Rohde gelang 1989 das Unmögliche. Die damals 19-Jährigen konnten - gemeinsam mit einem dritten Mann - in Reichenbach auf einen Zug aufspringen, der die Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik brachte. Sie nutzten in der Nacht zum 1. Oktober 1989 die Zwangspause beim Wechseln der Lokomotiven. Als Stellwerker wusste Reinhard, wo man sich auf dem Bahnhofsgelände verstecken kann, um unbemerkt in den Zug zu gelangen. Denn das Gelände um den Reichenbacher Bahnhof war durch die Stasi weiträumig abgesperrt worden. "Wir haben uns halb drei in der Nacht auf einem Kohlenzug versteckt, von dem ich dachte, dass er in dieser Nacht nicht weiterfährt. Er wurde zwar rangiert, die Wagen blieben aber auf dem Bahnhofsgelände." Kurz darauf sei ein voll besetzter Schnellzug eingefahren.

Da ich wusste, dass in Reichenbach keine Schnellzüge fahren, konnte es nur der Flüchtlingszug sein. Wir sind dann über die Gleise zum Zug gerannt.

Jörg Reinhard

Als erster war dann Jens Rode am Zug. Wieder folgte eine Schrecksekunde: Die Tür ließ sich nicht öffnen. "Auf der Klappe an der Innenseite der Tür stand eine Frau mit Kinderwagen. Ich habe so lange an der Tür gezerrt, bis der Wagen angehoben wurde und wir in den Zug klettern konnten. Wir haben dann erst einmal gefragt, ob wir im richtigen Zug in den Westen sind." Den Stasi-Beamten, die im Zug den Flüchtlingen die Ausweise abnahm, erzählten sie, dass sie das bereits getan hätten und blieben unentdeckt.

In Reichenbach wurden die Flüchtlinge "ausgebürgert" Reichenbach spielte eine besondere Rolle bei der Fahrt der Flüchtlingszüge von Prag durch die DDR. Einerseits stellte das Bahnbetriebswerk Reichenbach die Lokomotiven für die Züge. Andererseits erfolgte bei einem Halt auf diesem Bahnhof die endgültige Ausbürgerung der Flüchtlinge. Stasibeamte sammelten dazu die Personalausweise der Menschen ein.

Reichenbacher erinnern an die denkwürdige Ereignisse 1989

Mit mehreren Veranstaltungen erinnerten die Einwohner von Reichenbach am Tag der Deutschen Einheit an die Flüchtlingszüge, mit denen vor 30 Jahren die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft über das Territorium der DDR ausreisen durften. Ein Gedenkgottesdienst am Morgen, eine Ausstellung mit Zeitdokumenten und Gespräche mit betroffenen Reichenbachern im ehemaligen Bahnhofsgebäude standen im Mittelpunkt des Gedenkens.

Reichenbachs Oberbürgermeister Raphael Kürzinger erinnerte daran, wie wichtig politische Bildung heute ist. "Wir brauchen sie nicht nur in Schulen, um das den Schülern näher zu bringen. Auch für die Generation, die die Erlebnisgeneration dieser Wendezeit ist, sind solche Angebote wichtig. Viele haben sich eingerichtet oder in die 'Schmollecke' zurückgezogen." Demokratie lebe aber vom Mitmachen. Nur so könne man die Freiheiten genießen, für die die Menschen vor 30 Jahren auf die Straße gegangen seien.

"Demokratie ist das Wichtigste"

Die ersten Minuten in Freiheit - Jens Rohde wird sie nie vergessen.

Das war wie bei der WM wenn Deutschland Weltmeister wird. So ein Jubel. Das war Wahnsinn. Da hat der Zug gewackelt. Und das hat sich bis nach Hof nicht gelegt.

Jens Rohde

Heute blicken Jens Rohde und Jörg Reinhard auch nachdenklich auf die Zeit zurück, in der sie als 19-Jährige viel riskiert haben für ihre Flucht. Allerdings hätten sie damals auch keine Verantwortung für andere gehabt, wie die vielen Väter und Mütter im Zug für ihre Kinder. Im Rückblick sind beide zufrieden mit der Entwicklung seit 1990. "Demokratie ist das Wichtigste. Im Gegensatz zur Diktatur früher kannst du heute eben selbst entscheiden, wie dein Weg geht."

Quelle: MDR/tfr/sb

Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSENSPIEGEL | 03.10.2019 | 19:00 Uhr

4 Kommentare

Mediator am 04.10.2019

Wahnsinn: Erst die eigenen Bürger erschießen wenn sie das Land heimlich verlassen wollen und dann bürgert man auch noch diejenigen aus, die es geschafft haben durch ihre schiere Masse die Aufmerksamkeit der Welt zu erlangen.

Eine große Zeit damals und entgegen vielen anderen Meinungen die sich darüber beschweren, dass man vieles hätte besser machen können bei der Wiedervereinigung, war das Zeitfenster dadurch wirklich begrenzt. Kohl hat die historische Chance genutzt und es geschafft alle zu überzeugen, deren Einverständnis dazu notwendig war.

Damals Radio zu hören war ein Erlebnis, weil es jeden Tag etwas neues gab, das einen unmittelbar betroffen hat.

kennemich am 04.10.2019

Die wollten nicht freigekauft werden.

Klaus am 04.10.2019

Das ist richtig, das Zeitfenster war nicht besonders groß, aber Helmut Kohl hat es genutzt.

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