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Ein Uhrmacher bei der Arbeit: Inzwischen zählt das Unternehmen Mühle Glashütte über 60 Beschäftigte. Bildrechte: imago/momentphoto/Killig

Mühle GlashütteSenior-Chef über Enteignungen, die Treuhand und den Familienbetrieb

17. Juli 2022, 12:29 Uhr

Vor 50 Jahren, im Jahr 1972, wurden die letzten privaten und halbstaatlichen Unternehmen der DDR über Nacht in volkseigene Betriebe umgewandelt. Auch der Uhrenhersteller Mühle Glashütte war davon betroffen. Der Senior-Chef Hans-Jürgen Mühle sprach mit uns im Interview über Enteignungen, die Treuhand und Entschädigungen.

MDR SACHSEN: 1970 haben Sie den Familienbetrieb von Ihrem Vater übernommen und waren damit quasi Zeitzeuge bei der Enteignung zwei Jahre später. Wie erinnern Sie sich an dieses Jahr?

Hans-Jürgen Mühle: Mein Vater war 1970 gestorben. Ich hatte in Jena studiert und musste dann innerhalb von vierzehn Tagen einen Betrieb übernehmen mit fünfzig Leuten. So viel von der Ökonomie habe ich nicht verstanden und musste mich in den gesamten Ablauf einarbeiten. 1971 wollten wir investieren, wir brauchten neue Stanzen für unsere Produktion. Und da hieß es dann: Investitionen gibt es nur ab einer bestimmten Summe. Und das waren 50.000. Mark in der DDR und die bekam man nur noch, wenn man eine staatliche Beteiligung mit 60 Prozent hatte.

Am 17. April früh um sieben war ich Direktor der sozialistischen Arbeit – am gleichen Arbeitsplatz mit den gleichen Leuten.

Hans-Jürgen Mühle | Senior-Chef Mühle Glashütte

Dort fing eigentlich schon, wenn man im Nachhinein darüber nachdenkt, die stille Enteignung an. Da hat man sich als junger Mensch - ich war ja noch nicht mal 30 zu dem Zeitpunkt - so seine Gedanken gemacht, aber gesagt: Irgendwie geht es schon. Dann kam der 16. April 1972 und die Kommission, die den Bestand des Betriebes aufnahm und wir wurden verstaatlicht. Am 16. April 1972 war ich nach Sprachgebrauch der DDR Kapitalist, mit fünfzig Beschäftigten, und am 17. April früh um sieben, war ich Direktor der sozialistischen Arbeit – am gleichen Arbeitsplatz mit den gleichen Leuten.

Seit 1869 hat sich die Familie Mühle in Glashütte der Uhrenherstellung verschrieben. Bildrechte: imago images/Olaf Döring

Die Kommission kam und sagte: Hier, unterschreiben?

Ja. Und dann sagten sie: Wenn ich jetzt unterschreibe, kann ich mich bewerben, den Betrieb weiterzuführen - wenn 100 Prozent der Mitarbeiter der Firma dafür sind. Sonst wär's das gewesen. Wir müssen auch ehrlich sagen: Die haben ja viele Betriebe während der Zeit verstaatlicht und hätten gar nicht so viele Geschäftsführer gehabt. Die Produktion war abhängig von Zulieferungen aus diesen kleinen mittelständischen Betrieben. Wir haben immer gesagt: Wir waren die Möglichmacher der Nation.

Haben Sie die Enteignungen kommen sehen? War Ihnen klar, dass Sie nichts dagegen tun können?

Wenn ich das rückblickend betrachte, war das vorauszusehen, dass das so kommt. Damals habe ich mit meiner Frau gesagt: Okay, dann bewerbe ich mich, den eigenen Betrieb weiterzuführen. Und so ist es auch gekommen. Man hat den weitergeführt, als wenn er noch Privatbetrieb gewesen wäre, nur dass ich im Prinzip keinen "unverschämten Gewinn" mehr bekam. Das war auch so ein Witz, dieser Ausdruck.

Haben Sie daran geglaubt, dass sich die Zeiten auch wieder ändern können?

Nein, bis 1980 habe ich das nicht geglaubt. Aber dann ging ja die DDR-Wirtschaft immer mehr in die Knie. Sie kriegten dies nicht, kriegten das nicht. Dann kam der Aufruf, jeder muss Bevölkerungsprodukte bauen, weil es vorne und hinten nicht langte. Die Wirtschaft war schon im Schleudern. Wenn eine große Werft plötzlich Kühlschränke bauen muss, dann kann das nicht ökonomisch und auch nicht richtig sein. Es ging mit Riesenschritten auf das Ende zu.

Wie ging es für die Uhrenproduktion Mühle Glashütte nach der Wende weiter?

Unser Betrieb wurde vorher an den Glas- und Uhrenbetrieb angegliedert. Da hatte ich die Chance, mir einen Job rauszusuchen und in den Vertrieb zu gehen. Und das war ein ausgesprochener Exportbetrieb und es bestand die Chance, zu DDR-Zeiten dienstmäßig ins nicht-sozialistische Ausland zu reisen. Das ist mir auch gelungen, da bin ich Hamburg und Kiel gewesen, wir waren in England und Dänemark.

Ich war zur Wende dann einer von fünf Geschäftsführern des Glas- und Uhrenbetriebs und wir standen vor der Treuhand in Berlin mit der Aufgabe, den Betrieb zu reduzieren von zweieinhalbtausend Mitarbeitern auf 1.200, um den Betrieb verkaufsfähig zu machen. Das ist natürlich in einem Ort wie Glashütte mit zweitausend Einwohnern zu der Zeit eine undankbare Sache. Wenn Sie jemanden entlassen, gingen die Leute teilweise zur anderen Straßenseite rüber. Wenn man den Vater oder die Mutter, den Onkel oder Sohn entlassen musste, die hatten kaum Chancen.

Haben Sie daran geglaubt, Ihre Firma zurückzubekommen?

1990 hatte man die Chance, den Betrieb zurückzubekommen. Da gab es zwei Optionen: entweder Rückübertragung oder Entschädigung. Und ich bin falsch beraten worden. Weil wir in einem angemieteten Gebäude waren und die Maschinen in alle Himmelsrichtungen verstreut waren, das Gebäude stand leer. Was hätte ich da rückübertragen sollen? Und ich hatte ja auch die Produktion in der Bundesrepublik angeguckt und gedacht: Damit brauchst du nicht wieder anfangen. Der technische Vorlauf, den die dort haben, den kannst du, wenn du neu beginnst und gründest, nicht wuppen.

Doch Ihre Uhrenproduktion ging weiter und läuft auch heute noch. Sie sagen, Sie haben Glück gehabt. Warum?

Als wir den Betrieb in eine GmbH umgewandelt haben und der Treuhand unterstanden, war der Betrieb für die Abwicklung vorgesehen. Wir hatten einen Betreuer aus Berlin, der hatte er uns 10 Millionen D-Mark für Investitionen zugeschanzt. Da habe ich mir erlaubt, ihn abends beim Bier zu fragen: Wenn wir abgewickelt werden, wieso kriegen wir 10 Millionen dafür? Da hat er gesagt: Den Glashütter Uhrenbetrieb machen wir nicht zu. Ich finde jemanden, der den kauft. Das war seine Aussage.

Nun ist der Betrieb in sechster Generation. Worin sehen sie größte Aufgabe für Ihren Sohn, der den Betrieb aktuell leitet?

Zu meiner Zeit, wo ich angefangen habe, wenn man keine großen Fehler gemacht hat, konnte man vier bis fünf Jahre vorausplanen, wie sich das entwickeln wird. Das ist heute viel schwieriger geworden. Momentan läuft es sehr gut, aber ich kann nicht sagen, wie es in zwei, drei Jahren läuft. Unser Vorteil ist, dass wir wirklich ein lebender und existierender Familienbetrieb sind und eigentlich der einzige in Glashütte, der auch aus Glashütte stammt.

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MDR (lst)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 12. Juli 2022 | 20:00 Uhr

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