Ein Vater schaut in eine leere Geldbörse, während im Hintergrung ein Kind spielt.
Als arm wird bezeichnet, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen gesellschaftlichen Einkommens zur Verfügung hat. Zwei meiner Freunde gehören definitiv dazu. Bildrechte: imago images/photothe

Das Leben wird teurer Die Armut meiner Freunde

05. Juli 2022, 21:38 Uhr

Laut Definition sind zwei meiner Freunde arm. Wie anders sie den Alltag erleben, welche Hürden für sie riesig sind, welche Grenzen knallhart, und welche besondere innere Freiheit sie erleben - davon handelt dieser persönliche Text.

Lutz* legt mir nach dem Mittagessen in der Kantine den gelben Brief auf den Tisch. Mit weiten Augen und den Händen im Schoß blickt er mich fragend und hoffnungsvoll an und schiebt den Umschlag zugleich noch ein bisschen zu mir herüber. "Ich habe überlegt, ob ich ihn vor dem Mittagessen öffne - oder jetzt mit Dir", erklärt er. "Ich habe mich für jetzt entschieden." Eigentlich ist mein Kopf voll, ich muss schnell wieder zur Arbeit. Es geht um den Waldbrand in Treuenbrietzen, dessen Rauch bis Dresden zog. Ein Forstwissenschaftler hatte erklärt, die Brände in der Lausitz würden oft wegen alter Munition ausufern. Mögliche Explosionen machen es für die Feuerwehr unmöglich, nah vorzudringen. Das Interview musste dringend fertig werden.

Was ist Armut?

Als arm wird bezeichnet, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen gesellschaftlichen Einkommens zur Verfügung hat. Dieses "Armutsrisiko" betraf 2021 etwa ein Sechstel der Bevölkerung. Rund ein Fünftel der Bevölkerung gilt als von "Armut oder sozialer Ausgrenzung" betroffen.

In absoluten Zahlen bedeutet das Folgendes: Der vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ermittelte Wert, den die amtliche Statistik als Armutsgefährdungsschwelle bezeichnet, lag 2021 für Singles bei 1.148 Euro, für Alleinerziehende mit einem kleinen Kind bei 1.492 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 2.410 Euro.

Lutz (52): Gelber Brief für Germanist, Meisterschüler und Maler

Jetzt aber der gelbe Brief: Ich weiß nicht genau, was die gelbe Farbe bedeutet, doch es mutet wichtig an. Ich reiße das Ding auf, darin wohlgemerkt ein ganzer Papierberg, Zahlen und Buchstaben verschwimmen, na los, wo ist sie, die fettgedruckte Summe? Fließtext, Fließtext, ist es vielleicht doch keine Rechnung mit einer Geldforderung? Zu früh gefreut. Galante 2.875 Euro möchte die Arbeitsagentur zurückhaben. Es ist der 20. Juni, gerade habe ich Lutz das Essen bezahlt. Bis zur nächsten ALG-II-Zahlung, im Volksmund auch als Hartz IV bekannt, sind es noch zehn Tage.

Malereien gingen nach Berlin

Lutz (52) ist studierter Germanist, Maler und war Meisterschüler an der Dresdner Kunsthochschule. Er kommt aus Niedersachsen, lebt als Selbstständiger und Hartz IV-Aufstocker und wird gerade zum Opfer seines eigenes Erfolges. Anders als bei vielen anderen mauserte sich bei ihm die Corona-Pandemie als dezente Erfolgsrampe. Vielleicht, weil viele Kunstinteressierte Zeit hatten, zu Hause waren, nach Malerei stöberten. Wer weiß. Ein Interessent aus Berlin meldete sich jedenfalls, war völlig aus dem Häuschen und kaufte für seine großen Räume in seiner großen Berliner Wohnung gleich zwei riesengroße Malereien.

50 Prozent Galerieabgabe

Die Einnahmen abzüglich 50 Prozent Galerieabgabe beliefen sich auf etwa 6.500 Euro. Lutz meldete wie immer den Umsatz abzüglich seiner Betriebskosten beim Amt. Doch die Mühlen mahlen langsam, die Bürokratie ist groß. Erst zehn Monate später stellt das Amt jetzt fest, dass - hochgerechnet auf sechs Monate - für vier Monate kein Anspruch auf ALG II mehr bestand. Das macht insgesamt eine Rückforderung von 2.875 Euro. Ratenzahlung nicht möglich. Das Schreiben klingt Respekt einflößend. Lutz ist in sich zusammengesunken, als habe man die Luft aus ihm herausgelassen. "Wir rufen dort jetzt gleich mal an", sage ich und wir verlassen die Kantine.

Trost an der Hotline

Die Frau am Arge-Telefon ist sehr nett. Ich stelle mich der Einfachheit als "die Freundin" vor. Nach erfragter Verifikation und Vollmacht (Lutz: "Ja, das ist ok.") ruft sie die Daten auf und erklärt - erstens - Ratenzahlung sei möglich, diese müsse jedoch einzeln mit dem Inkasso-Institut der Arge vereinbart werden. Sie erklärt - zweitens - wie der Betrag zustande kam, das weitere Betriebskosten berücksichtigt werden könnten, es dafür einen Widerspruch brauche, der innerhalb von vier Wochen eingelegt werden könne.

Verständnis am Telefon

Die Dame erläutert verständnisvoll mit sonorer Stimme und mütterlicher Fürsorge. So weit so gut. Doch wie soll es denn Lutz in der Zukunft handhaben, wenn er wieder Bilder verkauft? Sich für drei Monate vom Amt abmelden und alles persönlich zurücklegen? "Für kurze Zeit abmelden ist keine Option, allein wegen der Krankenkasse", meint die Dame und beginnt zu überlegen. "Ich rufe Sie gleich zurück, ich kann die Hotline nicht zu lange besetzen."

Ich darf Sie ja nicht beraten.

Kundenbetreuerin Hotline Arbeitsagentur

Die Arge darf nicht beraten

Nur wenige Sekunden später klingelt das Telefon. "Ich darf sie ja nicht beraten", fährt sie fort. "Doch ich habe selbst viele Freunde, die selbstständig und künstlerisch arbeiten. Sie bieten ihren Kunden immer eine Bezahlung in Raten, so können sie ihre Einnahmen besser verteilen." Als wir auflegen, scheint Lutz nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Brocken vom Herz gerollt zu sein.

Malträtiertes Selbstbewusstsein

"Ich dachte, ich bin allein auf dieser Welt. Ich dachte, nur ich bin unfähig", sagt er. Da ist sie, die Selbstzweifel-Keule, die viele sofort erwischt, wenn sie mit ihren Einnahmen (das reicht vom Kindergeld bis zur Rente) abhängig sind und irgendetwas mal nicht glatt läuft. Sie leiden, hinterfragen, zerfleischen sich. Selbstbewusstsein sieht anders aus. Was dabei oft untergeht: Auch viele andere Menschen können mit Bürokratie nur schwer oder auch gar nicht umgehen, vergessen mal ein Häkchen zu machen, schleppen ihre Steuererklärung vor sich her oder müssen mal Strafe zahlen. Der Unterschied: Sie verdienen mehr, haben Vermögen und Status. Wer nach unten abgefedert ist, setzt nicht so schnell auf. Anderenfalls kann jede Bodenwelle zum Achsbruch führen.

Ein Mann zeigt ein leeres Portmonee
Wer keine Reserven hat, kann selbst kleinste Erschütterungen nicht abfangen. Was für Wohlhabende oft nur eine Randnotiz ist - Beispiel kaputte Waschmaschine - kann für andere zum großen Problem erwachsen. Bildrechte: Colourbox.de

Ich dachte, nur ich bin unfähig.

Lutz Germanist, Maler, Meisterschüler

Von unten an eine Glasdecke stoßen

Natürlich, ganz allein ist Lutz nicht. Andere versinken in tiefer Schockstarre, sind bewegungsunfähig und machen es damit nur noch schlimmer. Für Lutz springen abwechselnd Freunde ein, bezahlen ihm die Stromrechnung oder einen neuen Bildschirm, ermöglichen eine Fahrt zu seiner Mutter in den Norden und geben Geld, wenn es mal brennt. Gerade wartet er auf 3.000 Euro für die künstlerische Bearbeitung eines Nachlasses. Damit kann er die Forderung fast begleichen, doch spätestens in einem Jahr hat er das gleiche Problem. Es ist, als würde er immer von unten an eine Glasdecke stoßen.

Wieso hat er das Geld nicht zurückgelegt?

Natürlich kann man ihm vorwerfen: Warum hat er sich das nicht eher ausgerechnet? Warum die Summe nicht zurückgelegt? Wieso hat er Geld ausgegeben, was ihm nicht gehört hat - diese ganzen Fragen stehen im Raum.

Lutz hat seiner Mutter ein (günstiges) Tablet gekauft, sodass er mit ihr reden und sie sehen kann. Sie, die so fern im Norden, hunderte Kilometer entfernt, im Altenheim liegt. Er hat seine Schulden bezahlt und sich nach sieben Jahren eine neue Hose gekauft. Das gehört eigentlich nicht zu seinem Repertoire, Freunde versorgen ihn sonst mit ausrangierten Sachen. Ich selbst hatte einmal in der Dresdner Neustadt Lederschuhe in der Verschenke-Ecke entdeckt und ihm mitgebracht. Sie passten ausgezeichnet. Bis heute wienert er sie regelmäßig auf Hochglanz, sie sehen wir neu aus. Mensch, wir leben in solch' einem reichen Land, denke ich in solchen Momenten. Hier werden Lederschuhe einfach auf die Straße gestellt.

Der Paritätische Armutsbericht für das Jahr 2022
Der Paritätische Wohlfahrtsverband schlägt mit dem Armutsbericht 2022 Alarm: Noch nie seit der Wiedervereinigung war die Armutsquote so hoch wie jetzt - 13,8 Millionen Menschen gelten in Deutschland aktuell als arm. Bildrechte: picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Bettdecke und Kopfkissen für 300 Euro

Lutz hat auch seinem guten Freund aus Afghanistan im Winter einfach einmal ein Federbett und ein Kissen gekauft, für 300 Euro! Ich bin fast umgefallen, als ich hörte, dass er knapp ein Drittel seines Monatsbudgets für ein Geschenk ausgibt, obwohl er selbst nichts hat. Dann hat mich die Scham überwältigt. Habe ich jemals mehr als 100 Euro gespendet? Würde ich ein Drittel meines Einkommens für ein Geschenk ausgeben? Könnte ich so selbstlos sein?

Geben, ohne zu nehmen?

Ist es nicht das, wovon alle reden, wenn es um Menschlichkeit geht, um soziale Beziehungen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und um Zivilgesellschaft? Dass man gibt, ohne zu nehmen. Dass man schenkt, ohne aufzurechnen. Dass man Wärme vermittelt, anstatt Kalkül. Ist es nicht die Nächstenliebe, die aus der Bibel so oft rezitiert wird? Soll ich ihm allen Ernstes sagen, er darf keine Bettwäsche zu diesem Preis verschenken. Wer bin ich denn? Innerlich verneige ich mich ob dieser Selbstlosigkeit. Bei mir würde im Hinterkopf der Taschenrechner die Zahlen hochrattern lassen.

Würdest Du Dich als arm einschätzen?

Für diesen Text erlaube ich mir eine Frage, die ich mir sonst nicht getraut hätte, so zu stellen. Ich warte einen guten Moment ab. Erzähle ihm von meinem Vorhaben, hole mir seine Erlaubnis und frage: "Lutz, würdest Du Dich als arm einschätzen?" Lutz zögert nicht lange. "Ja, definitiv", kommt es wie aus der Pistole geschossen. "Materiell auf alle Fälle." Lutz überlegt kurz: "Ja, ich fühle mich ständig konfrontiert mit meiner finanziellen Situation und frage mich, wie die Bewertung von Arbeit zustande kommt. Letztlich geht es ja um die Frage, wer bekommt für was wie viel Geld."

Letztlich geht es ja um die Frage, wer bekommt für was wie viel Geld.

Lutz Germanist, Maler, Meisterschüler

Marcel (44): Hartz IV trotz Studium

Wer jetzt denkt, der Text endet hier, der irrt. Lutz ist nicht mein einziger Freund, der per Definition als arm gilt. Auch Marcel* lebt unter der definierten Armutsgrenze. Marcel (44) kommt aus dem Vogtland, ist studierter Musiker und Geisteswissenschaftler. Sein Vater arbeitete bis zu seiner Rente im öffentlichen Dienst, seine Mutter als Krankenschwester. Marcel ist in einem Einfamilienhaus aufgewachsen, mit Blick auf den Wald. Zum Studium ging er nach Dresden, war danach auf Hartz IV angewiesen und promovierte schließlich - mit einem Stipendium aus Sozialleistungen sozusagen. Sein Doktorvater war der Gründer eines renommierten Instituts an der Humboldt-Universität in Berlin. Marcel hat ein Buch geschrieben und seit zwei Monaten - nach mehreren Jahren unterbezahlten Gastro-Aufstockerjobs und Hartz IV - seine erste richtig Stelle, 20-Stunden Teilzeit in einer anderen Stadt.

15 Jahre alter Laptop

Abzüglich der Kosten für das Pendeln und das Zimmer, das er sich mit einem anderen Mitarbeiter teilt, hat er jetzt monatlich 300 Euro mehr als mit Hartz IV. Für Marcel ein Vermögen! Bei ihm ist es ähnlich wie bei Lutz. Freunde versorgen ihn mit ausrangierter Kleidung, seine Schuhe sind abgetragen, für die günstigste Waschmaschine mussten er und sein Bruder (sie wohnen zusammen) ein dreiviertel Jahr sparen. Marcel zahlt mit seinem niedrigen Einkommen seinen Studienkredit ab, arbeitet mit einem 15 Jahre alten Laptop, seine Möbel sind gebraucht. Er fährt ein klappriges Damenfahrrad, ist das Gegenteil von Konsum und Dauernutzer der Bibliothek.

Kochen für alle

Für Geburtstage backt Marcel Schokokuchen und das Lieblingsgericht des Geburtstagskindes. Wer Inspiration braucht, wie man Ressourcen sparen und Konsum minimieren kann, sollte zu Marcel gehen. Marcel hat nicht viel und ist - wie Lutz - überaus großzügig. Er gibt quasi sein letztes Brot, kocht mit einfachen Mitteln, was das Zeug hält, lädt seine Freunde ein, die Sonntag nach der Kirche mit Familien mindestens zu zehnt in sein Wohnzimmer zum Mittagessen einfallen und rechnet niemals irgendetwas auf. Einmal war das Geld so knapp, dass er sich mit dem letzten Mehl und Olivenöl zehn Brötchen backte, die eine Woche reichen sollten. Sein damaliger Mitbewohner freute sich ob der frischen Backwaren und verschlang gleich vier Exemplare. Marcel verlor kein Wort.

Kind hält Fünfeureoschein in der Hand.
Schaffen Sie es, für fünf Euro für vier Menschen zu kochen? Viele Menschen müssen es möglich machen - und es kann klappen. Bildrechte: imago images/photothek

Besitz ist nicht wichtig

Wie Lutz frage ich auch Marcel, ob ich Details zu seinem Leben veröffentlichen darf. Wie Lutz, stelle ich ihm meine Frage, die ich so noch nie gestellt habe. "Marcel, empfindest Du Dich als arm oder von Armut betroffen?" Marcel ist fast entrüstet: "Auf keinen Fall! Ich bin doch nicht arm. Ich kann mir etwas dazu verdienen. Alte Leute oder Alleinerziehende, die keine Möglichkeiten auf einen Zuverdienst haben, die sind wirklich arm." Marcel lässt sich langsam auf seinen Sitz fallen. Fast wirkt es, als habe ich ihn mit meiner Frage etwas beleidigt. Das tut mir natürlich schrecklich leid, ich will ihn ja nicht verletzen oder im Stolz kränken. Marcel lehnt sich an seinen Sitz und überlegt. "Das ganze Besitzzeugs, das ist mir nicht wichtig. Ich brauche keine großen Spiegel oder neue Kühlschränke (wir hatten uns vorher über die neue Einrichtung von Freunden unterhalten)." Natürlich brauche man wichtige und essentielle Dinge, doch eben nicht mehr.

Armut hat mit Ausgrenzung zu tun

Marcel überlegt weiter. "Armut ist ein subjektives Gefühl, das mit Ausgrenzung und Einsamkeit zu tun hat. Das ist mit meinen Freunden nicht so, wir passen gut zusammen. Sie alle wissen, wie es ist, Jobs zu suchen, arbeitslos zu sein und prekär zu leben." Marcels Freunde sind verbeamtete Lehrer, promovierte IT-Entwickler, Wissenschaftler, Sozialarbeiter, Soziologen, Gewandmeisterinnen. Damit übertreibt er nicht. Da ich Marcel schon lange kenne, kenne ich auch die Geschichte seiner Freunde nach dem Studium. Marcel kommt jetzt in Fahrt, er fährt fort. "Unglücklich wird man durch den Vergleich." Nur um beim Konsum mithalten zu können, nehmen Leute Kredite auf. Natürlich hat er Recht. Doch zweifelsohne lässt sich diese Position einfacher umsetzen, wenn nicht Kinder mit weinerlichem Gesicht auf das neue Lego verweisen, das der Klassenkamerad gerade bekommen hat.

Armut ist ein subjektives Gefühl, das mit Ausgrenzung und Einsamkeit zu tun hat. Das ist mit meinen Freunden nicht so, wir passen gut zusammen. Sie alle wissen, wie es ist, Jobs zu suchen, arbeitslos zu sein und prekär zu leben.

Marcel Promovierter Geisteswissenschaftler

Café servieren für 6,50 Euro

Ich selbst weiß auch, wie es ist, kein Geld zu haben. Meine Eltern stockten im Studium meine 350 Euro Bafög mit 150 Euro Kindergeld auf, mehr gab es nicht. Das war nicht wenig und ich dankbar. Natürlich arbeitete ich nebenbei. Im Hotel Westin brachte ich den Gästen früh um sieben ihren Café. Die Stunde für 6,50 Euro (ja, das war vor dem Mindestlohn). Manchmal blieb trotzdem am Ende des Geldes so viel Monat übrig. Dann zählten wir unser Kleingeld, suchten in allen Taschen nach verbliebenen Münzen, verordneten uns eine Woche Kartoffeln mit Quark oder das 1,50-Euro-Mensa-Essen. Wenn es ganz knapp wurde, spendeten wir Blut. Wir hatten wenig. Doch zweifelsohne lässt sich das besser ertragen, wenn es (fast) allen so geht, man zumindest nicht allein ist.

Drei Menschen betrachten einen Schaukelstuhl und werden dabei von einem Kameramann gefilmt. 34 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Keine Gespräche über Aktien, dafür Literatur

Lutz und Marcel sind eben immer noch "arm", beziehungsgweise leben in bescheidenen Verhältnissen. Bei ihnen geht es in Gesprächen niemals um neue Einbauküchen, Aktien, gute Anlageprodukte, das neue Auto, diverse Versicherungen, Immobilien, das neueste iPhone, den VW-Bus oder den geplanten Trip nach Ibiza. Wenn die Probleme abgearbeitet sind - und das kann schon passieren - bleibt Platz für Bücher, das Leben, für Musik und manchmal auch Gedichte. Manchmal habe ich den Eindruck, sie sind viel freier. Vielleicht rede ich mir das schön, zumindest müssen sie sich nicht um ihren Besitz sorgen.

*Armut ist in Deutschland ein Stigma. Auch deswegen wollen Lutz und Marcel ihre echten Namen nicht veröffentlicht sehen, nicht erkannt und genannt werden.

Absolute und relative Armut

Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft (DIW) bezeichnet "Armut" in der wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion einen Mangel an Geld oder lebenswichtigen Gütern, unter dem einzelne Personen oder Personengruppen leiden. Man unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut.

Absolute Armut (physische Armut) liegt demnach vor, wenn Personen nur über ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums verfügen. Das bedeutet, dass sie ihre Grundbedürfnisse - etwa nach Nahrung, Kleidung und Obdach - nicht befriedigen können. Diese Armutsschwelle liegt im Weltvergleich nach Angaben der Weltbank bei 1,90 US-Dollar (in Kaufkraftparitäten) pro Tag. Absolute Armut ist in entwickelten und hochentwickelten Ländern laut DIW faktisch überwunden.

Relative Armut besteht den Angaben zufolge dann, wenn ein Einkommen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums vorliegt. Nach der Definition des Rats der europäischen Gemeinschaft von 1984 gelten Menschen als arm, "die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist." Armut ist damit in zweifacher Hinsicht relativ: Sie ist abhängig vom Lebensstandard einer bestimmten Gesellschaft und vom Zeitpunkt, zu dem dieser Lebensstandard vorherrscht.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 05. Juli 2022 | 20:00 Uhr

28 Kommentare

Maria A. am 07.07.2022

Herr Thomas H, ich habe die Aussagen des JuergenHB besser nachvollziehen können, als Ihre. Menschen mit geringem Einkommen zahlen selbst in diesem Land gar keine Steuern. Daraus folgend weder Kirchensteuer, noch Soli. Und ja, man kann als Firmeneigentümer sehr reich werden. Investitionen verringern selbstverständlich das Steueraufkommen, doch ganz drum herum kommt der Kapitalist sicherlich nicht. Und selbst ein erfolgreicher Unternehmer kann durch irgend welche Launen des Schicksals in den Bankrott gelangen. Ich habe Hochachtung vor jedem Engagierten, egal ob angestellt, frei schaffend, oder Firmenchef.

Uwezi am 07.07.2022

Kein Unsinn, denn hier geht es ums Prinzip, nicht um Einzelfälle. Schon Brecht meinte völlig zu recht, "wär ich nicht arm wärst du noch reich". Allgemein entsteht Armut durch das, was man Ausbeutung nennt. Wenn Wertschöpfung nicht angemessen honoriert wird zugunsten des eigenen Profites.

Maria A. am 07.07.2022

Jeder Mensch trifft mal falsche Entscheidungen. Haben die nur kurzfristig Auswirkungen, dann ist dies zu verschmerzen. Doch kann eine unbedachte Berufswahl in Existenznot führen. Rückblickend gebe ich zu, dass ich auch recht unbedarft meine Bürolehre antrat. Mit der Folge, mich jahrelang finanziell von einem Monat zum anderen "zu hangeln", da Gehaltsempfänger in der DDR recht kurz gehalten wurden. Glücklicherweise kam die Wende noch rechtzeitig genug, um mich vor der Mindestrente zu bewahren. Übrigens, das Alter ist schneller ran, als man es sich mit 30 vorstellt... Angesichts der benannten Beispiele rate ich eine schnelle Abkehr vom Beharren auf eine ausbildungsgerechte Beschäftigung an. Es droht sonst ein lausiges Alter.

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