Eine Frau geht in einer Straߟe in Dresden an Häusern vorbei, von denen nach Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg nur noch Ruinen geblieben sind.
Gang durch die Ruinen: Dresden ist andere deutsche Städte auch am Kriegsende durch Flächenbombardements zerstört worden. Bildrechte: picture-alliance/ dpa | dpa

"The Bomber’s Baedeker" Bombenangriff auf Dresden: Englands geheime Liste über mögliche Ziele

12. Februar 2022, 17:00 Uhr

Um die Bombardierung Dresdens ranken sich viele Mythen. Mit der Digitalisierung stehen jetzt Originalquellen zur Verfügung, die früher nur Forschern vorbehalten waren. "The Bomber's Baedeker" listet potenzielle Ziele für eine Bombardierung Dresdens durch die Royal Air Force (RAF) auf. Das geheime Buch des britischen Außen- und Kriegsministerium gibt es nur in vier Bibliotheken der Welt. Weil es eine Forschergruppe aus Mainz digitalisiert hat, kann das Originaldokument von jedem eingesehen werden.

Der König-Albert-Binnenhafen, das Kraftwerk Mitte, das Sachsenwerk in Niedersedlitz, die Übigauer Werft – die Liste der für den Krieg relevanten Unternehmen und Infrastruktur in "The Bomber's Baedeker" ist lang. Mit nur wenigen Klicks kann sich jeder durch eine ehemals hochgeheime Quelle der britischen Regierung klicken.

"In Friedenszeiten spielten Tabak, Schokolade und Konditorei eine große Rolle in Dresdens Industrie. Gleichzeitig gibt es eine große Anzahl technischer Anlagen und Maschinenbauunternehmen, die aktuell in alle Formen der Kriegsproduktion eingebunden sind", heißt es dort. Die "Seidel und Naumann Aktiengesellschaft" in der Hamburger Straße produzierte demnach einst Nähmaschinen und wechselte im Krieg zur Waffenproduktion. Bereits 1938 hätten dort 6.000 Arbeiter an der Produktion von "Gewehren, Maschinenpistolen, Pistolen und verschiedenen kleinen Waffenkomponenten" gearbeitet.

Ähnlich verhält es sich mit der "Universelle Cigarettenmaschinen Fabrik" in der Zwickauer Straße, welche einst Maschinen für die Tabakindustrie herstellte. Auch dort würden "jetzt mit mehreren tausend Arbeitern Komponenten für Maschinenpistolen und automatische Gewehre hergestellt."

Warum heißt das Buch "The Bomber's Baedeker"?

In dem Buch findet sich kein Hinweis darauf, warum die Britische Regierung das Buch – man könnte sagen fast zynisch –  nach den berühmten deutschen Reiseführern benannte. Zwar sei der "Baedeker" schon vor dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien ein Synonym für Reiseführer gewesen. Doch die FAZ mutmaßt ein anderes Motiv: Die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf die südenglischen Städte Exeter, Bath, Norwich, York und Canterbury 1942 sind als "Baedeker-Raids" bekannt. Hitler soll diese Bombardierung der denkmalträchtigen Städte, die im Baedeker Reiseführer als bedeutend markiert waren befohlen haben, nachdem die historischen Stadtzentren von Lübeck und Rostock mit Bomben attackiert worden waren. "Wahrscheinlich bekam die Zielliste als späte Reaktion darauf ihren Namen", schätzen die FAZ-Autoren.

Systematische Übersicht über mögliche Bombenziele

"The Bomber’s Baedeker. A Guide to the Economic Importance of German Towns and Cities" heißt die systematische Übersicht über geeignete Ziele für Bombardements, die in erster Auflage 1943 und in zweiter Auflage 1944 herausgegeben worden ist. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens dürfte die Übersicht jedoch schon längst überholt gewesen sein. Zudem: Die Strategie im Luftkrieg hatte sich längst vom Präzisionsangriff zum sogenannten "moral bombing" gewandelt, welches die Moral der gegnerischen Zivilbevölkerung brechen sollte.

Auf der Karte können Sie die im "Bomber's Baedeker" beschriebenen Ziele durchklicken. Die Beschreibungen sind eine Übersetzung aus dem Original.

Keine tragende Rolle bei der Bombardierung Dresdens

"'The Bomber's Baedeker' hat bei der Bombardierung Dresdens keine tragende Rolle gespielt", erklärt Historiker Thomas Widera MDR SACHSEN. Die Ziele, die dort genannt wurden, konnten gar keine Rolle für die RAF spielen, sie verfolgte längst das Prinzip des Flächenbombardements."

Luftaufklärung aktueller

Widera hat lange zum Bombenangriff auf Dresden geforscht und saß einst in der von der Stadt Dresden berufenen Historiker-Kommission, die sich mit der Zahl der Opfer des Angriffs beschäftigte. "Durch die Luftkriegsführung wurden täglich neue Fakten geschaffen. Die alliierte Luftaufklärung war stets aktueller, als es eine gedruckte Publikation jemals hätte sein können", erklärt Widera. Nach der ersten Bombennacht seien Aufnahmen gemacht worden, die kurz darauf die Grundlage für die Angriffe der US-Amerikaner waren.

Dresden hatte strategische Bedeutung

Doch auch wenn die im "The Bomber's Baedeker" genannten präzisen Ziele beim Angriff keine oder nur eine geringe Rolle gespielt haben, sei Dresden als Ziel für die Alliierten dem Forscher zufolge dennoch strategisch wichtig gewesen. "Dresden hatte eine strategische Bedeutung", erklärt Widera.

Die Stadt war der letzte funktionierende Verkehrsknotenpunkt sowohl in Nord-Süd-Richtung als auch zwischen dem Osten und dem Westen. Über den Verkehrsknotenpunkten wurden die Fronten versorgt und die Flüchtlinge transportiert.

Thomas Widera Historiker Hannah-Arendt-Institut / Sorbisches Institut Bautzen

Zudem habe es in Dresden wichtige Produktionszweige für die Rüstungsindustrie gegeben. So sei die optische und feinmechanische Industrie in Dresden für Flugzeuge und U-Boote enorm wichtig gewesen.

"The Bomber's Baedeker" führt die für die Kriegswirtschaft relevanten Unternehmen auf. Die Zeiss-Icon-AG benennt er mit den damaligen drei Standorten am Altenberger Platz in Dresden-Striesen, in der Schandauer Straße sowie in der Mügelner Straße in Dresden-Reick. "U-Boot-Periskope und Suchscheinwerferlinsen sind Produkte dieser Fabriken", heißt es im Kriegsnachschlagewerk der britischen Regierung.

Hinweise auf Giftgasproduktion in Dresden

Besonders interessant für regionale Historiker dürften die Hinweise in der Originalquelle auf eine mögliche Giftgas-Produktion in Dresden sein. Die "Gehe & Co. AG" in der Leipziger Straße soll demnach nicht nur pharmazeutische Produkte hergestellt haben. "Es wurde berichtet, dass dort Giftgas produziert wird", heißt es in dem Dokument im Wortlaut.

Auflistung der Städte in zwei Bänden

Doch natürlich ist Dresden nicht die einzige Stadt, die mit seinen möglichen Bombardierungszielen aufgeführt worden ist. Alle damals deutschen Städte, die industriell bedeutend und kriegswichtig waren – unabhängig von ihrer Größe – sind in den zwei Buchbänden der zweiten Auflage aufgeführt. Informationen finden sich für Sachsen unter anderen für Chemnitz, Leipzig, Zwickau, Plauen und Bautzen. Doch auch kleinere Orte wie Reichenbach im Vogtland, Werdau, Coswig und Crimmitschau sind in dem Geheimdokument aufgeführt. Alle beiden Bände sind vom Leibnitz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz digitalisiert worden.

Prioritätskriterien zur schnellen Orientierung für die Piloten

Zur schnellen Orientierung für die Piloten sind die aufgeführten Ziele in Prioritätskategorien von 1 bis 3 eingeteilt. Die Kategorie 1+ für Anlagen und Betriebe "von außerordentlicher Bedeutung für die deutsche Kriegsführung" kam in der zweiten Auflage hinzu. Für Dresden finden sich fünf Einträge der Kategorie 1 ("wesentlicher Betrieb in einem wichtigen Industriezweig"), jedoch kein Unternehmen mit der "Höchstnote" 1+. Dennoch: Die Briten schätzten der Auflistung zufolge nicht nur die oben schon genannte "Zeiss Ikon AG" als wesentlich ein, sondern auch die "Schleifscheibenfabrik Dresden-Reick AG" in der Lohrmannstraße und das Kraftwerk-Mitte (Dresdner Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke (DREWAG)) am Wettiner Platz.

Geschenk der US-Amerikaner

Doch wie kam dieses geheime Buch der britischen Regierung überhaupt nach Mainz? Ende der 50er Jahre verschenkten die Besatzungsmächte viele Bücher, erläutert Ines Grund, Leiterin der Bibliothek am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz. "Mit einer der ersten Geschenksendungen des Amerikanischen Generalkonsulats in München im Jahr 1960 ist auch 'The Bomber's Baedeker' bei uns gelandet." Das zweibändige Werk der Zweiten Auflage sei sehr selten. Weltweit fänden sich nur wenige Exemplare, so in der "National Air and Space Museum Library" und der "Smithsonian Institution" in den USA sowie in den "National Archives" in Kew in Großbritannien.

Bei Online-Katalogisierung wiedergefunden

Nach der Schenkung landete das seltene Buch in den Beständen der Bibliothek. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis das Originalquellen-Juwel strahlen konnte. "Bei der Online-Katalogisierung" unserer Bestände haben wir es neu entdeckt", erklärt Grund. Doch wie konnte das gelingen? Ist ein solches Buch in riesen Beständen nicht eine Nadel im Heuhaufen? "Ich wusste, dass es da sein muss", erklärt Grund ihren wertvollen Fund. "Wenn sie es nicht vermuten, suchen Sie es auch nicht."

Schnelle Entscheidung für Digitalisierung

Um die detailreiche Quelle für Forschung, Lehre und Öffentlichkeit zugänglich zu machen, habe man sich laut Grund entschieden, die Originalquelle zusammen mit dem Servicezentrum Digitalisierung und Fotodokumentation der Unibibliothek Mainz zu digitalisieren. Heute sind beide Bände mit wenigen Klicks durchseh- und durchsuchbar. Es gibt sogar PDFs zum Download. "Niemand muss mehr nach Mainz reisen", sagt Grund. Das schone auch das Original, wenn es nicht jeder anfasse.  

Wir sind froh, dass wir das Werk digital weltweit zugänglich machen konnten.

Ines Grund Leiterin Bibliothek Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz

Versicherungsunterlagen als Basis

Woher nahmen die Briten eigentlich all die Details über Dresden und auch die anderen Städte. Hatten sie so viele Geheimdienstmitarbeiter mitten im Krieg? "Zum Großteil handelt es sich darin nicht um geheime, sondern schlichte öffentliche Informationen, die über Werbung und Vertrieb der Unternehmen verbreitet worden sind", erklärt Grund. Eine sehr wichtige Basis für das Buch seien – wer hätte das gedacht – Unterlagen von Brandschutzversicherungen gewesen. Dort sei vieles zu finden von der Unternehmensgröße über die Zahl der Mitarbeiter bis hin zu Gebäude- und Brandschutzplänen.

Nachschlagewerk für Bombenentschärfer

Weil auch mehr als 70 Jahren nach dem Ende des Krieges in ganz Sachsen und Mitteldeutschland regelmäßig gefährliche Blindgänger entdeckt werden, ist "The Bomber’s Baedeker“ für Bombenentschärfer ein wichtiges Nachschlagewerk. So nutzt auch der Kampfmittelbeseitigungsdienst Sachsen neben Altaktenbeständen und Unternehmensarchiven das ehemals geheime Dokument. "The Bomber’s Baedeker" werde seit seiner Digitalierung und damit weitreichenden Verfügbarkeit "mit zu Rate gezogen", erklären die sächsischen Bombenentschärfer. Wegen seiner "nicht ausreichend detaillierter Informationen zu Anzahl und Typ einzelner Munitionen und Kampfmittel" sei er allerdings nur bedingt verwendbar.

Interessant für lokale Forschung

Historikern ist die Quelle schon viele Jahre bekannt. Durch die Digitalisierung der geheimen Papiere ist es nun einer breiten Öffentlichkeit möglich, diese originalen kriegsstrategischen Werke mit eigenen Augen einzusehen.

Diese Originalquelle ist superinteressant für das Verstehen des Zweiten Weltkrieges und die geplanten Luftangriffe auf deutsche Städte."

Ines Grund Leiterin Bibliothek Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz

Laut Grund müsse "The Bomber's Baedeker" jedoch richtig eingeordnet werde, viele Informationen seien zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon veraltet gewesen. "Das Buch beschriebt ja nicht die Leitlinie, nach der man verfahren ist." Das was der Baedeker suggeriere, habe nicht dem Kriegsgeschehen entsprochen.

1944 ging es nicht mehr darum, Unternehmen zu treffen, sondern das Ende des Krieges so schnell wie möglich herbeizuführen.

Ines Grund Leiterin Bibliothek Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz

Dresdner Norden: Ideenwettbewerb für Areal zum Gedenken

Der Dresdner Norden blieb trotz seiner militärischen Infrastruktur von Kriegszerstörungen weitestgehend verschont. Das obwohl die Briten – auch das zeigt das Buch – über die militärische Bedeutung der alten Garnisonsstadt mit seinen Übungsgeländen und Munitionslagern bestens im Bilde waren. "Die Munitionslager auf dem alten Militärgelände ziehen sich über eine große Fläche im Dresdner Norden und erstrecken sich entlang der Bahnlinie durch die Industrieregion bis in die Dresdner Heide. Berichten zufolge sollen dort große Mengen Munition lagern", heißt es in dem Buch.

Insofern kann die neue Digitalquelle Ansatzpunkt für viele neue Forschungen in Dresden und auch in gesamt Sachsen sein. "Die enorme Detailmenge an Informationen kann deutschlandweit Ansätze für regionale Forschung liefern", erklärt Bibliothekarin Grund. Schon jetzt gebe es immer wieder Nachfragen bei ihr.  Die Stadt Dresden jedenfalls hat jetzt einen Ideenwettbewerb ausgelobt, um das "Gedenkareal Dresdner Norden" zu entwickeln. "Wiederholt werden wir mit den Spuren des nationalsozialistischen Erbes im öffentlichen Stadtraum konfrontiert", hieß es dort. Diese Spuren gelte es zu sichern und nach ihrer Geschichte zu befragen.

Welche weiteren historischen Quellen sind digital verfügbar? (Auswahl)

  • der Abschlussbericht der von der Stadt Dresden eingesetzten Historikerkommission
  • Das Archiv der US-Streitkräfte "United States Airforce"
  • Deutsche Fotothek: Schadenspläne der Stadt Dresden vom Stadtarchiv Dresden

MDR (kt)

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