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Corona-ProjektIT-Forscher: Digitalisierung hat auch ihre Grenzen

09. Juni 2022, 12:45 Uhr

Digital, digital, digital – scheint das Mantra unserer Zeit. Die Corona-Pandemie gilt als Motor und Beschleuniger. Plötzlich fanden sich alle in Videokonferenzen und Videochats wieder – auch die "Nachzügler". Warum das gut ist, aber auch seine Risiken hat - und Wissen unbedingt analog gesichert werden muss, erklärt Dr. Jochen Tiepmar vom Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT). Der IT-Forscher ist Teil des HAIT-Corona-Projekts "Vom Virus zur viralen Verschwörungstheorie", das aktuell auf einer Tagung im Verkehrsmuseum Dresden vorgestellt wird.

Herr Dr. Tiepmar, Corona gilt als Motor der Digitalisierung. Ist das wirklich so?

Ja. Die Leute mussten sich zwangsläufig vernetzen, um weiter in Kontakt zu stehen und zusammenzuarbeiten. Das Rad wird sich nicht zurückdrehen, auch in Zukunft wird es hybride Formate geben – also beispielsweise Veranstaltungen, in denen Menschen präsent sind und andere online zugeschaltet.

Waren wir vor der Pandemie in Deutschland wirklich so undigital?

Das kann ich so nicht sagen, ich komme aus der Informatik, da war vieles kein Problem und schon lange selbstverständlich. Doch natürlich gibt es das Klischee, vom unerfahrenen Nachzügler, der sich wundert, dass er stumm gestellt ist. Doch das haben wir jetzt alle im Berufsleben gelernt. Am interessantesten waren die Auswirkungen auf die Bildung und die Lehre. Hier musste ja komplett alles auf neue Füße gestellt werden. Jeder musste sich ausprobieren. Ich selbst hatte meine Vorlesungen vorher auf Video aufgenommen, meine Seminare aber live am Bildschirm gegeben. War das anstrengend! Schon allein wegen der Verzögerung empfand ich die Live-Seminare am Bildschirm als unangenehm.

Ein Informatiker, der Seminare am Bildschirm unangenehm findet – das passt nicht in mein Weltbild!

Dann muss ich Ihr Weltbild wohl zum Einstürzen bringen. Man kann niemand zwingen, seine Kamera und das Audio anzuschalten, doch ohne dies ist eine flüssige Kommunikation schwierig. Es gab ganz witzige Anekdoten. Manche Leute schalteten sich ja parallel gleich in zwei Seminare, teilweise war es schon absurd gewesen.

Digitale Formate sind also nicht die Form der Zukunft?

Sie sind auf alle Fälle kein Ersatz für das, was wir in realen Situationen erleben. Beides hat Vor-und Nachteile, doch im großen Ganzen empfinde ich Präsenzseminare für besser. Hier merkt man, ob die Personen überhaupt anwesend sind und die Gesprächsdynamik hat wenigstens eine Chance, sich zu entwickeln.

Gibt es digitale Nachzügler?

Ja, natürlich gibt es digitale Nachzügler. Hier wird Corona noch einen großen Nachzieh-Effekt haben. Doch Digitalisierung ist auch eine Mentalitätsfrage. Sie eignet sich nicht immer unhinterfragt für alles, sie ist kein Allheilmittel. Nicht umsonst werden in der Wissenschaft wichtige Werke noch immer gedruckt publiziert. Alle Doktorarbeiten werden gedruckt abgegeben, ebenso werden wichtige Forschungsergebnisse in Publikationen gedruckt. Wissen sollte nicht von der Verfügbarkeit digitaler Infrastrukturen abhängen. Es ist Realität. Es bleiben technische Geräte. Die können ausfallen oder gestört werden.

Wissen sollte nicht von der Verfügbarkeit digitaler Infrastrukturen abhängen.

Dr. Jochen Tiepmar | IT-Forscher Hannah-Arendt-Institut Dresden

Trotzdem arbeiten sie gerade an der Digitalisierung verschiedener Projekte am Hannah-Arendt-Institut.

Es gibt Grenzen, aber überall auch enorme Chancen. Am HAIT analysiere ich die einzelnen Projekte und entwickle hilfreiche Werkzeuge für die Forschenden wie Datenbanken und Visualisierungen. Die Geschichts- und Geisteswissenschaften sind ein anderes Feld als Ingenieur- und Naturwissenschaften, weil sie mehr mit qualitativen als mit quantitativen Fragestellungen arbeiten. Doch mit meiner Spezialisierung zum sogenannten "Textmining" kann ich vielleicht Interessantes bewegen. Dazu gibt es ein digitales Labor, in dem bestimmte Dinge ausprobiert werden - das HAIT Digilab steht frei zur Verfügung.

Ein Digital-Labor am Zentrum für Totalitarismusforschung, spannend!

Im Zusammenhang mit dem Projekt "Vom Virus zu viralen Verschwörungstheorien: Die 'Spanische Grippe' und die COVID-19-Pandemie in interdisziplinärer und internationaler Perspektive" wurde ein Corona-Dashboard für Sachsen entwickelt, in dem die Inzidenzen, die Virusvarianten und die Zahl der Impfungen in Sachsen für den Zeitraum der gesamten Pandemie nachvollziehbar sind. Eine weitere Arbeit ist die Analyse des MDR-Corona-Tickers.

Sie analysieren unseren Corona-Ticker?

Ja. Mit verschiedenen Analysen kann ich Wörter zählen, Wort-Statistiken erstellen sowie Statistiken zur Nennung von Orten, Personen und Organisationen. In einer sogenannten Sentiment-Analyse lässt sich auch erkennen, wie positiv, negativ oder neutral etwas geschrieben ist.

Künstliche Intelligenz kann jetzt also auch Daten für die Gesellschaftswissenschaften liefern?

Sie kann Daten liefern, aber keine Ergebnisse. Sobald die interpretative Arbeit losgeht, wird es schwierig mit der Digitalisierung. Computer sind extrem schlecht dabei, Kontextinformationen zu verwerten. Bei Erfahrungs- und Kontextwissen sollte man sehr vorsichtig mit Digitalisierung umgehen, das kann zu Schäden führen." Die Bildungsdigitalisierung hingegen ist eine ganz andere Baustelle, bei der es bereits viele gute Lösungen und weit weniger Probleme gibt.

Von welchen Schäden sprechen Sie?

Es kann schlicht und einfach zu Fehlschlüssen kommen. Nehmen wir die Analyse Ihres Corona-Tickers. Liefert die Sentiment-Analyse zum Beispiel das Ergebnis, dass viele negative Worte verwendet worden sind, heißt das noch lange nicht, dass alle MDR-Journalisten, die den Corona-Ticker bedient haben, zu negativ eingestellt waren. Das Ergebnis kann ein Indiz sein, für die Verwendung, Popularität und die Bedeutungszuweisungen bestimmter Begriffe. Es gibt keine in Stein gemeißelten Gleichungen, die auf alles angewendet werden können. Die digitalen Analysen liefern Ansätze, die man verarbeiten kann, keine puren Ergebnisse. Man muss immer noch einmal darüber sehen.

Die Digitalisierung hat also Grenzen?

Ja, die liegen eindeutig im Kontextwissen. Nehmen wir die Feindbilder, die Forscher des Instituts hier analysiert haben. Feindbilder – auch wenn sie in ihrer Darstellung ganz einfach daherkommen – beruhen auf komplexen historischen, politischen, gesellschaftlichen Hintergründen. Das ist sehr komplex und lässt sich in keine Formel packen. Sie können mit einem Algorithmus nicht herausfinden, wie sich die Verwendung der Bezeichnung "Ratte" durch wen und in welcher Zeit gewandelt hat. Sobald es um Interpretationen geht, habe ich noch nichts gesehen, was mich überzeugt hat.

MDR (kt)

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