Interview Journalistin: "Kriegspropaganda 2.0. spielt eine signifikante Rolle"

07. Mai 2022, 08:00 Uhr

Tetiana Ivanchenko war jahrelang als Journalistin für Medienhäuser in der Ukraine tätig. Dann arbeitete sie für ein Projekt zur Erforschung von Hate-Speech an der FU Berlin. Nun hat sie am Slawistik-Institut der TU Dresden eine Doktorarbeit über ein ganz spezielles Internetphänomen geschrieben: über Memes. Wie gefährlich die sein können, erklärt sie im Interview mit MDR SACHSEN.

Frage: Frau Ivanchenko, Sie haben in Ihrer Doktorarbeit 825 Internet-Memes, also multimediale Videos aus Bild und Sprache, analysiert, warum?

Dr. Tetiana Ivanchenko: Ich wollte herausfinden, wie Hate-Speech in Internet-Memes im russisch-ukrainischen Krieg von 2014 bis 2018 benutzt wurden. Es geht um Kriegspropaganda 2.0. Sie spielt eine signifikante Rolle. Gerade Jüngere konsumieren kaum noch klassische Medien. Sie nutzen das Netz. Das Internet ist die Bühne für Hass, der anonym verbreitet wird und wirkt. Jeder kann sagen, was er will und seine Botschaften verbreiten. Das kann gefährlich werden, vor allem die Wirkung von russischen Trollfabriken im Netz, die massenweise Hasskommentare fabrizieren.

ein Frau mit halblangen Haaren wurde von der rechten Seite aus fotografiert. es ist die Journalistin, Autorin und Sprachwissenschaftlerin Tetiana Ivanchenko.
Bildrechte: privat

Das Internet ist die Bühne für Hass, der anonym verbreitet wird und wirkt.

Tetiana Ivanchenko Freie Journalistin und Autorin

Was haben Sie festgestellt?

Alle drei Seiten - also die russische, die ukrainische Seite und die prorussischen Separatisten innerhalb der Ukraine - haben Memes genutzt, um für ihre Zwecke Sprache und Bilder zu instrumentalisieren und Hate-Speech zu verbreiten.

Können Sie das näher erklären?

Ein markantes Beispiel 2014 ist ein Internet-Meme mit dem Hashtag #SaveDonbassPeople. Es bestand aus einem Foto eines weinenden Mädchens in der Nähe der Leiche ihrer ermordeten Großmutter und dem Text, dass die 'ukrainische Armee Menschen in Donbass tötet'. Dieses Internet-Meme hat sich als Fake herausgestellt. Weder das Foto noch das Mädchen hatten etwas mit den Erreignissen in Donbass zu tun. Das Foto wurde den Arbeitsmaterialien für den Film 'Брестская крепость' entnommen (Kriegsfilm von 2010 'Sturm auf Festung Brest', Anmerk. d. Red.). Dieses Internet-Meme wurde von der Propaganda verbreitet.

Oder in einem anderen Video wurde im russischen Fernsehen Kanal 1 über einen angeblich gekreuzigten, drei Jahre alten Jungen im Donbass berichtet. Eine russische Augenzeugin behauptete, sie habe alles mit ansehen müssen. Später kam heraus, dass auch das eine komplette Fälschung war und die Augenzeugin eine Schauspielerin.

Wie wurde und wird Sprache missbraucht?

Alle in der Ukraine beteiligten Konfliktparteien vermittelten Hate-Speech übers Internet. Russen und Ukrainer werteten einander ab, betitelten sich mit verachtenden, teils Jahrhunderte alten Schimpfwörtern. Von ukrainischer Seite wurde abwertend von den 'Moskal' gesprochen, Separatisten galten als 'Daunbas', Russen nannten Ukrainer 'Chochol' (einfach, ungebildet).

Es sind aber auch Neubildungen wie Fedarasty, Maidauny aufgetaucht. Die Bezeichnung, die in der russischen Propaganda, von russischen Medien und Putin benutzt wurde, ist Banderisten. Das begann 2014 mit einer Putin-Rede nach der Krim-Annexion, in der er von guten und schlechten Ukrainern sprach. Dieses Freund-Feind-Bild wurde immer weiter ausgebaut. Die Guten gehören in Putins Logik zur russischen Welt, die Schlechten seien ukrainische ideologische Nachfolger von Bandera - Hitlers Handlanger im Zweiten Weltkrieg. Von denen müsse die Ukraine befreit werden.

Ich wundere mich immer noch darüber, wie Putin den Russen die vermeintliche Entnazifizierung der Ukraine verkauft hat und immer wieder neu betont. Für mich klingt das ein wenig lächerlich. Präsident Selensky ist jüdischer Herkunft, Juden verteidigen im Krieg die Ukraine, Holocaustüberlebende widersprechen Putin seit Jahren.

Über den russischen Propaganda-Feldzug in Westeuropa und Nordamerika berichteten 2016 vereinzelt Medien hierzulande. Die Kreml-Rhetorik zur vermeintlichen Entnazifizierung rückte erst mit Beginn des Angriffskriegs ins öffentliche Bewusstsein. Warum wurde dies nicht schon vorher gehört?

Das ist eine gute Frage, die ich nicht beantworten kann. Die meisten im Westen haben sich wohl nicht für die Ukraine und ihre Geschichte interessiert.

Was bedeutet Ihre Analyse für den Nachrichtenkonsum heute - egal, in welchem Medium?

Darüber könnten wir zwei Stunden sprechen. Ich rate zu ganz vorsichtigem Umgang mit Informationen. Kurz gesagt, plädiere ich dafür, dass man möglichst zwei, drei Quellen für Informationen nutzen sollte. Wenn man das Gefühl hat, dass etwas seltsam ist oder nicht stimmen kann, sollte man weitere Quellen heranziehen.

Ich lese Nachrichten auf Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch. Da habe ich immer mindestens zwei Interpretationen von Fakten. In Massenmedien kann man oft keine Quellen erkennen. In Russland werden Interviewpartner oft Experte oder Expertin genannt. Da sollte man genau hinsehen, was dieser Experte oder diese Expertin macht, wie lange sich die Person schon mit dem Thema beschäftigt und warum.

Sie informieren sich in vier verschiedenen Sprachen aus mehreren Ländern. Ist das aktuell nicht anstrengend - und dabei noch den Überblick zu behalten?

Stundenlang und jeden Tag kann ich das auch nicht machen. Aber wenn ich bei einer Information skeptisch bin, informiere ich mich. Wissen Sie, nach dem Abschluss meiner Dissertation im Januar wollte ich wieder Artikel schreiben. Doch ich habe keine Zeit dafür. Ich muss mich in der Flüchtlingshilfe für Ukrainer in Dresden auf Wichtigeres konzentrieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

MDR (kk)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 03. Mai 2022 | 19:00 Uhr

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