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ARD-Themenwoche "Wir gesucht""Radeburger Appell": Bürger stemmen sich gegen Spaltung der Gesellschaft

08. November 2022, 21:39 Uhr

Als in den Jahren 2021/22 die Demonstrationen gegen die Corona-Politik ihren Höhepunkt erreichen und sich die Fronten zwischen Befürwortern und Gegnern der Maßnahmen verhärten, hält eine kleine Gruppe in Radeburg inne. Sie will den Riss durch Familien, Freundeskreise, die Gesellschaft nicht länger hinnehmen und verfasst den "Radeburger Appell". MDR SACHSEN hat mit vier Vertretern der Gruppe gesprochen und sie gefragt, wie sie sich als Bürger das Leben in der sächsischen Kleinstadt vorstellen.

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Frühjahr 2021: Im ganzen Land gibt es Corona-Demos, auch in Radeburg - eine Kleinstadt im Landkreis Meißen, 7.300 Einwohner, eine Faschingshochburg. Zu Hochzeiten seien 600 Leute bei den Protesten auf die Straße gegangen, sagt der Radeburger Klaus-Dieter Kroemke. Für den Unternehmer ist der Riss, der durch die Stadtgesellschaft geht, kaum zu ertragen. "Familien wurden auseinandergerissen, Freundschaften gingen zu Bruch. Das habe ich selber erlebt und deswegen habe ich mir gesagt: Das kann so nicht sein! Was machen wir falsch? Wieso sind wir nicht in der Lage, uns vernünftig auszutauschen?"

Was machen wir falsch? Wieso sind wir nicht in der Lage, uns vernünftig auszutauschen?

Klaus-Dieter Kroemke | Initiator "Radeburger Appell"

Mit diesen Gedanken ist Kroemke nicht allein. Auch Elisabeth Lorenz erlebt, was die Pandemie mit all ihren Begleiterscheinungen auslöst. Ihre Mutter rutscht im Altersheim in eine Demenz, ihre Enkelkinder leiden während des Lockdowns unter den Schulausfällen. Die Yoga-Lehrerin empfindet diese Zeit der harten Auseinandersetzungen als bedrückend. "Ich habe viel Spaltung erlebt, zwischen Freunden, Freundschaften die auseinandergegangen sind, selbst in der Familie gibt es Risse. Ich habe gemerkt, das ganze Klima ist nicht mehr das, was es gewesen ist."

Was bringen Montagsdemonstrationen?

Unter denen, die sich montags den sogenannten Spaziergängen anschließen, ist auch die Rentnerin Angela Hofmann. "Dort hat man auf einmal gemerkt, dass man mit Leuten gesprochen hat, an denen man sonst in Radeburg vorbeigelaufen ist." Montag für Montag nehmen Angela Hofmann und ihr Mann an den Protesten teil, hier fühlen sie sich aufgehoben und verstanden. Doch irgendwann kommen Zweifel. "Wir haben uns gefragt, wie viele Jahre wollen wir noch im Kreis laufen? Irgendwann muss es ja weitergehen."

Und so finden Klaus-Dieter Kroemke, Elisabeth Lorenz, Angela Hofmann und viele andere Einwohner zusammen und tauschen sich aus. Getragen von dem Gedanken, diese Spaltung zu überwinden, entwerfen sie gemeinsam eine Art Leitbild für ihre Kommune. Dabei ringen sie um jede Formulierung. Schließlich unterzeichnen 32 Radeburgerinnen und Radeburger am 14. Februar 2022 den "Radeburger Appell". Es ist ein flammender Aufruf, sich wieder zusammenzuraufen. In dem Appell heißt es zum Beispiel:

Wir alle tragen Verantwortung füreinander und für den Erhalt unserer Zivilgesellschaft! Wir wollen zeigen, dass die Mehrheit in unserer Stadt willens ist, die Spaltung zu überwinden und aufeinander zuzugehen. Lasst uns deshalb die Gemeinsamkeiten betonen.

Auszug aus dem "Radeburger Appell"

Der Appell hält unter anderem fest, dass eine große Mehrheit der Wissenschaft vertraut. Aber auch, dass es Bedenken gegen eine Impfung gegen Covid-19 gibt und Angst vor Nebenwirkungen. Der Appell benennt, dass Menschen an Corona sterben können. Aber auch, dass die Einschränkungen immer wieder auf den Prüfstand gehören.

Ein Runder Tisch für Radeburg – Austausch auf Augenhöhe

Doch mit dem Appell ist es nicht getan, denn das Bedürfnis zu reden ist immens. Der Wunsch nach einem "Runden Tisch" kommt auf. Befürworter und Gegner von Corona-Beschränkungen sitzen zusammen und versuchen zu leisten, was in der Gesellschaft zu scheitern droht: über Streitthemen hinweg weiterhin höflich miteinander umzugehen und im Gespräch zu bleiben. Elisabeth Lorenz meint, man müsse akzeptieren, dass es viele Meinungen gibt. "Wir sehen nicht das Spaltende, sondern das Gemeinsame", sagt sie.

Unsere Runden Tische funktionieren mit Wertschätzung, mit Kommunikation auf Augenhöhe und damit, das Gesagte stehen und wirken zu lassen und nicht zu bewerten. Man muss akzeptieren, dass es viele Meinungen gibt und jeder seine Gründe für seine Meinung hat.

Elisabeth Lorenz | Unterzeichnerin "Radeburger Appell"

"Niemand will eine Impfpflicht um jeden Preis"

Beim ersten Runden Tisch wird rege diskutiert, inhaltlich finden die Teilnehmer wenig Schnittmengen. Eine Übereinstimmung jedoch entdecken sie: Niemand will eine Impfpflicht um jeden Preis. Für Angela Hofmann, Mitunterzeichnerin des Appells, ist das ein zentrales Ergebnis. "Das war für mich ganz wichtig an dem Abend. Zum Schluss sind wir rausgegangen mit dem Konsens, das soll jeder für sich selbst entscheiden."

Und auch für Klaus-Dieter Kroemke ist die Akzeptanz von Uneinigkeiten ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es müsse nicht immer Konsens sein, meint er. "Meinungsaustausch bedeutet ja nicht, dass ich erwarte, dass der andere meine Meinung hat. Sondern, dass man die Meinung des anderen zur Kenntnis nimmt, das vielleicht bei sich einordnet und wenn man Zeit hat, der Sache noch mal nachgeht und das vertieft", so Kroemke.

Es muss nicht immer Konsens sein. Meinungsaustausch bedeutet ja nicht, dass ich erwarte, dass der andere meine Meinung hat.

Klaus-Dieter Kroemke | Initiator "Radeburger Appell"

Was bringen Runde Tische?

Weil Menschen in politischer Verantwortung Entscheidungen für die ganze Gesellschaft fällen müssen und nicht im persönlichen Meinungsaustausch verharren können, wollen die Teilnehmer des Runden Tisches das politische Handeln beeinflussen. Und so schreiben sie an mehr als 30 sächsische Bundestagsabgeordnete. Die meisten Unterzeichner machen das zum ersten Mal. Zu ihrer Kritik an den Corona-Maßnahmen und ihren Vorschlägen sei allerdings nur von einem Abgeordneten eine schriftliche Antwort gekommen.

Entmutigt hat sie das nicht. Zumal die sechs Runden Tische, die es bereits gab, einiges in Gang gesetzt habe. So hätten die Stadträte die Idee aufgegriffen, einen Citymanager einzuladen, um Vorschläge für eine neue Gestaltung des Radeburger Marktes einzuholen - weg von einer Parkplatz-Steinwüste hin zu einem attraktiven Ort, an dem Menschen gern verweilen.

Das (Wieder-)Entdecken demokratischer Gremien

Für Klaus-Dieter Kroemke waren der Appell und die Runden Tische ein Wiederentdecken basisdemokratischer Gremien. "Was ich auch gelernt habe: Wir müssen mehr in den Stadtrat gehen." Dort gebe es den Tagesordnungspunkt "Anfragen der Bürger", wo man seine Fragen stellen kann. "Wenn man keine Fragen stellt, bekommt man auch keine Antworten", betont Kroemke. "Das ist etwas, was uns der Runde Tisch gelehrt hat."

Fest steht für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Sie wollen sich weiter für ihre Stadt engagieren. Es gebe so viele Themen und man schaffe gleichzeitig etwas Gemeinsames. Das gebe ein "Wir-Gefühl" - und das sei einfach toll.

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 08. November 2022 | 19:00 Uhr

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