Leukämie Stammzellenspender aus Dresden rettet junger Mutter das Leben

01. April 2023, 10:00 Uhr

Rund 246.000 Menschen in Sachsen sind als Stammzellenspender registriert. Einer von ihnen ist Stefan Drechsler aus Dresden. Er hat einer jungen Mutter mit seiner Knochenmarkspende das Leben gerettet. Jetzt haben sich Spender und Patientin nach Ablauf der Anonymitätspflicht persönlich getroffen. Eine Geschichte über das Geben, das Kämpfen, über Glück und richtige Entscheidungen zur richtigen Zeit.

Es gibt Momente, da ist alles perfekt. Im Urlaub am Strand, die Tochter im Arm, den geliebten Partner daneben, das Ungeborene im Bauch. Als im September 2020 die Sonne in Griechenland am Horizont verschwindet, glaubt Nicole zu wissen was Glück ist.

Und es gibt Momente, in denen alles zusammenstürzt. Nur wenige Tage später legt sich die Schwangere zurück in Deutschland nach einer Routineuntersuchung zum Mittagsschlaf. Als sie erwacht, zeigt ihr Display 32 Anrufe. "Da wusste ich, dass etwas nicht stimmt", erzählt Nicole. "Kommen Sie sofort in die Klinik, wir müssen eine sehr bösartige Leukämie ausschließen!", fordert ihre Frauenärztin. Nicole spendet ihre langen blonden Haare und beginnt zwei Tage nach dem Anruf ihre Chemotherapie.

Was ist Leukämie? Leukämie geht von den Knochenmarkzellen aus - dem Ort, an dem das Blut produziert wird. Deshalb wird Leukämie auch als Blutkrebs bezeichnet. Eine Leukämie entsteht, wenn der normale Reifungsprozess der weißen Blutkörperchen (Leukozyten) im Knochenmark durch eine Fehlschaltung bestimmter Kontrollgene unterbrochen ist. (Quelle: Deutsche Krebsgesellschaft)

Stammzellenspende letzte Hoffnung für Leukämie-Patienten

Knapp vier Jahre vorher bauen Mitarbeiter der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) an der Technischen Uni in Dresden ihren Stand auf. Sie wollen junge Studierende für eine Stammzellenspende gewinnen. Sie gilt oft als letzte Hoffnung für Leukämie-Patienten. Allerdings ist es extrem schwierig, einen passenden genetischen Zwilling zu finden. Denn nur wenn die DNA gleich ist, stößt der Körper die fremden Zellen nicht ab. "Es ist vergleichbar mit der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen", erklärt Julia Ducardus, Sprecherin der DKMS.

Die gemeinnützige Datenbank hat weltweit 11,5 Millionen Spender und Spenderinnen registriert. Doch das reicht nicht. Aus Altersgründen scheiden jedes Jahr viele Menschen am 61. Geburtstag aus. Die DKMS braucht "jungen Nachschub". Stefan Drechsler schlendert mit seiner Freundin durch Zufall vorbei. "'Das machen wir jetzt, war damals spontan unsere Entscheidung", erklärt der heutige Familienvater im Gespräch mit MDR SACHSEN. Damals wusste er noch nicht, dass er später die Schlüsselfigur im Leben einer völlig fremden Person werden würde. "Natürlich wollte ich etwas geben", erklärt Stefan. "Warum nicht, es ist doch so einfach."

Nicoles Zustand verschlechtert sich rasend

Zurück in den Herbst 2020: Nicoles Zustand im Universitätsklinikum Tübingen verschlechtert sich rasend. Nach dem ersten Block Chemo ist ihre Haut mit Entzündungen überseht, die stolze Frau fällt zusammen, die Kraft schwindet – doch das Baby lebt. Klar ist jedoch: Eine Chance haben beide nur mit neuen Stammzellen. Eine fieberhafte Suche beginnt. Nicoles Familie gründet einen Instagram-Kanal, die Lokalmedien aus dem Raum Tübingen berichten, was das Zeug hält und die DKMS beginnt, in ihrer riesigen Datenbank nach Zellen mit der DNA von Nicole zu suchen.

Unterdessen kämpft Stefan Drechsler mit seiner Frau und den gemeinsamen kleinen Sohn mit den Herausforderungen des aufziehenden zweiten Corona-Herbstes. Die Registrierung für eine potenzielle Spende schlummert tief in der Erinnerung. Bis eine E-Mail im Postkasten landet. "Sie können Spender sein", liest der heute 33-Jährige. "Klar, so richtig rechnet man nicht damit", erklärt Stefan. "Doch plötzlich war es soweit."

Blutuntersuchung und Funkstille

Stefan geht sofort wie gebeten zum Arzt, lässt sich Blut abnehmen und schickt für weitere Untersuchungen alles zur DKMS. "Ich war aufgeregt und natürlich erfreut, jemandem helfen zu können", erklärt er sich. Doch dann passierte erst einmal: Nichts. Stefan wundert sich, verdrängt, denkt wieder nach. "Es war schon komisch, dass ich so lange nichts hörte", erinnert er sich. "Ein bisschen Sorge hatte ich schon, dass der Person etwas passiert ist."

Ein bisschen Sorge hatte ich schon, dass der Person etwas passiert ist.

Stefan Drechsler Stammzellenspender

Lian kann sich nicht mehr halten

Während Stefan seine Gedankenfetzen zurückdrängt, rast Nicole dem Tod entgegen. Ein ursprünglich harmloser Abszess wird für ihren durch die Chemo immungeschwächten Körper zur Riesengefahr. Eine Blutvergiftung entwickelt sich. Der kleine Lian in ihrem Bauch kann sich nicht mehr halten.

Sieben Monate alt, drückt ihn ein Krampf mit dem Kopf zuerst aus dem Unterleib heraus. Tot. Das erste Opfer der Leukämie. "Es war eine stille Geburt", sagt Nicole. So nennt sich der Fachbegriff, wenn Babys ohne Lebenszeichen auf die Welt kommen. Lian ist still gegangen und lässt mit seinem Abgang über den Geburtskanal seiner Mutter eine Chance zu überleben. "Einen Kaiserschnitt hätte ich zu dieser Zeit niemals verkraftet", erzählt Nicole.

Der Kampf im Koma

"Das war am 12. Oktober mittags", Nicole kennt die Daten genau. Denn damals geht es um Stunden, Minuten, jeder Moment ist entscheidend. Kurz danach droht Nicole zu kollabieren. Die Ärzte ziehen die Notbremse, fahren ihren Körper herunter und legen sie ins Koma. Nicole kollabiert trotzdem, Multiorganversagen. Die Mediziner rotieren, geben ein Medikament, was die Durchblutung nur auf die Organe konzentriert, die zum Überleben gebraucht werden. Nicole windet sich im Kampf – und gewinnt. Sie überlebt im Koma, ein paar Wochen später erwacht sie. Ein paar Finger sind abgestorben, der Krebs ist auch noch da – aber sie lebt.

Stefan wird auf Herz und Nieren geprüft

Kurz darauf klingelt bei Stefan wieder das Telefon. "Es geht los", erklärt die DKMS. Stefan geht zum Gesundheitscheck: Blut, Urin, Herz, Leber, Milz, Nieren, alles wird genau geprüft. "Es dürfen ja keine Krankheiten übertragen werden", erklärt Stefan. "Kurz später folgte die Meldung, ich sei bester Gesundheit und komme weiter für eine Spende in Frage."

Ich wurde gefragt, ob ich auch zu einer OP mit Narkose bereit sei. Da wusste ich, dass es akut sein muss.

Stefan Drechsler Stammzellenspender

"Es gibt zwei Verfahren. Bei einer peripheren Spende werden die Stammzellen ambulant über die Armvene herausgefiltert", erklärt Ducardus von der DKMS. Diese werde in 90 Prozent der Fälle genutzt. Bei der klassischen Knochenmarkspende hingegen würden dem Spender bei Vollnarkose die Stammzellen entnommen. Hier sei das Risiko für eine Abstoßung geringer.

"Kurz vor meinem geplanten Termin hieß es Kommando zurück", erzählt Stefan. "Ich wurde gefragt, ob ich auch zu einer OP mit Narkose bereit sei. Da wusste ich, dass es akut sein muss. Natürlich war ich bereit." Stefan bekommt Medikamente, damit sich viele Stammzellen lösen. Er fühlt sich kränklich und schlapp. "Ganz ohne war das nicht."

Die Transplantation

Währenddessen wüten die Corona-Pandemie und ein Wintereinbruch. Trotzdem klappt das Unwahrscheinliche. Nach einem negativen Corona-Test checkt Stefan an einem Morgen im Februar 2021 im Dresdner Krankenhaus St. Joseph-Stift ein. "Dort erfuhr ich, dass meine Stammzellen für eine junge Mutter bestimmt sind, da hatte ich eine gewisse Vorstellung ", erzählt Stefan. Sein Zimmernachbar sei hingegen der genetische Zwilling eines türkischen Mädchens gewesen. "Verrückt."

Man übernimmt das Immunsystem und die andere Blutgruppe, das eigene Immunsystem wird komplett plattgemacht. Das können Sie vergleichen mit der Neuformatierung einer Festplatte.

Julia Ducardus Sprecherin DKMS

Nach der Narkose erwacht Stefan schnell. "Mittags war alles vorbei", erzählt er. Glücklicherweise sei der Transporter gut über die winterliche Autobahn nach Tübingen gekommen. Dort wartete bereits Nicole. "Man übernimmt das Immunsystem und die andere Blutgruppe, das eigene Immunsystem wird komplett platt gemacht", erklärt Ducardus von der DKMS. "Das können sie vergleichen mit der Neuformatierung einer Festplatte."

Stefan schreibt Genesungskarte

Nach der Transplantation kommt Stefan nach Hause und ist seltsam emotional. Er fragt sich, ob seine Spende helfen konnte, überlegt, wie es der Empfängerin geht. "Nach ein paar Tagen begann der Alltag und die Arbeit wieder", erinnert er sich. Für die Spende stellte ihn sein Arbeitgeber frei, die DKMS zahlte den Verdienstausfall. Trotzdem lassen Stefan diese Fragen nicht los.

Nach drei Monaten erhält er die Nachricht, dass die Spende erfolgreich verlaufen ist. Allerdings habe Nicole wegen einer Abstoßungsreaktion ihre Nieren verloren und sei jetzt von der Dialyse abhängig. Trotzdem: Stefan schreibt Nicole eine Genesungskarte. Das ist möglich über die DKMS. Zum Schutz von Empfänger von Spender sind die Spenden anonym.

Die Rationalität geht krachen

Diese Karte von Stefan ist der Beginn eines Anfangs zwischen Stefan und Nicole, zwischen Spender und Empfängerin. Diese Karte bricht das Eis, die Anonymität, holt das Abstrakte aus dem Off. Sofort nach Ablauf der Anonymitätsfrist nehmen sie Kontakt auf und stellen Erstaunliches fest: "Nicole stammt aus Dornstetten bei Tübingen. Dort habe ich einmal gewohnt", Stefan kann es noch immer nicht glauben. "Wie viele Zufälle gibt es im Leben."

Als Stefan den Instagram-Kanal mit der Krankengeschichte von Nicole sieht, zieht es ihm die Füße weg. "Das war für mich ein krasser Tag. Die Rationalität, die ich vorher hatte, konnte ich nicht mehr aufrecht halten", erklärt der IT-Projektmanager. Er sei demütig vor dem Leben, vor der Kraft, mit der Nicole die Krankheit meisterte. "Was das für sie bedeutet, das kann man nicht in Worte fassen. Mit der Spende konnten wir der Tochter auch eine Mutter schenken."

Das war für mich ein krasser Tag. Die Rationalität, die ich vorher hatte, konnte ich nicht mehr aufrecht halten. Was das für sie bedeutet, das kann man nicht in Worte fassen. Mit der Spende konnten wir der Tochter auch eine Mutter schenken.

Stefan Drechsler Vater und Stammzellenspender

Treffen in Dornstetten

Weil Stefan mit seiner Familie sowieso Freunde in Dornstetten besuchen wollte, steht bald fest: Nicole und Stefan treffen sich bei dieser Gelegenheit mit ihren Familien. "Ich war so aufgeregt. Das war ja kein belangloses Treffen wie auf einer Party", erzählt der Familienvater.

Zwei Leben aus zwei Teilen Deutschlands, die plötzlich miteinander verbunden sind. "Stefan und seine Familie kamen nachmittags bei uns an und blieben bis Mitternacht. Als er die Treppe hochkam, fühlte es sich so an, als würde ein guter Freund vorbeikommen - als hätten wir uns schon immer gekannt. Es war direkt vertraut, offen, einfach schön“, schwärmt Nicole.

Überwältigende Erfahrung

Nicole hat den Krebs überstanden, vorerst. Doch sie hat mehrere Finger und ihre Nieren verloren. Dreimal pro Woche wird jetzt bei der Dialyse ihr Blut gewaschen. "Eine belastende Prozedur", erzählt sie Im Gespräch mit MDR SACHSEN. "Ich war immer ein spontaner Mensch, damit ist es jetzt vorbei." Zudem habe sie immer wieder Probleme mit der Lunge, an arbeiten sei nicht zu denken. Doch sie könne für ihre Tochter da sein. "Das ist ein großes Geschenk."

Stefan kann es bis heute kaum glauben, was ihm und Nicole widerfahren ist. "Ich habe totalen Respekt vor dem, was Nicole durchgemacht hat. Für ihr entbehrungsreiches Leben finde ich ihre Einstellungen bemerkenswert", erklärt der Dresdner. "Ich finde es überwältigend und empfinde eine tiefe Dankbarkeit. Das war eine Reise, die man nie wieder so erlebt."

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Der Sonntagnachmittag | 01. April 2023 | 10:30 Uhr

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