Premiere"Gittersee": Berliner Ensemble erinnert an Stasi und Republikflucht
Am Berliner Ensemble wurde am Samstag die Inszenierung von "Gittersee" uraufgeführt. Das Werk von Charlotte Gneuß war einer der Romane des vergangenen Jahres – die Geschichte eines Mädchens und seiner Konflikte mit der DDR, angesiedelt 1976 im Dresdner Stadtteil Gittersee. Das Buch wurde hoch gelobt und stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Aber es wurde auch heftig kritisiert, weil manche der 1992 geborenen Autorin vorwarfen, nicht in allen Details korrekt zu sein.
- Am Berliner Ensemble feierte am Samstag die Inszenierung des Romans "Gittersee" der Autorin Charlotte Gneuß Premiere.
- Der Roman entfachte nach seinem Erscheinen 2023 eine heftige Debatte über das Erinnern an die DDR.
- Die Bühnenadaption ist eine Möglichkeit, einen neuen Blick auf die Vergangenheit in der DDR zu werfen.
Es beginnt mit Stimmengewirr aus dem Off und vor allem dieser Satz bleibt hängen: "Lust auf ein Abenteuer?". Im Laufe des Abends erfährt man, dass damit eine Einladung "in die Tschechei" gemeint ist. Zwei Jungs, Paul und Rühle, möchten, dass ihre Freundin Karin sie zur "Sonnwendfeier" begleitet. Für ein Wochenende mit der Schwalbe "zu den Tschechen", zelten und baden und Bier trinken.
Für die 16-jährige Karin aber wird ein anderes Erlebnis zum "Abenteuer". Die Mutter hatte ihr verboten, mitzufahren und nachdem Paul nicht von diesem Ausflug zurückkommt, sondern in den Westen geflohen ist, meldet sich ein Stasi-Mann namens Wickwalz bei ihr und setzt sie wegen "Beihilfe zur Republikflucht" unter Druck.
Wer darf über die DDR schreiben?
Karin und Paul. Hießen 16-jährige Jugendliche in der DDR 1976, dem Jahr, in dem Charlotte Gneuß Roman "Gittersee" spielt, Karin und Paul? Hat man damals in der Elbe bei Dresden, wo die Handlung spielt, gebadet? Hat man schon "lecker" gesagt, wenn etwas schmeckt? Um Fragen wie diese kreiste im vergangenen Jahr, als der Roman erschien, eine intensive Debatte. Letztlich lief sie darauf hinaus, ob eine 1992 im Westen, in Ludwigsburg geborene Autorin einen Roman über einen Dresdner Stadtteil im Jahr 1976 schreiben darf.
Eigentlich ist das eine alberne Frage. Natürlich darf sie das. Jules Verne war nie auf dem Mond und hat darüber einen Roman geschrieben. Der Unterschied ist – und darum ist die Haut in diesem Fall bei manchen ziemlich dünn – dass viele Menschen, die damals auf dem "Mond" DDR lebten, sich ganz anders an ihr untergegangenes Land erinnern. Sie denken dabei nicht vordergründig an die Stasi und das Diktatorische, wie viele der jüngeren Autoren und Autorinnen, unter anderem auch Anne Rabe in "Die Möglichkeit von Glück".
Vom Buch zur Bühne
Was also passiert auf der "Neuen Bühne" des Berliner Ensembles, wo Regisseurin Leonie Rebentischs Fassung des Romans am Samstag uraufgeführt wurde? Eine der guten Nachrichten ist, dass sie für die Bühne eine Dialogfassung geschrieben hat und nicht, wie es bei den üblich gewordenen schnellen Roman-Adaptionen leider oft geschieht, Prosatexte gesprochen und dann bemüht bebildert werden.
Die noch bessere Nachricht aber ist, dass diese Dialoge eine große Spannung entwickeln. Über weite Strecken folgt man der Handlung wie gebannt, will wissen, wie es der Stasi-Mann schaffen konnte, das Mädchen Karin zur Zusammenarbeit zu "überreden". Warum Karins Verhältnis zu ihrer neurotischen Mutter und dem trinkenden Vater so ist, wie es ist: schlecht.
Und man will erfahren, warum auch die burschikose, ständig die (zum festen Inventar der DDR-Klischees und Wahrheiten zählende) Kittelschürze tragende Oma nicht mehr an Karin herankommt. Und schließlich – das sind trotz aller Ernsthaftigkeit des Themas die schönsten, die humorvollsten Szenen des knapp zweistündigen Abends – warum Karin schließlich im Rahmen der Stasi-Erpressung ihre beste, ihre impulsive, freiheitsliebende Freundin Marie verrät.
Diabolischer Stasi-Mann und minimalistisches Bühnenbild
Die Inszenierung von Leonie Rebentisch setzt stark auf diese Dialoge, die Ausstattung ist sparsam und eher symbolisch. Mal sitzt Karin tatsächlich zwischen zwei Stühlen – ihre Mutter auf der einen Seite und der Stasi-Mann Wickwalz auf der anderen Seite. Mal droht die freischwebende Bühnendecke sie zu erdrücken oder sie reißt vor Wut und Verzweiflung die von dieser Decke hängenden Stoffbahnen herunter.
Geräusche und bedrückende Soundelemente halten die Spannung hoch. Aus dem Ensemble ragt Paul Herwig als geradezu mephistophelischer Stasi-Mann heraus. Schmerzhaft ist es, zu erleben wie seine teuflische Art Karin dazu bringt, sich ihm vorbehaltlos zu öffnen und sogar ihre Freundin Marie zu verraten. Denn die ist das, was ihr eigentlich das Wichtigste am Leben ist.
Am liebsten möchte man auf die Bühne gehen und ihr helfen! Rahel Ohm gibt die Großmutter oberflächlich kalt und doch so beiläufig klug und "die Dinge durchschauend", dass man sie gerne noch näher kennengelernt hätte, mehr über ihre schlimmen Kriegserlebnisse erfahren hätte. Schließlich Amelie Willberg als Karin und Irina Sulaver als Marie. Sie schaffen es, nicht zu kindlich und doch nicht zu erwachsen oder heutig zu spielen.
Ein guter, ein solider Abend ist das, wenn auch vielleicht kein überragender, für den man extra nach Berlin fahren muss. Thematisch verwandt, aber weitaus komplexer und zeitlich ausgreifender ist übrigens Thomas Freyers Stück "Dumme Jahre", das jüngst am Nationaltheater Weimar uraufgeführt wurde.
Auseinandersetzung mit der Stasi, der DDR und der eigenen Vergangenheit
Denn einen kleinen Haken hat diese "Gittersee"-Inszenierung: Er steckt nicht in Details, sondern bereits in der Vorlage. Der Roman zeigt nur einen engen Ausschnitt aus dem DDR-Alltag, er dreht sich fast ausschließlich um die Stasi und ihre befremdlichen Machenschaften, die sogar vor Heranwachsenden nicht Halt machten. War das die DDR? War sie nicht, werden viele sagen, die wenig oder keine Berührungen mit den groben Werkzeugen der Diktatur hatten.
Natürlich war sie das aber auch und genau darin besteht die Chance dieses Abends: Man kann ihn als Erinnerungsangebot verstehen. Das Stück als Möglichkeit für die nachwachsenden Generationen sehen, ihre Eltern und Großeltern nach den wunden Punkten in Bezug auf dieses seltsame, schon so lange zurückliegende "Damals" zu befragen.
Auch die Älteren könnte die Inszenierung animieren, ihre eigenen Erinnerungen auf den Prüfstand zu stellen. Die Anwerbeversuche der Stasi werden viele kennen und vor allem die vielen, die abgelehnt haben, was ja oft auch ohne Folgen blieb, werden sie als kurzzeitig unangenehme Episode verdrängt haben. Mit der "Gittersee"-Inszenierung ergibt sich die Chance, die Frage nach dem "Wie war das denn wirklich?" zu stellen. Im Guten wie im Unguten.
Apropos: Das Stück endet überraschend. Stasi-Mann Wickwalz verunglückt mit dem Motorrad und Karins Oma vermisst einen langen Draht aus dem Schuppen.
Mehr Informationen zur Inszenierung finden Sie hier.
Redaktionelle Bearbeitung: tis
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 04. November 2024 | 08:40 Uhr