20 Jahre Jahrhundertflut Herzlichen Glückwunsch! "Flutbaby" Jessica wird heute 20 Jahre alt

14. August 2022, 09:00 Uhr

Als die Elbe, die Mulde, die Zschopau und viele andere Flüsse in Sachsen im Minutentakt weiter über ihre Ufer traten, kämpfte sich Jessica ans Licht dieser Welt. Heute wird die junge Frau aus Waldheim 20 Jahre alt. MDR SACHSEN gratuliert herzlich und hat die künftige Krankenschwester Zuhause besucht.

Mutter Antje Hofmann erinnert sich sofort an die Flut. "Schon als ich unsere größere Tochter nachmittags von der Kita abholte, regnete es in Strömen. Es regnete und regnete. Ein Ende war nicht abzusehen", erzählt die damals Hochschwangere. Während sich ihre Familie berät, steigt der Pegel der Zschopau, die nur gut 50 Meter am Haus vorbei fließt. Die Hofmanns konnen zusehen, wie das Wasser das Flussbett füllt, immer mehr Land nimmt und der Platz unter der Stadtbrücke schwindet. Die Entscheidung fällt abends: Tasche packen und ab auf die andere Seite zu den Schwiegereltern. "Wir mussten sicher sein, über die Brücke zu kommen. Das Krankenhaus Leisnig lag ja auf der anderen Seite."

                           

Emotionen schimmern durch

Antje Hofmann ist eine freundliche und zurückhaltende Frau. Ihre Emotionen schimmern trotzdem durch. Ihr Mann sitzt links neben ihr und nickt. Jessica schaut von der anderen Seite. Natürlich kennt sie die Geschichte. Jedes Jahr kommt die Flut in den Erzählungen zurück und damit Jessicas Geburtstag und umgekehrt. Der erste Tag ihres Lebens bleibt immer mit den aufregenden Umständen der Flut verbunden. Eine Flut, die Waldheim in dieser Wucht nie zuvor erlebt hatte. Und die Kleinstadt in Mittelsachsen hatte schon einige Hochwasser überstanden. Dieses "Jahrhunderthochwasser" 2002 aber hat sich eingebrannt. Spätestens an den Flutmarken nahe des Napoleonhauses in der Innenstadt wird klar, dass es sich nicht nur um Emotionen handelt. Kein Strich aus früheren Jahrhunderten ist so hoch wie die Flutmarke von 2002.

Vom Zufall und einem neuen Anfang

Beginn und Ende liegen besonders in diesen Hochwassertagen nah beieinander. Als für viele Menschen die Welt untergeht, 21 Menschen wegen der Flut sterben, geht sie für Jessica und ihre Familie auf. Es ist ja alles Zufall. "Ich habe es mir selbst ja nicht aussuchen können", sagt Jessica mit einem schüchternen Lächeln. Fast erscheint es, als sei sie jedes Mal wieder überrascht, wie aufgeregt die Menschen sind, wenn es "einfach nur" um ihre Geburt geht. Regelmäßig fragen Journalisten nach ihr. Ach ja, im Grunde fing alles mit einem Reporter an, der sich in den Kreißsaal schlich und ein erstes Foto der glücklichen Mama mit dem "Flutbaby" Jessica schoss. Dieses Bild ging durch die Republik. Dazu später mehr.

Wehen in der Fluchtnacht nach Mitternacht

Zurück zum 13. August 2002. Bei den Schwiegereltern angekommen, sortiert sich die Familie, isst, ruht sich nach dieser Entscheidung aus. Doch schon wenige Stunden später, gegen Mitternacht, setzen die Wehen ein. "Vielleicht war es die Aufregung", sagt Antje Hofmann und zuckt mit den Schultern. Die geplante Wassergeburt jedenfalls konnte sie sich nach dem Eintreffen im Krankenhaus abschminken. Wegen der Flut und des Trinkwassernotstands musste jeder Tropfen Wasser gespart werden. "Die Ärztinnen und Ärzte waren aufgeregt. Das habe ich gemerkt", erinnert sich die Mutter. Seltsam, dass sich manche Momente einbrennen und nach 20 Jahren noch so frisch wirken, als seien sie eben erst passiert.

Jessica hat die abgesagte Wassergeburt scheinbar nicht gestört. Wasser konnte sie später noch genug sehen. Und so kämpft sie sich im Krankenhaus Leisnig durch den Geburtskanal, während tausende Rettungskräfte in Sachsen gegen die Flut kämpfen. Gegen vier Uhr erblickt sie am 14. August das Licht der Welt. "Es hat auch so geklappt, ohne Wasser – zumindest ohne Wasser in der Badewanne", resümiert Antje Hofmann lächelnd.

      

Deprimiert nach der Heimkehr

Das war vor 20 Jahren. Jetzt sitzt die komplette Familie in dem Nebenzimmer ihres Spielzeuggeschäfts. "Die eigentliche Arbeit kam danach", erinnert sich der Vater Bernd Hofmann. Der gesamte Spielzeugladen habe unter Wasser gestanden, die Lebensgrundlage der Familie. Als Antje Hofmann nach ein paar Tagen im Krankenhaus mit Baby Jessica nach Hause kommt, muss sie schlucken. "Als ich dieses Ausmaß der Zerstörung sah, war ich erst einmal deprimiert", sagt sie.

Wochenbett in Fluttrümmern

Die Wohnung in einer halben Flutruine, die neben vielen anderen Flutruinen steht, Schlammmassen auf der Straße, die Stadt zerstört, eine kleine Tochter und ein Neugeborenes Zuhause – das war eine Herausforderung, logistisch und mental. "Ein Glück, ich konnte gar nicht so viel nachdenken. Ich musste mich ja um das Baby kümmern." Vater Bernd fügt hinzu: "Die Hilfsbereitschaft war überwältigend und unvergessen." Sämtliche Schulkinder hätten überall in Waldheim geholfen. "Sie waren so jung und gut drauf, haben sogar Schlammschlachten gemacht. Das ließ uns unsere Sorgen vergessen", wird später ein Bäcker aus der Waldheimer Innenstadt erzählen.

Sie waren so jung und gut drauf, haben sogar Schlammschlachten gemacht. Das ließ uns unsere Sorgen vergessen,

Flutopfer über Schüler, die 2002 beim Schlammschippen halfen

Zur Flut 2013 mit der Großmutter auf den Berg gerettet

Und Jessica? Sie kann sich nicht an die Ereignisse erinnern. Die Flut ist trotzdem ein Teil von ihr. "Es ist schon etwas Besonderes, wenn so eine Geschichte dahinter steckt", erzählt sie. Jedes Jahr zu ihrem Geburtstag sei das Hochwasser wieder Thema. "Solche Naturkatastrophen sind tragisch, besonders für die Menschen, die betroffen sind oder sogar sterben." Im Jahr 2013, beim nächsten großen Hochwasser in Sachsen, habe sie als zehn Jahre altes Mädchen das erste Mal ein Gefühl dafür bekommen, was eine Flut bedeuten könnte. "Ich merkte, wie sich die Menschen fühlten", sagt sie. Zusammen mit ihrer Schwester sei sie zu den Großeltern auf den Berg geflüchtet. "Natürlich hatte ich Angst."

Ausbildung in Döbeln

Ein ängstlicher Mensch ist Jessica trotzdem nicht, auch nicht wasserscheu. Gerade absolviert sie ihre Ausbildung zur Pflegefachfrau im Klinikum in Döbeln. Danach möchte sie in die Welt ziehen. Vielleicht eine Stelle in einer größeren Stadt finden, "wo etwas mehr los ist." Jessica lächelt, als sie vom Nebenzimmer in den Laden geht. Ja, den Spielzeugwarenladen ihrer Eltern gibt es immer noch. Kindheitserinnerungen fliegen plötzlich umher. "Wir haben jetzt sogar einen Webshop", erzählt Vater Bernd. Er repariert auch Modelleisenbahnen, sein Steckenpferd. Natürlich gibt es auch dafür Teile im Geschäft. Eine Kindheit neben dem Spielzeugladen, war das nicht ein Paradies? Jessica lacht. "Ja, schon" sagt sie. Jetzt plant erst einmal ihre Geburtstagsfeier.

Jessica ist im ganzen Ort bekannt

Schräg gegenüber, direkt am Ufer der Zschopau, lebt Jessicas Onkel mit Familie. "Sie wollen zur Jessica, das ist meine Nichte", trällert er uns entgegen als wir ihn vor dem Interviewtermin am Ufer treffen. "Das war schon Wahnsinn damals, in der Nacht hatte die Polizei geklingelt und die Häuser evakuiert." Uwe Hofmann war damals 30 Jahre alt, sein Sohn wurde wenige Jahre später geboren. "Wir standen wie gelähmt vor dem Schrank und wussten auf den Schreck gar nicht, was wir mitnehmen sollten", erzählt Jessicas Tante Grit. "Natürlich kennen wir alle die Jessica", erzählt ein Bäcker später in der Innenstadt. "Sie ist unser Flutbaby." Sofort holt er Fotos hervor und einen Bildband über Waldheim, der nach dem Hochwasser entstanden ist. Darin: Das Reporterfoto von Baby Jessica und ihrer Mutter, das damals im Krankenhaus Leisnig fotografiert wurde.

Spenden aus der Partnerstadt in Bayern

Apropos: Das Foto landete 2002 auf unergründlichen Wegen in der Redaktion der lokalen Zeitung von Waldheims Partnerstadt Landsberg am Lech in Bayern. Dort sammelten die Einwohner, um die Waldheimer zu unterstützen. Selig blickten Mutter und Kind auf dem Zeitungsfoto. Viele Landsberger spendeten.            

Überwältigende Hilfsbereitschaft

Jessicas Cousin Chris steigt derweil in die Zschopau, um uns zu zeigen, wie tief das Wasser heute ist. "Der Fluss wurde ausgebaggert, um vor einer neuen Flut zu schützen." Jessicas Vater Uwe Hofmann ist noch immer bewegt. "Die Hilfsbereitschaft damals war überwältigend. Viele Schulkinder standen vor der Tür, Nachbarn, Einwohner. Alle schaufelten und unterstützten, man kam gar nicht zum Nachdenken." Er versteht gar nicht, warum der Wiederaufbau nach der Flut 2021 im Ahrtal so lang dauert. Die Hilfsbereitschaft in Waldheim sei jedenfalls beeindruckend gewesen - unvergessen, auch 20 Jahre danach.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | SACHSENSPIEGEL | 12. August 2022 | 19:00 Uhr

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