Reallöhne Wenn die Inflation den Lohn frisst – Blick auf Tarifbeschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie

07. Dezember 2022, 16:40 Uhr

In den vergangenen Wochen konnten sich einige Branchen über neue Tarifabschlüsse freuen. Auch rund 180.000 sächsische Arbeitnehmer der Metall- und Elektroindustrie bekommen nun mehr Lohn sowie steuerfreie Einmalzahlungen. Doch kann das auch die derzeitige Inflation auffangen? Wie sieht es in anderen Branchen aus? Was ist nötig, damit die Inflation gesenkt wird?

Inflation höher als Tariferhöhung

Für die 180.000 sächsischen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie wird es auch nach der Übernahme des Baden-Württembergischen Pilotabschlusses zu keinem realen Netto-Lohn Zuwachs kommen. In einem exklusiv für den MDR durchgeführten Tarif-Check des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) analysiert Vizepräsident Oliver Holtemöller den Tarifabschluss und ordnet ein, ab wann es zu einer Reallohnsteigerung kommt.

Von Reallohnzuwachs spricht man dann, wenn die Löhne und Gehälter schneller steigen als die Preise. Holtemöller geht davon aus, dass die Inflation im Verlauf des Jahres 2023 erst allmählich nachlassen und dann im Jahresdurchschnitt mit 9,5% doch höher liegen wird als in diesem Jahr. Die Teuerung wird somit größer sein als die Tariflohnerhöhung. So steigt beispielsweise für einen Beschäftigten der Lohngruppe 7, in der Arbeitnehmer nach abgeschlossener dreijähriger Berufsausbildung eingruppiert sind, der Tariflohn im Jahr 2023 insgesamt um 7,5% und im Jahr 2024 nochmals um 4,2%. Dieser Zuwachs ergibt sich aus dem Tariflohnanstieg im Juni 2023 um 5,2% sowie der Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1.500 Euro und einem Anstieg beim Zusatzbetrag zum tariflichen Zusatzentgelt.

Energiepreise Schuld an hoher Inflation

Im Jahr 2024 nimmt der Tariflohn ab Mai um 3,3% zu, und die Einmalzahlungen werden nochmals in Höhe des Vorjahres gezahlt. Dagegen wird die Preisdynamik laut Prognosen deutlich zurückgehen und im Jahresmittel zu einer Inflation von 2,7% führen. Erst dann dürften die realen Netto-Löhne wieder steigen, "Die Ursachen der Krise müssen aufgelöst werden, damit sich die Lage nachhaltig verbessern kann. Da eine Einigung mit Russland sich nicht abzeichnet, muss davon ausgegangen werden, dass auch der Winter 2023/2024 noch einmal sehr hart für die deutsche Wirtschaft werden wird. Schnelle Entwarnung lässt sich leider nicht geben", so Oliver Holtemöller.

Kaufkraftverlust von 223,80 Euro seit April 2018

Die letzte tabellenwirksame Erhöhung der Monatsentgelte vor dem aktuellen Abschluss hatte es in der Metall- und Elektroindustrie im April 2018 gegeben. In den Metall-Tarifrunden 2020 und 2021 wollte die IG Metall wegen der Corona-Krise und der Transformation vorrangig Arbeitsplätze sichern. Aktuell verdient ein sächsischer Arbeitnehmer der Metall- und Elektroindustrie laut Tariftabelle in der Grundstufe der Entgeltgruppe 7 3.509 Euro (Sachsen-Anhalt: 3.621 Euro / Thüringen: 3.509 Euro). Dies bedeutet für einen Arbeitnehmer der Lohnsteuerklasse 1 einen Nettoverdienst von etwa 2238 Euro. Zieht man davon die Inflationsrate von 10% für den November 2022 ab, (lt. statistischem Bundesamt), beträgt der Kaufkraft-Verlust im November 223,80 Euro.

Addiert man diesen Betrag zum Nettogehalt, kommt man auf eine Summe von 2.461,80 Euro. Soviel müsste ein Angestellter der Lohngruppe 7 aktuell verdienen, um sich so viel leisten zu können wie zum Zeitpunkt der letzten Gehaltserhöhung im April 2018.

Konstante Lohnsteigerung vor den Krisen

Auch aktuelle Lohnsteigerungen könnten die Ausgaben für die hohen Energieaufwendungen nicht ersetzen. Die Energiekrise folgt direkt auf die Pandemie, die bereits schon das Reallohnniveau gesenkt hat. Die Entwicklungen der Löhne in den Jahren vor der Pandemie haben laut Dr. Sebastian Link vom ifo-Zentrum für Makroökonomik und Befragungen keinen Einfluss auf die aktuell hohe Inflation: "In den Jahren 2011 bis 2019, also zwischen der Finanzkrise und der Pandemie, schwankten die Jahreswachstumsraten der effektiv gezahlten Löhne zwischen 2,2 Prozent und 3,5 Prozent. Damit stiegen die Löhne in der Regel stärker als die Verbraucherpreise. Allerdings waren diese Reallohnsteigerungen nicht 'zu gut', sondern standen vielmehr in Einklang mit der Entwicklung der steigenden Produktivität. Dies zeigt sich dadurch, dass die realen Lohnstückkosten in diesen Jahren relativ konstant waren."

Stichwort: Steigende Reallöhne

Die Reallöhne in der Metall- und Elektroindustrie stiegen zwischen 2010 bis 2019 um 10,8 Prozent. Diese Größenordnungen werden gegenwärtig nicht erreicht. Das Statistische Bundesamt (Destatis) gab kürzlich einen realen (preisbereinigten) Verdienstrückgang von 5,7 % für das 3.Quartal 2022 bekannt. Es ist bereits das vierte Quartal in Folge mit Reallohnverlust, nachdem die Reallöhne bereits im 2. Quartal 2022 um 4,4 %, im 1. Quartal 2022 um 1,8 % und im 4. Quartal 2021 um 1,4 % gegenüber dem jeweiligen Vorjahresquartal gesunken waren.

Prof. Dr. Oliver Holtemoeller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle posiert für ein Portrait
Prof. Dr. Oliver Holtemoeller ist Vizepräsident vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle(IWH). Bildrechte: imago/photothek

Experte: Lohn-Preis-Spirale in der Gastronomie möglich  

Bei Tarifverhandlungen in Zeiten hoher Inflation wird häufig von der Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, bei der Unternehmen ihre gestiegenen Lohnkosten über Preiserhöhungen an die Verbraucher weitergeben, gesprochen. Diese Gefahr sieht Oliver Holtemöller vom IWH nur in Bereichen, wo sehr viele Menschen den Mindestlohn beziehen, z. B. in der Gastronomie. Laut Holtemöller dürfte dort die kräftige Mindestlohnerhöhung in diesem Jahr die Angebotspreise erhöhen. Die Mindestlohnerhöhung nimmt auch die Gewerkschaft Nahrungsmittel-Genuss-Gaststätten (NGG) bei ihren kommenden Tarifverhandlungen zum Maßstab. Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der NGG: "Wir brauchen eine kräftige und dauerhafte Erhöhung der Lohntabellen, da die Verbraucherpreise hoch bleiben werden. Das bedeutet auch, dass alle Einstiegsentgelte bei mindestens 13 Euro und damit über dem gesetzlichen Mindestlohnniveau liegen müssen." Die Gewerkschaft fordert daher für die Tarifrunde 2023 Lohnerhöhungen von zehn bis zwölf Prozent bei einer Vertragslaufzeit von zwölf Monaten.

Stichwort: Gewerkschaft NGG Die Gewerkschaft NGG schließt jedes Jahr hunderte von Tarifverträgen ab. Dabei werden von kleineren Haustarifverträgen bis zu großen Flächentarifverträgen alles abgedeckt. In Sachsen haben Angestellte in der untersten Lohngruppe aktuell einen Stundenlohn von 12,24 Euro, ab 1. Januar 2023 12,61 Euro, ab 1. Juni 2023 12,99 Euro). Bei Fachkräften beträgt der Ecklohn aktuell 12,88 Euro, ab 1. Januar 2023 13,27 Euro, ab 1. Juni 2023 13,67 Euro.

Unternehmen und Angestellte müssen Mehrbelastung teilen

Timo Wollmershäuser vom IFO-Institut findet solche Forderungen verständlich und ein nominales Lohnplus gerechtfertigt, Er weist aber darauf hin, dass selbst wenn das reale Bruttoinlandsprodukt stagnieren sollte, ein Teil des in Deutschland erwirtschafteten Einkommens dazu verwendet werden müsse, um die deutlich gestiegene Energierechnung an das Ausland zu bezahlen. Auch Wollmershäuser geht zunächst von einem weiteren Rückgang des Reallohnniveaus aus: "Unterm Strich sinkt das Realeinkommen, und dieser Rückgang sollte sowohl von den Unternehmerinnen als auch von den Arbeitnehmerinnen getragen werden."  

Unternehmen sollten ihren Anteil tragen, indem sie sich mit einer geringeren Gewinnerwartung in Folge von gestiegenen Löhnen zufriedengeben, während Arbeitnehmer dafür ein temporäres Absinken des Reallohnniveaus in Kauf nehmen müssen. Für IWH-Vizepräsident Oliver Holtemöller wird die Krise bisher meist nur einseitig getragen: "Die Unternehmen in Gänze fangen die Situation bislang recht gut auf, die gesamtwirtschaftlichen Unternehmensgewinne lagen im dritten Quartal deutlich über Vorjahresniveau. Für einzelne energieintensive Unternehmen ist die Lage hingegen schwierig. Die privaten Haushalte bekommen die Energiekrise deutlich zu spüren."

Geringe Tarifbindung im Osten

Während in Westdeutschland im Jahr 1996 noch 80% der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten, waren es 2020 nur noch 53% – in Ostdeutschland sank der Anteil von 73% auf 43%. Für Stefan Ehly, zweiter Bevollmächtigter der IHK Dresden & Riesa, sind das die Auswirkungen des Verhaltens der Unternehmen nach der Wende: "Viele Betriebe wurden abgewickelt, viele Leute sind in die Arbeitslosigkeit gegangen, und damit wurde ein Klima der Angst geschaffen, so nach dem Motto 'Wir können die Produktion leicht verlagern ins Ausland', und damit sind die Firmenchefs viele Jahrzehnte gut gefahren."

Laut Ehly habe sich das Klima aber mittlerweile gewandelt, und immer mehr Beschäftigte, gerade aus Sachsen, würden sich um eine Tarifbindung bemühen.

Verdienstunterschiede zwischen Ost und West

Eine Tarifbindung fordert nun auch die Belegschaft der Firma Auma Drives aus Coswig bei Dresden. Bereits viermal wurde dort gestreikt. Die Beschäftigten fordern einen Tarifvertrag, der ihnen unter anderem mehr Lohn und mehr Freizeit einbringt. "In der Vergangenheit gab es Zusagen, die nicht eingehalten wurden. Nun ist man an einem Punkt, wo es genug ist", sagt Betriebsratsmitglied Christian Bluether. Insbesondere die Lohndifferenz zu den Kollegen an anderen Unternehmensstandorten in der Republik störe ihn besonders. Als Beispiel nennt er die Verdienstmöglichkeiten am Standort Freiburg im Breisgau. Dort würden Kollegen bei gleicher Tätigkeit rund 30% mehr Lohn bekommen, und das bei einer niedrigeren Wochenarbeitszeit. Selbst Kollegen von vergleichbaren, tarifgebundenen Unternehmen in Sachsen würden circa 10% mehr Lohn bekommen. Das Argument, dass die Mieten in Bayern oder Baden-Württemberg teurer seien, sind für den Betriebsratsvorsitzenden Benedikt Walther kein Grund: "Unsere Alltagskosten sind, egal wo man in der Bundesrepublik Deutschland ist, gleich. Selbst der Sprit ist hier ja noch ein bisschen höher als anderswo."

Lohndifferenz niedriger bei Gewerkschaftsvertrag

Die Mitarbeiter von Auma Drives wollen weiter kämpfen, bis ein Tarifvertrag erreicht ist. Auf MDR-Anfrage erklärte das Unternehmen: "Derzeit gibt es keine Lösung, obwohl ein internes Angebot seitens AUMA vorliegt. Weiterhin gibt es von der Geschäftsführung ein Gesprächsangebot an den Betriebsrat bzw. die Belegschaft mit einem konstruktiven Vorschlag zu einer internen Einigung."

Diese ist bisher noch nicht in Sicht, da die Belegschaft auf einen Tarifvertrag pocht. Sollte dieser allerdings zustande kommen, dürfte die Lohnmauer zu den Kollegen im Westen ein Stück weit eingerissen werden.

Experte: Zinsschritte durch EZB erforderlich, um Inflation zu bremsen

IWH-Vizepräsident Holtemöller macht in erster Linie die Geldpolitik für die Preisstabilität verantwortlich. Geldpolitische Maßnahmen würden aber nur langsam wirken. Die Realzinsen im Euroraum seien nach wie vor deutlich negativ, und am Ende seien noch mehrere Zinsschritte durch die EZB erforderlich, damit die Geldpolitik tatsächlich inflationsdämpfende Wirkung entfaltet. "Wichtig ist es daher, dass die Finanzpolitik die Inflation nicht noch anfeuert. Genau das tut sie aber mit einem schuldenfinanzieren 200-Milliarden-Programm als Reaktion auf die Energiepreise, das wenig zielgenau ist und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stimuliert, obwohl wir angesichts der Energieversorgungslage eigentlich gesamtwirtschaftlich weniger konsumieren sollten."

MDR Wirtschaftsredaktion (ps)

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 19. November 2022 | 06:00 Uhr

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