Ein Polizeifahrzeug fährt von dem Gelände der Aqua Klinik
Rund 300 Beamte haben Praxis-, Wohn- und Geschäftsräume in mehreren Bundesländern durchsucht. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Razzia in Arzt-Praxen Kopfzentrum Leipzig: Warum die Razzia stattgefunden hat

20. Oktober 2022, 05:00 Uhr

HNO-Praxen, Geschäftsräume und Wohnungen haben Beamte in der vergangenen Woche durchsucht. Nach MDR-Recherchen stehen Ärzte und käufmännische Führungskräfte der Kopfzentrum Gruppe im Fokus der Ermittlungen – unter anderem auch Geschäftsführer Professor Gero Strauß. MDR exakt recherchiert seit anderthalb Jahren zu Hinweisen über mögliche Straftaten.

Die Vorwürfe wiegen schwer: Es geht um Abrechnungsbetrug, Behandlungsfehler, unnötige Operationen und Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz. In der vergangenen Woche haben rund 300 Beamten in mehreren Bundesländern Praxis-, Wohn- und Geschäftsräume durchsucht – unter anderem die in der Acqua Klinik in Leipzig. Nach MDR exakt-Recherchen stehen zehn Ärzte und zwei kaufmännische Führungskräfte der Leipziger Kopfzentrum Gruppe im Fokus der Behörden.

Die Kopfzentrum Gruppe betreibt HNO-Praxen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – allein in Leipzig gibt es acht Standorte. Wird eine OP-Indikation gestellt, finden die Eingriffe meist in der Acqua Klinik statt.

"Man kann sicherlich sagen, dass es einer der größten Einsätze von Staatsanwaltschaft und Polizei Leipzig in den letzten Jahren war", erklärt Ricardo Schulz, der bei der Staatsanwaltschaft Leipzig die Ermittlungen führt. "Und sicherlich auch von der Komplexität der Ermittlungen her ein sehr aufwendiger Einsatz."

Man kann sicherlich sagen, dass es einer der größten Einsätze von Staatsanwaltschaft und Polizei Leipzig in den letzten Jahren war

Ricardo Schulz Staatsanwaltschaft Leipzig

Die großangelegte Razzia sei das Ergebnis monatelanger Ermittlungsarbeit gewesen, erklärt Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz. Die Staatsanwaltschaft wurde bei der Durchsuchung am Dienstag vor einer Woche durch Polizei sowie Fachkräften des LKA, der Kassenärztlichen Vereinigung und IT-Sachverständigen unterstützt.

Dabei sei umfangreiches Beweismaterial sichergestellt worden, so Ricardo Schulz. Etwa Geschäftsunterlagen, Behandlungsunterlagen, Handys und Computer. "Wir sind aufgrund der ersten Sichtung und ersten Prüfungen vor Ort schon der Überzeugung, dass wir hier Unterlagen sichergestellt haben, die auch für das weitere Verfahren von Bedeutung sein können."

Ermittlungen: Geschäftsführer soll einer der Beschuldigten sein

MDR exakt recherchiert seit anderthalb Jahren zu Hinweisen über mögliche Straftaten – wir sprechen mit Patienten, Mitarbeitern und Fachleuten, werten Dokumente aus. Immer wieder fällt ein Name. Professor Gero Strauß, Geschäftsführer der medizinischen Einrichtungen, gegen die jetzt ermittelt wird. Er ist nach MDR-Recherchen einer der Beschuldigten.

Anfang des vergangenen Jahres gelingt MDR exakt der Kontakt zu einer ehemaligen Ärztin des Kopfzentrums. Ihre Einschätzung damals: Geld zu verdienen, stehe dort über dem Patientenwohl und es sei zu unnötigen Operationen gekommen. "Nicht jede schiefe Nase muss immer operiert werden", erklärte sie damals.

Interne Dokumente zeigten: Ärzte waren angehalten eine gewisse Anzahl von Operationen zu verordnen. Mindestens 20 pro Monat und sechs pro Woche. Das sei Teil des Qualitätsmanagements, erklärte Professor Gero Strauß damals, eine OP-Mindestquote gäbe es nicht. Profit wäre nicht sein vorrangiges Ziel. "Ich habe gelernt, mache einen guten Job, habe ein gutes Produkt, dann kommt dein wirtschaftlicher Erfolg von allein", so Gero Strauß. "Und Medizin ist ein Gebiet, wo Sie einen langen Atem haben müssen."

Vorwurf: Behandlungsfehler bei Nasen-Operationen

Im Mai des vergangenen Jahres konnte MDR exakt ehemalige Patientinnen des Kopfzentrums interviewen. Sie alle berichten von angeblichen Behandlungsfehlern, verursacht durch Professor Gero Strauß, der sie operiert habe. "Die Nase, das war ein einziger Unfall im Gesicht. Ich hatte Schmerzen, mir lief der Eiter aus dem Nasenrücken heraus", sagte eine Betroffene. Sie sei deshalb ein Jahr lang fast nicht mehr unter Menschen gegangen.

Weitere Betroffene zeigten MDR exakt Bilder von angeblich misslungenen Nasen-Operationen. Eine Anwältin von Professor Gero Strauß schrieb uns damals: Er würde auf hohem Niveau operieren, mit einer nachweislich konstant niedrigen Fehlerquote.

Vorwurf: Nasenspray ohne Wirkstoff?

Im August des vergangenen Jahres ging es um Arzneimittel, die die Kopfzentrum Gruppe selbst herstellt und damals an Patienten verkaufte. "Sahi Nose" und "Regeno" etwa würden laut Website des Kopfzentrums die Nasenschleimhaut positiv beeinflussen. Das Protein EPO sollte einer der Wirkstoffe sein.

MDR exakt hat damals beide Produkte in einem Labor analysieren lassen. Das stellte fest: In beiden Proben war kein Erythropoetin (EPO) nachweisbar. Erneut antwortete uns eine Kanzlei: Die Labor-Ergebnisse stünden im Widerspruch zur Art der Herstellung und Qualitätssicherung ihrer Mandantschaft. Die Filialen seien angewiesen, sich bei der Abgabe der Präparate streng an das Arzneimittelgesetz zu halten.

Vorwurf: Abrechnungen von Eingriffen, die nicht stattgefunden haben

Zwei Frauen berichteten MDR exakt dann im Mai 2022 von chirurgischen Eingriffen, die durch das Kopfzentrum abgerechnet worden seien, so aber angeblich nie stattgefunden haben sollen. Aufgefallen sei das beim Blick in die Abrechnungsunterlagen ihrer Krankenkassen, berichteten sie uns.

"Es war kein Instrument in meiner Nase, ich hatte keine Betäubung für irgendwas", erklärte Astrid Mosebach-Hippe. "Ich habe auch keine Unterschriften geleistet, ich habe auch nicht zugestimmt, dass ein Eingriff gemacht werden sollte. Und das soll bei mir ja zwei, dreimal stattgefunden haben. Und ich war nicht einmal dabei." Es hätten lediglich Kontroll- oder Beratungstermine stattgefunden, aber eben keine Operationen.

Sowohl Astrid Mosebach-Hippe als auch Marikka Fiedler bezweifeln Abrechnungen, die fast 1.000 Euro ausmachten. Beide Frauen bestreiten, dass diese Eingriffe stattgefunden haben und versichern dies auch eidesstaatlich. "Uns wäre bestimmt lieber, das wäre nie passiert, das wäre nie aufgefallen. Aber wir können das ja nicht unter den Tisch fallen lassen", sagt Astrid Mosebach-Hippe. "Genau. So sehe ich das auch", sagt daraufhin Marikka Fiedler.

Professor Gero Strauß teilte MDR exakt damals schriftlich mit, dass die abgerechneten Eingriffe genauso stattgefunden haben sollen und verwies auf die medizinischen Dokumentationen. Zitat: "Für Kopfzentrum ist die Richtigkeit der Abrechnung der von uns erbrachten Leistungen von oberster Priorität." Gegenüber MDR exakt hat Gero Strauß stets alle Vorwürfe abgestritten.

Anwältin berichtet von Fällen vor Gericht

Die Anwältin für Medizinrecht, Gabriele Mayer, betreut in Leipzig Mandanten, die im Kopfzentrum behandelt und in der Acqua Klinik operiert wurden. MDR exakt spricht mit ihr nach der Razzia und erhält Einblick in anonymisierte Akten. Die Anwältin erinnert sich an den Fall eines älteren Herrn: "Dem wurde zu viel Gaumensegel entfernt. Auch eine Mandeloperation, die nicht indiziert war sogar. Das haben wir nachher durch einen Gutachter feststellen können im Zivilprozess. Und der konnte nicht mehr sprechen. Der konnte nur noch krächzen. Es war ganz schlimm."

Etwa 20 Fälle wären es bislang, einige sind noch bei Gericht anhängig. Oft gab es Vergleiche, verloren habe sie noch nie, sagt Gabriele Mayer. Nach Bekanntwerden der Razzia hätten sich viele Mandanten bei ihr gemeldet: "Und alle sagen, wie toll. Endlich wird da nachgeschaut und es soll nicht einfach so weitergemacht werden, es wird überprüft. Und viele sagen, da muss das Handwerk gelegt werden." Noch ist aber nichts bewiesen.

Berufsverband der HNO-Ärzte in Sachsen begrüßt Ermittlungen

Auch viele Ärzte begrüßten die staatlichen Maßnahmen, erzählt Dr. Andree Schwerdtner, Vorsitzender des Berufsverbandes der HNO-Ärzte im sächsischen Eilenburg. Einige Vorwürfe seien schon seit Jahren bekannt: "Unser Berufsstand hat ein hohes Ansehen und dem wollen wir natürlich auch gerecht werden. Und wenn also Kollegen so schamlos möglicherweise das missachten, dann kommt es zumindest zu einem gewissen Imageverlust für die Ärzteschaft."

Vor etwa vier Wochen, so Andree Schwerdtner, sei Professor Gero Strauß aus dem Berufsverband ausgetreten. Das bedauere der Vorsitzende nicht wirklich: "Es erspart uns als Landesverband natürlich, sofern diese Vorwürfe gerechtfertigt sind, auch dort über Maßnahmen nachzudenken, ob wir solche Kollegen in unseren Reihen haben wollen."

Kopfzentrum gehört Investoren aus Frankfurt

Seit einigen Monaten gehört die Kopfzentrum Gruppe einem Investor aus Frankfurt am Main. Der will sich aktuell nicht äußern. Man verschaffe sich zunächst ein Bild der Lage, heißt es auf Nachfrage.

Professor Gero Strauß hat MDR exakt zu den neuesten Entwicklungen schriftlich mitgeteilt: "Wir kooperieren mit den Behörden und gehen davon aus, die erhobenen Vorwürfe vollständig entkräften zu können." Die Auswertung der Beweismittel werde laut Staatsanwaltschaft noch mehrere Monate in Anspruch nehmen. In diesem Stadium des Verfahrens gilt für alle Beschuldigten die Unschuldsvermutung.

Quelle: MDR exakt/ mpö

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 19. Oktober 2022 | 20:15 Uhr

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