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ArmutSchriftsteller Domenico Müllensiefen: Literatur schaut zu wenig nach unten

12. Oktober 2024, 13:00 Uhr

Der Leipziger Autor Domenico Müllensiefen kritisiert, dass arme Menschen zu wenig in der Literatur repräsentiert werden. Obwohl sie die breite Masse darstellten, würden ihre Geschichten nicht oft genug erzählt. Müllensiefens aktueller Roman "Schnall dich an, es geht los" beschäftigt sich mit dem proletarischen, abgehängten Milieu in der ostdeutschen Provinz. Der Autor schreibt aus eigener Erfahrung: Er wuchs in einem Dorf in der Altmark auf.

Der Schriftsteller Domenico Müllensiefen beobachtet, dass Menschen in prekären Verhältnissen zu selten in der Literatur abgebildet werden. "Ich hab das Gefühl, dass der Kern unserer Gesellschaft zu selten auftaucht." Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten und oft unter prekären Umständen leben, würden das "Rückgrat unserer Gesellschaft bilden", sagte Müllensiefen bei MDR KULTUR. "Ich glaube, in der Summe ist das ein sehr großer Teil unserer Gesellschaft und der ist für mich erzählenswert, wenn nicht sogar schon fast erzählenspflichtig."

In seinem neuen Roman "Schnall dich an, es geht los" beschreibt er eben jene Menschen aus einem oft missachteten Milieu – proletarisch und seit der Nachwendezeit benachteiligt. "Diese Geschichten müssen erzählt werden", so Müllensiefen.

Prekäre Verhältnisse und tristes Landleben

Die Hauptcharaktere im Roman – zwei junge Männer – seien Müllensiefen zufolge "ziemlich demotiviert und auch orientierungslos." Sie spiegeln die Lebensrealität vieler Menschen wieder, die der Schriftsteller beim Aufwachsen in der ländlich geprägten Altmark erlebt hat. Wenige Perspektiven und kaum kulturelle Angebote: "Im Grunde genommen hat man jedes Mal das Gleiche erlebt. Und das war meistens: Einfach nur betrunken sein und dann nach Hause zurück, ohne dass groß was passiert ist." Das Ergebnis: Frustration.

Dann kommen die Rattenfänger und sammeln einen ein. Die haben dann leichtes Spiel.

Autor Domenico Müllensiefen über frustrierte Jugendliche

Der Schriftsteller Domenico Müllensiefen mit seinem Debüt-Roman "Aus unseren Feuern". Bildrechte: Franziska Hentsch / MDR

Müllensiefen glaubt, dass diese Unzufriedenheit gepaart mit dem Wegzug von Frauen für junge Männer zum Problem wird: "Wenn am Ende so ein Haufen überbleibt von einer männlich geprägten Gesellschaft mit Frauenmangel, dann kann das natürlich ganz schnell aggressiv werden." Für Populisten etwa sei die Verdrossenheit ein Vorteil, so Müllensiefen, denn "dann kommen die Rattenfänger und sammeln einen natürlich ein. Und die haben dann leichtes Spiel."

Domenico Müllensiefen beschreibt in seinen Büchern zwar spezifisch ostdeutsche Erfahrungen, aber auch die Kluft zwischen Stadt und Provinz und jene zwischen arm und reich. Und er zeichnet in "Schnall dich an, es geht los" auch die Argumentationsmuster und Polemiken der Wütenden und Radikalisierten nach. Viel zu oft würden deren Aussagen bei den Menschen verfangen: "Das ist immer verführerisch. Die einfachen Antworten auf die großen Fragen sind halt auch die einfachen Möglichkeiten, damit umzugehen."

Stereotype über Ostdeutschland

Die Strukturschwäche und was für die Menschen in den "abgehängten Regionen" daraus resultiert, ist für Müllensiefen aber kein reines Ostproblem: "Wir sprechen die ganze Zeit über Ostdeutschland. Und ich wage zu behaupten, dass dieser Roman vielleicht ein bisschen anders – aber nicht viel – auch in Duisburg spielen könnte oder in irgendeiner Region, wo es einen großen strukturellen Wandel gab."

Müllensiefens neuer Roman beschreibt das Milieu im ländlichen Osten. Bildrechte: Kanon Verlag

Der Schriftsteller vermutet: Würde die Handlung seines Buch in Westdeutschland stattfinden, würde es sich trotzdem um die gleichen Themen drehen. Der Unterschied zwischen Armut und Reichtum oder problematische Männlichkeitsbilder etwa spielten auch dort eine entscheidende Rolle. Aber kaum jemand würde in diesem Fall den Ort in den Mittelpunkt stellen, so Müllensiefen.

Das Negative im Fokus

Ganz anders sei dies, wenn es sich um ein Buch über Ostdeutschland handle. Soziale und politische Probleme würden dann schnell in Zusammenhang mit der Region gebracht. Das hänge auch mit Stereotypen zusammen, die über den Osten und über Ostdeutsche in den Köpfen vorherrschten.

Vor allem die Berichterstattung über den Osten präge dieses Bild, so Müllensiefen. Die westdeutsch dominierte Medienlandschaft fokussiere sich oft einseitig auf die negativen Aspekte und zeige zu selten die "Erfolgsgeschichten" und "Menschen, die sich für Gesellschaft, für ein soziales Miteinander einsetzen."

Mehr Informationen zum Buch:

Domenico Müllensiefen
"Schnall dich an, es geht los"
Kanon Verlag

352 Seiten, gebunden
25 Euro

ISBN 978-3-98568-126-6

Quelle: MDR KULTUR (Jörg Schieke)
Redaktionelle Bearbeitung: tis, lk, bh

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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 12. Oktober 2024 | 19:00 Uhr