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ObdachlosBetteln, Saufen, Sterben: Sigis Freunde nehmen Abschied

21. September 2022, 14:02 Uhr

Obdachlos, viel Alkohol, wenig Geld: Das Leben auf der Straße in Leipzig ist hart. Einer der dort gekämpft und geholfen hat, war Sigi. Er rutschte bereits in seiner Jugend in die Sucht und fand bis zum Schluss nicht wieder heraus. Doch er hat bei vielen Menschen einen bleibenden, positiven Eindruck hinterlassen – und diese Menschen haben nun Abschied von ihm genommen.

Eine Mitarbeiterin des Ostfriedhofs in Leipzig trägt die Urne mit der Asche von Sigi. Dahinter läuft Nadine mit ihrem Freund Hand in Hand. Sie ist eine der ältesten Freunde von Sigi. Zusammen haben sie jahrelang auf der Straße gelebt. Irgendwann hat Nadine aufgehört, Alkohol zu trinken. Sigi dagegen hat den Kampf gegen Schnaps und Bier Ende Juni verloren – er wurde 53 Jahre alt. Nun haben seine Freunde ihn am Dienstag auf dem letzten Weg begleitet.

Über ein Dutzend Menschen sind zu seiner Beisetzung gekommen – eine Verwandte und viele Wegbegleiter seines bewegten Lebens. Bei der ordnungsbehördlichen Bestattung auf dem Ostfriedhof läuft immer wieder der Song "Me and Bobby McGee" von Janis Joplin. Es ist vor allem der Refrain mit der Zeile "Freedom is just another word for nothing left to lose" (Übersetzt: Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts mehr zu verlieren hat), das der Trauergesellschaft ein Lächeln auf die Lippen zaubert.

Nachdem die Blumen niedergelegt waren, ging es in eine Gaststätte und anschließend auf den Lindenauer Markt, wo Sigi viel Zeit in den letzten Tagen seines Lebens verbracht hatte. Dort haben ihm Angehörige und Autor Thomas Kasper einen Gedenkbaum gewidmet – zur Erinnerung. Nadine hat einen roten Schal mitgebracht, auf dem alle unterschrieben haben.

Sigis Leben auf der Straße

"Ich kenne Sigi schon sehr lange und er war immer für mich da, ohne dass er mir zu nahe kam", sagt Nadine, als sie Anfang Juli in Sigis alter Wohnung steht. Das sei selten auf der Straße. Er habe sie nie bedrängt, sogar sein Bett geräumt und in seiner Wohnung auf dem Boden geschlafen. "Er war immer ganz fürsorglich, wie ein Papa", erinnert sich die rothaarige Frau, und ihre Stimme zittert ein wenig. Aus diesem Grund sei sie auch hergekommen, um sauber zu machen. Damit die Wohnung bei der Übergabe einen guten Eindruck mache – und damit auch Sigi. "Das ist mir sehr wichtig."

Der MDR exakt-Reporter Thomas Kasper hat Nadine und Sigi vor sechs Jahren kennengelernt und sie seitdem immer wieder mit der Kamera begleitet. Damals war Nadine obdachlos und alkoholabhängig. Sie lebte in den leerstehenden Lagerhallen am Hauptbahnhof von Leipzig. Sie war blass, depressiv und schwer krank – kurze Zeit später landete sie im Krankenhaus und entrann nur knapp dem Tod. Sigi war an ihrer Seite und half, wo und wie er konnte.

Mitten im Winter obdachlos geworden

Kurze Zeit später –2017 – war Sigi auf der Suche nach einer neuen Unterkunft. Auch er schaute sich nun rund um den Leipziger Hauptbahnhof um. Seine Wohnung war ihm gekündigt worden. Er wurde auf die Straße gesetzt, weil sich ein Nachbar über Lärmbelästigung beschwerte. Sigi soll zu laut gefeiert haben. Nun musste er auf die Straße. Dort lag Schnee und es waren minus zehn Grad Celsius.

Sigi ist damals 48 Jahre alt und hat schon lange ein Alkoholproblem. Kummer und Rückschläge kennt er bereits sein ganzes Leben. "Wenn ich das alles aufzählen müsste, würden wir heute gar nicht fertig werden", sagte er kurz nach der Abgabe seiner Wohnung. Sein Werdegang war so: "Naja, erst ins Jugendhaus nach Halle. Vom Jugendhaus ging es nach Schwarze Pumpe." Dann sei es nach Görlitz und Bautzen gegangen. "Und immer wieder: rein, raus, rein, raus."

Das Jugendhaus Halle war ein berüchtigtes DDR-Jugendgefängnis. Dort hatte es Zwangsarbeit und Gewalt gegen die Kinder gegeben – unter den Insassen herrschte Selbstjustiz. Als Siegfried Berndt, wie Sigi richtig heißt, in das Jugendhaus Halle kam, war er 14 Jahre alt. Er erzählte, dass er dort Gewalt von Wärtern und älteren Gefangenen erdulden musste. Es ist gut möglich, dass dort seine Sucht- und Sträflingskarriere begann.

Ende der Obdachlosigkeit

Über drei Jahrzehnte später wurde Sigi mitten im Winter aus der Wohnung auf die Straße gesetzt. Doch wie kann das sein? "Also da wird nicht reflektiert, wenn ich in dieser Jahreszeit jemanden auf die Straße setze", kommentierte der berühmte Obdachlosen-Arzt Dr. Gerhard Trabert damals. Es werde nicht reflektiert, dass so eine Zwangsräumung existenziell sei und Sigis Leben gefährde. "Ja, es ist eine Form von fahrlässiger Körperverletzung, das nimmt man in Kauf und das verstehe ich nicht, wirklich."

Sigi ist ab da an für ein Dreivierteljahr obdachlos gewesen, bis er am Stadtrand von Leipzig eine kleine Wohnung gefunden hatte – allein und ohne fremde Hilfe. Als er einzog, wirkte er dennoch etwas verloren zwischen den weißen Wänden und in dem leeren Raum. Doch nach und nach kamen Möbel und Leben in die Einraumwohnung.

Montage, Arbeitslosigkeit und Gefängnis

Früher hatte Sigi einmal Bahnbetriebsschlosser gelernt. Nach der Wende fuhr er viel auf Montage oder arbeitete auf Baustellen in Bayern. Bis er durch erneute Straftaten in der Arbeitslosigkeit landete. Als sein Vater vor acht Jahren gestorben war, saß Sigi ebenfalls im Gefängnis. Als er drei Jahre später erstmals auf den Friedhof ging, auf dem sein Vater beigesetzt worden war, fand er dessen Grab nicht.

Sigi selbst hinterlässt zwei Kinder, zu denen er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Zuletzt wohnten sie in Görlitz. Warum seine Familie zerbrach? Darüber sprach Sigi nicht. Es könnte mit seiner Alkoholsucht zusammenhängen. Sigi trank täglich und viel – doch ein Ende mit Alkohol kam für ihn nicht in Frage.

Weg vom Alkohol: 53 Tage trocken

Bis sich vor zwei Jahren im Sommer sein Zustand massiv verschlechtert. "Ich habe Schmerzen. Richtig Schmerzen. Ich scheiße nur noch gelb", erzählt Sigi. Dennoch trinkt er erstmal weiter. Entgiftung und Therapie? Darauf habe er keine Lust: "Das jeden Tag, kann ich mir nicht vorstellen, da habe ich keinen Bock drauf."

Auch Nadine hatte früher ungute Erfahrungen bei einer Entgiftung gesammelt: "Als ich im Krankenhaus war, hatten wir auch solche Therapiesitzungen", erzählt sie. Aus ihrer Sicht sollten sich die Ärzte einen anderen Therapieplan ausdenken. Denn "so wie es läuft, läuft es irgendwie nicht richtig", meint sie. Sie hat schließlich dennoch den Absprung geschafft – und nach dem Aufenthalt im Krankenhaus nie wieder einen Tropfen Alkohol angerührt.

Im vergangenen Jahr hatte Sigi es schließlich auch einmal versucht und von einem Tag zum anderen mit dem Trinken aufgehört. Die Folge: "Schweißausbrüche, in den Händen Krämpfe, in den Waden Krämpfe und dann habe ich immer Magnesium-Brausetabletten", sagte er damals. Sigi schaffte es, 53 Tage trocken zu bleiben. Dann griff er wieder zur Flasche.

Aber ich bin wieder abgerutscht. Richtig dolle. Besser geht es gar nicht mehr.

Sigi

Trauer und Fassungslosigkeit in der Szene

Mitte Juni 2022 ging es ihm dann richtig schlecht. Wasser in den Beinen und im Bauch. Ein Zeichen dafür, dass seine Leber nicht mehr funktionierte. Er hatte ein Neun-Euro-Ticket gekauft. Damit wollten er und der MDR-Reporter auf Reisen gehen, in seine alte Heimat, die Lausitz. Zwei Tage später bricht er zusammen. Am 26. Juni stirbt Sigfried Berndt in der Uniklinik Leipzig.

An den Tagen danach herrscht rund um den Lindenauer Markt – wo sich inzwischen die Obdachlosen treffen – Trauer und Fassungslosigkeit. "Ohne den geht es doch nicht, oder?", sagt Doreen. "Auch seine Nudeln. Die haben wirklich Scheiße geschmeckt und er hat gesagt: Hier die habe ich gestern Abend noch für dich gemacht." Sein Tod durch Alkoholmissbrauch schreckt dort allerdings niemanden.

Anders als bei Nadine, die seit fünf Jahren trocken ist: "Das ist der erste schwere Schlag, muss ich sagen, seitdem ich nüchtern bin." Sie habe sich danach ein Bier aufgemacht, gesteht sie. Und dann habe sie überlegt, was Sigi wollen würde, wenn er bei ihr wäre. "Er würde nicht wollen, dass ich jetzt saufe, nur weil er gestorben ist. Dann habe ich es wieder weggekippt." Sie habe ordentlich zu kämpfen gehabt. "Davor hatte ich am meisten Angst, nüchtern so etwas durchstehen zu müssen."

Quelle: MDR exakt/ mpö

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 06. Juli 2022 | 20:15 Uhr