Gedenken an Herbst 1989 Lichtfest in Leipzig: Bürgerrechtler berichten über Montagsdemos

09. Oktober 2022, 07:01 Uhr

In Leipzig erinnert das Lichtfest an die Montagsdemonstrationen der Friedlichen Revolution vor 33 Jahren. Fürs Gedenken daran gibt es viele Weg. Das zeigen am Sonntag Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Frankreich und Polen mit großen Lichtinstallationen. Außerdem berichten das erste Mal Bürgerrechtler und Bürgerechtlerinnen den Gästen über persönliche Erlebnisse und gewagte Demos.

Zum diesjährigen Lichtfest am 9. Oktober 2022 soll es erstmals kostenlose Führungen von Bürgerrechtlern geben, die jeweils um 19:30 und 20:30 Uhr zwischen den einzelnen Lichtinstallationen Besucherinnen und Besucher führen. Mit dem Lichtfest möchte die Stadt Leipzig auch in diesem Jahr an die entscheidende Montagsdemonstration vom Wendeherbst am 9. Oktober 1989 erinnern.

Von der Nikolaikirche aus zogen im Herbst 1989 mehr als 70.000 Menschen über den Innenstadtring, um friedlich gegen das SED-Regime zu demonstrieren. Auftakt des diesjährigen Gedenktages am 9. Oktober wird traditionell das Friedensgebet in der Nikolaikirche sein, wie die Tourismus und Marketing GmbH am Montag in Leipzig informierte.

Unter dem Motto "Das Licht breitet sich in der Stadt aus" findet das Lichtfest an mehreren Orten innerhalb des Innenstadtrings statt. Von 19 bis 23 Uhr werden auf dem Augustusplatz, dem Burgplatz und dem Richard-Wagner-Platz Lichtinstallationen von Künstlerinnen und Künstlern aus Polen, Frankreich und Deutschland zu sehen sein.

Warum war die Demonstration am 9. Oktober 1989 so bedeutend? - Der Massenprotest vom 9. Oktober 1989 gilt als entscheidender Wegpunkt der Friedlichen Revolution in der DDR.
- Obwohl das SED-Regime androhte, mögliche Proteste mit Waffengewalt niederzuschlagen, demonstrierten die Menschen friedlich für Reformen in der DDR - wie Reise- oder Meinungsfreiheit.
- Wenige Wochen später fiel die Mauer. Die Wiedervereinigung Deutschlands war die Folge.

Große Augen blicken von Leinwand

Die speziell für das Leipziger Lichtfest entwickelten Installationen laden Passantinnen und Passanten zum Entdecken ein. Auf dem Augustusplatz zeigt das polnische Künstlerteam Robert Sochacki und Wera Morawiec seine Installation "wir sehen uns frei" mit vier Teilbereichen. Im Fokus dabei: der aufmerksame Blick auf das Damals und Heute.

Videoprojektionen zeigen Alltagsbilder aus den 1980er Jahren, Augenzeugenberichte machen den Herbst 1989 erlebbar. Vor der Oper Leipzig sollen riesige Augenpaare von Leipzigern und Leipzigerinnen von einer großen Leinwand blicken. Die Botschaft der Künstler: Misstände erkennen und öffentlich machen. Das Publikum wird je nach Standort auf dem Augustusplatz andere musikalische Klänge hören, die extra für das Kunstprojekt komponiert worden sind.

Der Künstler Robert Sochacki hatte den politischen Umbruch Osteuropa miterlebt: "Danzig, wo ich geboren und aufgewachsen bin, war Ursprungsort der polnischen Revolutionsbewegung. So konnte ich ganz nah den Kampf der Aufständischen in der Werft, in der meine Mutter arbeitete, verfolgen."

Danzig, wo ich geboren und aufgewachsen bin, war Ursprungsort der polnischen Revolutionsbewegung. So konnte ich ganz nah den Kampf der Aufständischen in der Werft, in der meine Mutter arbeitete, verfolgen.

Robert Sochacki Polnischer Künstler

Begehbares Kaleidoskop soll Fragen aufwerfen

Die Künstlerin Betty Mü hat auf dem Burgplatz ein elf Meter langes, überdimensionales und begehbares Kaleidoskop geschaffen. Mit ihrem Kunstprojekt "Das ICH und das WIR" lädt sie Besucher ein, sich durch einen Lichttunnel mit Spiegeln und LED-Lichtern zu bewegen. Fragen des Selbstbilds sollen dabei aufgeworfen werden sowie eine virtuelle Welt durch Licht, Klänge und Stimmen entstehen.

Das "Wir" in "Wir sind das Volk" als bekannteste Parole aus dem Herbst '89 hat für Betty Mü bei der Lichtinstallation im Mittelpunkt gestanden: "Bei dieser Installation geht es um den Einzelnen und die Masse. Um das Ich und das Wir. Um das Zweifeln des Individuums und die Kraft der Menge." Während der Arbeit am Kunstprojekt habe sie sich auf ihre Weise mit der Revolution von 1989 beschäftigt, sagt Betty Mü: "Ich habe mir die Frage gestellt, wer der oder die erste war, die in der Nikolaikirche eine Kerze entzündet hat. Wie ist daraus 1989 eine Massenbewegung geworden? Ein Lauffeuer, ein Flächenbrand, wenn man so will."

Ich habe mir die Frage gestellt, wer der oder die erste war, die in der Nikolaikirche eine Kerze entzündet hat. Wie ist daraus 1989 eine Massenbewegung geworden? Ein Lauffeuer, ein Flächenbrand, wenn man so will.

Betty Mü Künstlerin

Besucher dürfen Graffiti sprühen

Der Straßen-Künstler Cart'1 und Programmierer Matthieu Tercieux aus Frankreich zeigt auf dem Richard-Wagner-Platz ein digitales Graffiti. Das Besondere für Besucherinnen und Besucher: sie können selbst über einen Controller großformatige, digitale Graffiti auf eine Hauswand "sprühen", sagt Matthieu Tercieux. Diese Graffiti sollen sich im Laufe des Abends mit historischen Fotos überlagern und so eine Art Collage ergeben. "Die Besucherinnen und Besucher dürfen und sollen mitwirken. Wir wollen und brauchen sie! Das Werk entsteht gemeinschaftlich und ist nicht mehr von seinen Betrachtern getrennt", erklärt Tercieux die Idee der Installation.

Graffiti seien immer schon Teil von Revolutionen gewesen, sagt der Graffiti-Künstler. So würden Menschen auch damit ihre Meinungen auf Wände in der Öffentlichkeit schreiben oder zeichnen, um sie bekannt zu machen: "Graffiti – seien sie an der Wand, seien es Parolen auf Bannern, begleiten Revolutionen, sorgen für den Austausch von Gedanken. Graffiti bringen Ideen auf die Straße."

Graffiti (...) begleiten Revolutionen, sorgen für den Austausch von Gedanken. Graffiti bringen Ideen auf die Straße.

Matthieu Tercieux Graffiti-Künstler und Programmierer

Bürgerrechtler begleiten erstmals Gäste

In diesem Jahr begleiten Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler und aus der Zeit der Friedlichen Revolution die Gäste während des Lichtfestes. So auch die Stadträtin der Grünen in Leipzig, Annette Körner, die im Herbst 89 zusammen mit anderen die Grüne Partei aufgebaut hatte. Körner engagierte sich seit 1982 gegen Aufrüstung in verschiedenen Friedensgruppen wie "Frieden konkret".

Als junge Mutter war der Herbst 1989 eine spannendem, aber auch ungewisse Zeit. Gerade der 9. Oktober. Körner, damals 26 Jahre alt, machte sich große Sorgen um ihren Mann, der auf der Montagsdemonstration war. Sie musste auf ihr kleines Baby und ein weiteres Kind zu Hause aufpassen. Bereitschaftstruppen und Ärzte waren an diesem Tag in hoher Alarmbereitschaft, erinnert sich Körner: "Wir hatten große Angst, dass es da knallt." Ihr Mann gab zum Glück Entwarnung: Die Polizei hatte nicht eingegriffen und es blieb friedlich.

Wir hatten große Angst, dass es da knallt.

Annette Körner Bürgerrechtlerin während der Friedlichen Revolution 1989

Zum Lichtfest wird Annette Körner erzählen, wie sie sich gegen Krieg, Aufrüstung und politische Einengung engagierte und warum sie die vielen Ausreisewillige aus der DDR damals eher kritisch sah, weil sie Veränderungen vor Ort wollte. Außerdem will sie persönliche Erfahrungen aus in der Wendezeit mit Teilnehmenden der Führung teilen. Gäste sind eingeladen, Fragen zu stellen. Annette Körner startet um 19:30 Uhr mit ihrer Führung am Augustusplatz.

Zeitzeugen berichten von Großdemonstrationen

Rolf Sprink war als Bürgerrechtler und bei Montagsdemonstrationen in Leipzig während der Friedlichen Revolution 1989 aktiv. Er engagierte sich in mehreren Bürgerrechtsgruppen und ist heute Mitglied der Stiftung Friedliche Revolution. Gewaltfreiheit bei gesellschaftlichen Demonstrationen ist für Sprink damals wie heute oberstes Ziel, sagt Sprink. "Wir wollen die Botschaften vom Herbst 1989 wach halten. Das bedeutet auch heute gesellschaftlichen Missständen laut werden und nicht wegschauen, wenn Demokratie- oder Menschenverachtung stattfindet."

Seine Führung startet Sprink um 20.30 Uhr am Richard-Wagner-Platz. Dort wird der Bürgerrechtler etwa über die zweiten, großen Kundgebung im Herbst 89 mit rund 20.000 Demonstrantinnen und Demonstratanten berichten. Die Protestierenden hatten damals eine Polizeiabsperrung durchbrochen, erinnert sich Sprink: "Die Demonstrierenden hatten gerufen 'Wir sind mehr'. Durch die Polizeiabsperrung brach sich die Wut und die Begierde, die Gesellschaft zu verändern, ihren Weg."

In den aktuellen Montagsdemonstrationen in Leipzig sehe Sprink ein "waches und gesellschaftliches Bewusstsein". Der Bürgerrechtler vm Herbst 89 dazu: "Dagegen ist überhaupt nichts einzubringen. Eine Gesellschaft lebt ja von einer vitalen Demokratie. Kritische Positionen müssen sich auch artikulieren dürfen. Leipzig ist ein sehr lebendiges Beispiel dafür." Jedoch gebe es Grenzen, wenn sich Demonstrationen gegen die Demokratie richten.

Eine Gesellschaft lebt ja von einer vitalen Demokratie. Kritische Positionen müssen sich auch artikulieren dürfen. Leipzig ist ein sehr lebendiges Beispiel dafür.

Rolf Sprink Bürgerrechtler während der Friedlichen Revolution 1989

An Jahreszahl "89" erinnert Kerzen-Installation

Eine Kerzeninstallation mit der Jahreszahl "89" können alle Besucherinnen und Besucher auch dieses Jahr im Nikolaikirchhof zum Leuchten von 19 bis 23 Uhr zum Leuchten bringen. Platz ist für Tausende Teelichter. Kerzen gibt es kostenlos direkt am Nikolaikirchhof, an allen Lichtinstallationen sowie am Lichtfest-Infostand auf dem Markt und vor dem Zeitgeschichtlichen Forum (Grimmaische Straße 6).

Kerzenpatenschaft übernehmen?

An allen Infoständen in der Leipziger Innenstadt kann jeder Gast des Lichtfestes eine symbolische Kerzenpatenschaft übernehmen. Zum Lichtfest 2022 geht der Erlös der Aktion an das Journalists-in-Residence-Programm. Dieses gehört zum Leipziger Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF).

MDR

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Nachrichten des Regionalstudios Leipzig | 07. Oktober 2022 | 16:20 Uhr

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