Städtisches Klinikum Sankt Georg Pflegeheim für Wachkoma-Patienten in Leipzig soll geschlossen werden

17. Juni 2022, 05:00 Uhr

Seit einem schweren Motorrad-Unfall liegt Torsten im Wachkoma – seit 2,5 Jahren in einem speziellen Pflegeheim in Leipzig. Doch das soll nun geschlossen werden. Die Angehörigen wissen nicht wie es weitergehen soll, denn es ist das einzige dieser Art in Leipzig. Das städtische Klinikum Sankt Georg hat vorgeschlagen, dass die schwerst-pflegebedürftigen Patienten in ein Altenpflegeheim umziehen könnten.

An der Wand hängen viele Bilder von Motorrädern. Eines ist eine 1000er RR von BMW in rötlichem Orange – in voller Schräglage. Darauf sitzt Torsten. Es ist eine Aufnahme aus anderen Zeiten, als er noch Amateur-Rennen gefahren ist. Das Motorrad, seine große Leidenschaft. Dann hatte er damit einen Unfall. Nun liegt er auf einem Bett vor den Fotos – fast regungslos. Der Familienvater ist im Wachkoma.

Kein Muskel im Gesicht ist angespannt. Kein Lächeln huscht über die Lippen. Nur die Augen von Torsten sind offen und bewegen sich. Er liegt seit Oktober 2019 im Pflegeheim für Wachkoma-Patienten – eine Einrichtung des städtischen Klinikums Sankt Georg. Der Eigenbetrieb der Stadt Leipzig bietet Platz für 20 Patienten.

Pflegeheim für Wachkoma-Patienten in Leipzig soll geschlossen werden

In Deutschland erleiden etwa 40.000 Menschen jährlich – oft durch Unfälle – schwere und schwerste Hirnschädigungen, schätzt die Deutsche Wachkomagesellschaft. Einige Tausend verbleiben längere Zeit oder auch lebenslang in einem Zustand begrenzten Bewusstseins. Sie zeigen kaum Reaktionen auf Umweltreize. Sie alle sind angewiesen auf eine "Rund um die Uhr-Pflege".

Im Pflegeheim bereiten Physiotherapeutin Juliane Werner und Ergotherapeutin Cornelia Hübner Torsten auf den Tag vor. Die Muskeln, die Beine, der Körper müssen bewegt werden. Der große Mann wird aus dem Bett mit Hilfe einer Hebevorrichtung in einen speziellen Rollstuhl gehoben. Die beiden Therapeutinnen kämmen und rasieren den 49-Jährigen. "Es geht darum, dass es Ihnen gut geht", sagt Cornelia Hübner. Der Fokus ihrer Arbeit liege auf dem Wohlbefinden der Patienten.

Diese aufwendige Betreuung kostet dort pro Bewohner monatlich etwa 7.400 Euro. In der Regel kommen die Kranken- und Pflegekassen dafür auf. Das Heim in Leipzig existiert seit 21 Jahren. Mehr als vier Millionen Deutsche Mark hat der Bau damals gekostet, bezahlt auch durch Mittel des Freistaates Sachsen. Die Betreuung setzt bis heute Maßstäbe – doch nun droht das Ende des Heims.

Die Mutter von Torsten hat Angst um die erzielten Erfolge

"Das macht mir ganz große Angst", sagt die Mutter von Torsten, Bärbel Hölig. Die ehemalige Grundschullehrerin besucht ihren Sohn dreimal pro Woche. An diesem Tag hat sie ein paar Mitbringsel von zu Hause dabei, die den Geruchssinn bei Torsten stimulieren sollen.

Die Rentnerin hält ihrem Sohn eine weiße Pfingstrose aus ihrem Garten unter die Nase: "Nochmal riechen", sagt Bärbel Hölig. Sie hofft, dass er sich an Gerüche erinnern kann. Anschließend zerreibt sie ein paar Minze-Blätter zwischen Zeigefinger und Daumen, hält sie Torsten unter die Nase. Danach kommt noch eine weiße Tasse: "Kaffee ist immer sehr gut. Weißt du’s noch? Kaffee."

Bärbel Hölig wirkt gefasst und sagt über ihre Einstellung zur Situation: "Entweder man gibt auf und verzweifelt oder man nimmt die Situation an und stellt sein Leben darauf ein." Sie sehe die Fortschritte, die ihr Sohn gemacht habe: Torsten hat die Augen nun längere Zeit geöffnet, blinzelt gelegentlich und kann Dinge über einen längeren Zeitraum fokussieren. "Und an die Hoffnung klammere ich mich einfach, dass es noch immer wieder ein paar Schritte weitergeht."

Was ist eigentlich ein Wachkoma? Schon der Begriff scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Jemand soll wach und gleichzeitig im Koma sein, sich also in einer "tiefen Ohnmacht" befinden. Doch Patienten im Wachkoma liegen zwar nahezu regungslos da, aber haben immer wieder die Augen offen oder schlafen. Allerdings nehmen sie von sich aus keinen Kontakt zu ihrer Umwelt auf. Weitere Symptome sind ein Verlust des Bewusstseins und des Sprechens. Da auch die Fähigkeit auf externe Reize zu reagieren verloren geht, müssen Wachkoma-Patienten meist künstlich ernährt werden. Dieser Zustand wird auch als apallisches Durchgangssyndrom bezeichnet und entsteht durch ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und wird durch schwerste Schädigungen des Gehirns hervorgerufen.

Wachkoma-Patienten sollen in Altenpflegeheim umziehen

Doch genau diese Entwicklung sieht Bärbel Hölig nun gefährdet – in einem halben Jahr soll das Heim geschlossen werden. Das hat das städtische Klinikum den Familien per Brief mitgeteilt. Ein Grund für die Schließung: In unmittelbarer Nachbarschaft soll ein hochmoderner Klinikneubau entstehen. Für fast 160 Millionen Euro. Ende des Jahres sollen die Bagger anrücken.

Als Alternative wurde der Umzug in ein städtisches Altenpflegeheim vorgeschlagen. Einige Angehörige haben es sich angesehen. Dort gäbe es zwar einen Wohnbereich für Intensiv- und Schwerstpflege, aber eben nicht die gleichen therapeutischen Möglichkeiten. Deshalb lehnen sie den Alternativ-Vorschlag ab.

Schreiben an Angehörige: Fehlende Wirtschaftlichkeit und Baulärm

"Es ist eine Kontinuität, die dann abreißt und sicher einen Rückschritt bedeutet", sagt Sprachtherapeutin Susanne Paul. Sie betreut seit zwölf Jahren Patienten im Pflegeheim für Wachkomapatienten – darunter auch Torsten. Sie kennt das städtische Altenpflegeheim aus ihrem Praxisalltag und sagt auch, dass Altenpflegeheim sei keine Alternative. Denn "diese intensive Betreuung, Begleitung, Unterstützung, die wir dort haben, angemessen für unsere Wachkomapatienten in der Einrichtung, die quasi direkt darauf hin gebaut wurde, die ist dort natürlich ganz anders strukturiert."

Die Sprachtherapeutin ärgert am meisten das Argument der fehlenden Wirtschaftlichkeit. In dem Schreiben an die Angehörigen wurde auch angeführt, dass die Nachfrage und Auslastung der Einrichtung gesunken sei. Angehörige berichten dagegen, dass es sogar eine Warteliste gegeben habe. Susanne Paul sagt: "Die Wachkomapatienten können kein Geld einspielen, per se." Das seien Menschen, da müsste Geld reingesteckt werden.

Ich rede doch auch nicht von Kindergärten und Schulen, die müssen Geld einspielen. Da müssen wir Geld reinstecken.

Susanne Paul Sprachtherapeutin

Das Pflegeheim für Wachkomapatienten ist für Susanne Paul eine Art Leuchtturmprojekt. "Das Leipzig das einfach loslässt" und dass die Patienten und deren Angehörige allein gelassen würden, mache sie sprachlos. Die Direktorin des städtischen Eigenbetriebs wollte sich vor der Kamera von MDR exakt nicht zum Thema positionieren, weil es Betriebsinterna enthalte.

Mutter: Weiß nicht, wo mein Sohn hinkann

MDR exakt hat daraufhin die Stadt Leipzig als Träger kontaktiert. In der Antwort per Mail heißt es, dass die künftige Großbaustelle für die Bewohner nicht zumutbar sei. Zudem sei der Betrieb des Pflegeheims kaum wirtschaftlich darstellbar. Perspektivisch rechne die Stadt mit einem jährlichen Zuschuss von bis zu 200.000 Euro. Außerdem heißt es weiter, dass der Alternativvorschlag allen gesetzlichen Vorgaben entsprechen solle und das städtische Altenpflegeheim werde auch regelmäßig überprüft.

Die Schließung des Pflegeheims für Wachkoma-Patienten scheint unabwendbar. Zwölf spezielle Pflegeheime dieser Art gibt es in Sachsen, aber nur diese eine steht in Leipzig. Das nächste ist rund 30 Kilometer von der Messestadt entfernt – und die Zahl der Betten begrenzt. Wo Torsten einen neuen Platz finden kann, ist völlig ungewiss. "Ich weiß nicht, wo er hinkönnte, wo er das bekommt, was er hier hat", sagt seine Mutter Bärbel Hölig.

Quelle: MDR exakt

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 15. Juni 2022 | 20:15 Uhr

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